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Igor Levit mit Beethovens Sonaten
Maximale Kontrolle

Alle 32 Sonaten von Ludwig van Beethoven aufzunehmen, das scheint heute etwas aus der Zeit gefallen. Der Pianist Igor Levit wagt sich trotzdem an diese Herausforderung und wird so zu einem wichtigen Fürsprecher von Beethoven heute: bestechend klar, aber auch fast zu beherrscht.

Am Mikrofon: Susann El Kassar |
    Porträt des Pianisten Igor Levit
    Mit 32 Jahren alle 32 Beethoven-Sonaten auf CD, dieses Zahlenpaar erreichte der Pianist Igor Levit in diesem Jahr. (Sony Music/Felix Broede)
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 8 "Pathétique", 2. Satz
    Musik von Beethoven, aus seiner Klaviersonate mit dem Beinamen "Pathétique" gespielt von dem einen 32-Jährigen, der die 32 Klaviersonaten von Ludwig van Beethoven - passend zu dessen Jubiläumsjahr 2020 - aufnehmen konnte: gespielt von Igor Levit.
    Levit ist überhaupt einer von nur wenigen Pianisten, die zum Beethovenjahr sich dieser Herausforderung der Gesamtaufnahme aller Sonaten stellen - und, auch das muss man bedenken, einer der wenigen Pianisten, die heute überhaupt die Möglichkeit bekommen, alle Sonaten aufzunehmen. Es ist ja auch ein Wagnis, denn mit so einer Box tritt Levit unweigerlich an zum Vergleich mit den vielen Vorgängern und Vorgängerinnen. Natürlich weiß das auch Igor Levit. Er gibt offen zu, dass er zur Vorbereitung oder Inspiration vor allem zwei Pianisten mit den Sonaten angehört hat: Friedrich Gulda und Arthur Schnabel. Noch im Aufnahmestudio wurde passagenweise verglichen und manchmal in einem weiteren Take optimiert.
    Die Aufnahmegeschichte im Rücken
    Auch hier in der Sendung "Die neue Platte" wollen wir vergleichend vorgehen. Levit steht für sich, als der eine, der für eine neue Generation von Musik-Interessierten und für die Levit-Fans Beethovens Klaviersonaten neu entdeckt. Zugleich steht er neben all den anderen Aufnahmen, die auch das Einzigartige dieser Werke zeigen wollten.
    Aus den viele Stunden Beethoven mit Levit kommen hier heute früh nur einige ausgewählte Stellen vor, solche Passagen, die möglichst exemplarisch auch für die anderen Sonaten stehen. Wir beginnen mit der Sonate Nr. 7, D-Dur.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 7 D-Dur, 1. Satz
    Igor Levit befolgt in diesem Sonatensatz einen Wunsch des großen Kritikers Joachim Kaiser. Kaiser fand, dass dieser Satz "rhythmische Strenge" brauche und die bringt Levit mit. Er zieht sein hohes Tempo durch und erlaubt sich fast keine Verzögerungen. Damit aber spielt er über den ja auch sanglichen Charakter des Nebenthemas hinweg und am Schluss des Ausschnitts spielt er zwar die Triole, aber kostet sie kaum aus. Anders Friedrich Gulda. Auch er hat ein ähnlich hohes Tempo, aber er nimmt sich die Zeit, über manche kleine Phrase doch nicht hinwegzudüsen.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 7 D-Dur, 1. Satz (Gulda)
    Eigentlich wäre es gut, jetzt gleich nochmal denselben Ausschnitt mit Levit zu hören, dafür reicht die Zeit unserer Sendung nicht, aber ich verweise gern darauf, dass diese "neue Platte" für sieben Tage online abrufbar ist, in der DLF Audiothek App oder auf Deutschlandfunk.de und in dieser Fassung beliebig vor- und zurückgespult werden kann.
    Die technischen Fähigkeiten und auch die scheinbare Mühelosigkeit von Levit sind eindeutig Vorzüge dieser Aufnahme. Er wählt in den schnellen Sätzen oft knackig hohe Tempi und besteht dann selbst vertrackte Passagen wie z.B. diese hier in der zweiten Sonate, A-Dur.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 2 A-Dur, 1. Satz
    Arthur Schnabel dagegen kann in seiner Aufnahme aus den 1930ern Schwierigkeiten mit den seltsamen großen Vorschlägen nicht kaschieren und stolpert eher durch die Takte.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 2 A-Dur, 1. Satz (Schnabel)
    Was Igor Levit bei dieser beeindruckenden Kontrolle und millimetergenauen Präzision aber gelegentlich verloren geht, ist das Risiko. Oder anders gesagt: Die Freiheit, Phrasen zu dehnen, überraschender aus dem Moment zu gestalten. Diese Aufnahme will perfekt sein.
    Diese Genauigkeit hat für sich, dass Levits Spiel transparent ist und er seinen Ton in extremes pianissimo führen kann, besonders beeindruckend in schnellen Passagen.
    Ludwig van Beethoven, "Waldstein"-Sonate, 1. Satz
    Der Anfang der "Waldstein"-Sonate. Hier einmal zum Vergleich Daniel Barenboim, in seiner Aufnahme von 1959, das hat durchaus mehr jugendliches Feuer, mehr Ecken und Kanten und dadurch eine andere Erzählhaltung.
