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"Ignorant oder arrogant"

In Osteuropa hat sich Nicholas Sarkozy mit seinem jüngsten Vorstoß keine Freunde gemacht. Dass der französische Präsident nach den umstrittenen Abschiebungen von Roma eiligst einen Gipfel zum Thema Migration anberaumt, dazu aber betroffene Länder wie Rumänien, Tschechien, Ungarn oder die Slowakei nicht einlädt, stößt auf Unverständnis:

Von Christina Janssen |
    "Dieser Schritt ist übereilt und nicht durchdacht",
    so Tschechiens Premier Petr Necas:
    "Es ist Ausdruck einer gewissen Ignoranz, wenn nicht sogar Arroganz."

    Ungewöhnlich deutliche Worte für den sonst so zurückhaltenden Konservativen. Und auch die neue slowakische Regierungschefin, Iveta Radicova, reagiert - auf Sarkozys Gipfel angesprochen - verschnupft:

    "Europa teilt sich heute nicht in alte und neue, kleine oder große Länder und auch nicht in Ost oder West. Aber es teilt sich in dieser Frage in verantwortungsbewusste und nicht verantwortungsbewusste Länder."

    Sie habe Verständnis für die Probleme, die mit den Roma-Minderheiten einhergingen, sagt die 53-Jährige Soziologieprofessorin. Die liberale Politikerin nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es um die Schwierigkeiten und Defizite in ihrem eigenen Land geht. Doch Abschiebungen, wie sie Frankreich nun vorgenommen hat, betrachtet sie als Bankrotterklärung:

    "Ich verstehe die Vorbehalte der Mehrheitsbevölkerung in der Slowakei, ich verstehe sogar, dass sie Mauern bauen, um ihren Besitz zu schützen, denn die Institutionen, die sie beschützen sollten, versagen. Ich verstehe auch, warum es in einigen Bevölkerungsgruppen, auch unter den Roma, eine erhöhte Kriminalität gibt. Aber wir werden diese Probleme nicht lösen, indem wir Zäune und Mauern errichten. Und wir werden sie auch nicht lösen, wenn wir solche Gruppen abschieben. Die Lösung liegt in einem mühsamen und langfristigen Prozess der Integration der Roma in die Gesellschaft, in der zu existieren sie das gleiche Recht haben wie alle anderen."

    Die Soziologin Radicova hat sich vor ihrem Wechsel in die Politik wissenschaftlich mit der Situation der Roma befasst. Ein Herzensanliegen, bis heute. Das Wichtigste sei es, gegen Klischees und pauschale Urteile anzugehen:

    "Wir müssen differenziert über die Roma sprechen, denn es gibt mindestens drei Gruppen: Zum einen diejenigen, die voll in die Gesellschaft integriert sind, zum zweiten die Roma, die sich durchaus in den Arbeitsmarkt und die Aktivitäten ihrer Gemeinden integrieren wollen, aber trotzdem immer am Rande bleiben. Und zum Dritten das Problem der abgeschotteten Roma-Gemeinden, der Slums: Das ist ein Leben in absoluter Armut, mit allen sozialen Konsequenzen."

    Jede Gruppe, so Radicova, brauche auf sie zugeschnittene Maßnahmen. Überzeugende Konzepte gebe es bereits, sie seien nur nicht umgesetzt worden:

    "Leider Gottes haben diese Projekte in den letzten vier Jahren unter der Vorgängerregierung brach gelegen. Und das Ergebnis war, dass nahezu 100 neue Slums hinzugekommen sind. Es geht hier nicht um das Fehlen eines Konzepts, sondern darum, es konsequent umzusetzen."
    Und das kostet Geld. Geld für Bildungsprojekte und Roma-Assistenten in den Schulen, für Sozialarbeiter, Gesundheitsberater, für sozialen Wohnungsbau und für Projekte, die die kulturelle Identität der Roma stärken. Es gehe aber in manchen Fällen auch darum, Druck auszuüben, damit die Roma selbst aktiv würden, so Radicova. Die slowakischen Hilfsorganisationen stimmt all das optimistisch. Es gebe Anzeichen für eine echte Wende in der Roma-Politik – und dafür sei es höchste Zeit.

    Weitere Informationen zum Thema auf DRadio.de:
    "Die Rückkehrhilfen sind eindeutig nicht effektiv" - Interview mit der Leiterin der Sozialberatungsstelle von Rom e.V., 6.9.2010