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Ihrer Zeit weit voraus

Verglichen mit der frühen Feministin Victoria Woodhull ist Hillary Clinton eine eher farblose Präsidentschaftskandidatin. Woodhull kandidierte bereits 1872, 50 Jahre bevor die Amerikanerinnen das Wahlrecht erhielten, für das Weiße Haus. Außerdem gründete sie ihre eigene Partei, gab als erste Frau eine Zeitung heraus und war die erste weibliche Brokerin an der Wall Street.

Von Barbara Jentzsch | 09.06.2007
    Victoria Woodhull? Kaum einer kennt sie heute in Amerika, doch sie war eine der faszinierendsten Figuren der US-Frauenbewegung. Als sie am 9. Juni 1927 im Alter von 89 Jahren starb, fand die Suffragette Elisabeth Cady Stanton, eine der Vordenkerinnen der Bewegung, glühende Worte für die Kampfgenossin:

    "Victoria Woodhull hat mehr für die Frauen getan, als jede andere von uns es gekonnt hätte. Sie hat den Männern getrotzt und sie herausgefordert und wurde dafür mit Schmähungen überschüttet. Sie wird so berühmt sein, wie sie berüchtigt war. In den Annalen der Emanzipation wird der Name Victoria Woodhull als der einer Befreierin verzeichnet sein."

    Doch es kam anders. Victoria Woodhull wurde totgeschwiegen. Unter ihren Zeitgenossen und auch lange Zeit später fand sich so gut wie niemand, der ihr gerecht werden konnte. Denn Victoria California Claflin Woodhull war ein Phänomen: Am 23. September 1838 in armen Verhältnissen geboren, entpuppte sie sich als eine begabte Rednerin, die es furchtlos und aus eigener Kraft zu Ruhm und Reichtum brachte und Amerikas Frauenbewegung auf ihre Weise entscheidend prägte. Eine bildhübsche Frau voller Widersprüche - ihrer Zeit um 100 Jahre voraus. Bereits 1872, 50 Jahre bevor die Amerikanerinnen das Wahlrecht erhielten, kandidierte sie als erste Frau für die Präsidentschaft. Ihre Kandidatur sei eine Botschaft an Washington gewesen, kommentiert die Gründerin des Frauenmagazins "Ms", die Feministin Gloria Steinem:

    "Das Schild 'Reserviert für weiße Männer' galt nicht mehr fürs Weiße Haus. Den Leuten ging ein Licht auf: Hey, auch Frauen und schwarze Mitbürger haben dort ihren Platz. Woodhulls Kandidatur war natürlich symbolisch."

    Victoria Woodhull war die erste Frau, die vor einem Kongressausschuss sprach. Sie wies die verdutzten Senatoren des Justizausschusses darauf hin, dass der Wortlaut der Verfassung das Wahlrecht der Frauen bereits garantiere. Woodhull gründete ihre eigene Partei, die "Equal Rights Party". Auf den Parteiversammlungen versuchte sie, den Kongress unter Druck zu setzen.

    "Wenn der Kongress sich weigert, Frauen die legitimen Rechte eines jeden Bürgers einzuräumen, dann werden wir einen Kongress organisieren, der sich ausdrücklich damit befasst, eine neue Verfassung zu entwerfen und eine neue Regierung zu wählen. Wir schmieden Pläne für eine Revolution."

    Woodhull war auch die erste Frau, die ein Broker-Büro an der Wall Street eröffnete. Dazu hatte ihr der Eisenbahnmagnat Cornelius Vanderbilt verholfen, der ihre hellseherischen Fähigkeiten für seine Börsengeschäfte nutzte. Und sie gründete als Erste eine eigene Zeitung .”The Woodhull and Claflin Weekly" veröffentlichte als erste amerikanische Zeitung Karls Marx' "Kommunistisches Manifest" sowie Texte von Sigmund Freud.

    In ihrer ständigen Suche nach Freiheit und Unabhängigkeit kämpfte sie gegen alle gesellschaftlichen Konventionen. Denn die zweimal geschiedene Mutter zweier Kinder war eine eloquente Verfechterin der freien Liebe und hatte keinerlei Hemmungen, auf ihren von Tausenden besuchten Wahlveranstaltungen alle Tabus zu brechen und offen über Sexualität zu sprechen.

    "Wenn ich Geschlechtsverkehr mit 100 Männern haben will, ist das meine Sache. Und das Thema Geschlechtsverkehr kann jetzt gleich hier an Ort und Stelle diskutiert werden, und zwar so lange, bis alle so vertraut sind mit ihren Geschlechtsorganen, dass niemand mehr rot wird, wenn von ihnen die Rede ist. Wenn Sexualwissenschaftler im Schulunterricht erscheinen, werden sexuelle Probleme der jungen Generation kein Thema mehr sein."

    Doch ihre provozierende Offenheit wurde der Visionärin schließlich zum Verhängnis. Ihr Gönner Vanderbilt distanzierte sich von ihr, die Frauen der Bewegung wendeten sich ab. Und als sie sich mit Amerikas berühmtem Pastor Henry Beecher Stowe anlegte - dem Bruder von Harriett Beecher Stowe, der Autorin von "Onkel Toms Hütte" -, landete sie im Gefängnis. Das war der Anfang vom Ende ihrer amerikanischen Karriere.

    1883 ging Victoria Woodhull mit ihrer Schwester und ihrer Tochter ins Exil nach England. Dort heiratete sie ein drittes Mal, gab noch einmal eine Zeitung heraus und schuf sich in ihren biografischen Aufzeichnungen eine neue Vergangenheit: Sie behauptete, in ihren Adern fließe königliches Blut, und bestritt, je eine Anhängerin der freien Liebe gewesen zu sein. Respektabilität und Anerkennung gingen ihr am Ende ihres Lebens über alles.