    Ludwig van Beethoven, "Waldstein"-Sonate, 1. Satz (Barenboim)
    So ein wilder Umgang mit den Sechszehntel-Ketten, das käme Igor Levit nicht in den Sinn. Für ihn stehen der Notentext, die piano/forte Angaben, Akzente oder Hinweise zum Tempo an allererster Stelle. Nur im Rahmen dessen erlaubt er sich Eigensinnigkeiten.
    Levits Genauigkeit im Umgang mit dem Notentext zeigt sich beispielsweise auch im dritten Satz der "Sturm"-Sonate, da steht am Ende jeder kurzen wirbelnden Phrase der rechten Hand ein Punkt. Viele Pianisten interessiert der gar nicht, weil sie eh über alles ordentlich viel Pedalhall gießen. Nicht so Levit, er schneidet diese letzte Noten immer scharf ab.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 17 "Sturm", 3. Satz
    In den langsamen Sätzen lässt sich auf diesen neun CDs nachempfinden, was Live-Auftritte von Igor Levit für viele so einmalig macht. Er versenkt sich in die Musik, wählt zum Teil gefährlich langsame Tempi - gefährlich, weil der Spannungsfaden dann auch mal reißen kann. Das Aufrechthalten der Spannung über die langen, langsamen Phrasen hinweg gelingt nicht in jedem Satz gleich gut, aber beispielsweise im langsamen Satz der siebten Sonate D-Dur führt Levit erzählerisch durch die karge Düsternis und durch die versöhnlichen Passagen.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr.7 D-Dur, 2. Satz
    Claudio Arrau wählte 1964 ein sehr ähnliches Tempo wie Igor Levit, interessant ist, dass Arrau der dräuend langsamen Melodiestimme einen extra-Impuls-Anschub mit dem Akkord der linken Hand mitgibt.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr.7 D-Dur, 2. Satz (Arrau)
    Die Aufnahmephasen zu diesem Mammutprojekt alle Klaviersonaten von Beethoven auf CD festzuhalten, erstreckten sich von 2017 bis 2019. Die letzten fünf Sonaten, die harmonisch zukunftsweisend sind und überhaupt die Form der Klaviersonate auf eine ganz andere Stufe heben, sie hat Igor Levit bereits 2013 aufgenommen und veröffentlicht. Er fand die Interpretationen von vor sechs Jahren noch gut und hat sie darum auch so belassen. Für mich ist das ein Grund, diese Sonaten hier auszusparen und sich lieber auf die anderen 27 zu konzentrieren, auf das frische Material.
    Zeitgemäßes Layout
    Die Box mit den neun CDs als Ganzes ist, was Layout und Design angeht, eine der herausragenden Veröffentlichungen des Jahres. Der Großteil der Klassik-CDs ist in der visuellen Aufbereitung altbacken, hässlich oder peinlich. Levit wirkt auf dem Coverfoto vertrauenswürdig, durch den Pulli auch entspannt und ziemlich zufrieden mit sich. Die einzelnen CDs zieren Detailfotos eines Plattenspielers, eine Mini-Beethovenbüste oder auch Klavierpedale. Schlicht und schön eingefangen.
    Moment, verweile doch, du bist so schön, sei sein Horror, meinte vor kurzem Igor Levit im Deutschlandfunk, in der Sendung "Zwischentöne". Für seine Musik heißt das, dass sie wandelbar ist. Dass die Interpretation von heute nicht bis ins letzte Detail auch die von morgen sein muss. Das macht es umso spannender zu verfolgen, wie er mit den Beethoven-Sonaten in den folgenden Jahren weitergehen wird. Ob er vielleicht vom Konzept maximaler Beherrschung doch etwas abrückt, zugunsten von Freiheit und Risiko?
    der Strahlkraft eines Beethovens vergleichbar
    Vielleicht kann man sagen, dass kein Pianist, keine Pianistin das Wesen und die Feinheiten jeder der 32 Sonaten erfüllen kann - nicht umsonst hat sich der Beethoven-und Klavierspezialist Joachim Kaiser einmal die Arbeit gemacht, für alle 32 Sonaten zu mikroskopieren, welcher Interpret, welche Interpretin am ehesten den Charakter einer Sonate getroffen hat. Igor Levit hat diese Sonaten für viele Menschen jetzt neu entdeckt. Die Sonatenbox schaffte es bis in die Pop-Charts. Es wäre schön, ihre Käufer und Käuferinnen würden nun nicht nur hier verweilen, sondern das Lebendige in Beethoven auch bei anderen Pianisten und Pianistinnen entdecken. Andererseits ist Levit durch seine starke gesellschaftspolitische Haltung und seine Kunst der Strahlkraft einer Figur wie Beethoven wohl besonders nah. Und darum einer, der uns im Jubiläumsjahr 2020 noch oft begegnen wird, und zu Recht.
    Ludwig van Beethoven, Sonate Nr. 23 "Appassionata", 1. Satz
    Igor Levit
    Beethoven - Complete Piano Sonatas
    sony classical