Il fenomeno - Aniello Desiderio
Vergleicht man den ausgezeichneten britischen Gitarristen Jason Carter mit seinem neapolitanischen Kollegen Aniello Desiderio, so muss man feststellen, dass man sich unversehens in zwei verschiedenen Welten bewegt. Desiderio, in diesem Jahr Artist-in-residence beim DeutschlandRadio, ist wohl doch die herausragende Gestalt der neuen Gitarrenszene. Man möchte sagen: Jason Carter spielt Gitarre, Desiderio erzählt Gitarre. Er entwickelt auf seinem Instrument einen Reichtum des Ausdrucks und der Artikulation, der schon singulär zu nennen ist. Man kann durchaus eine Parallele zu Paganini ziehen: So wie dieser von der Gitarre für die Violine lernte, so findet sich in Desiderios Gitarrenspiel vieles, was sich im modernen Geigen- und Cellospiel, auch bei den führenden Gambisten entwickelt hat. Desiderios größte Stärke scheint mir darin zu liegen, dass sein beredter, außerordentlich facettenreicher Ton immer eine geradezu vokale Schönheit behält. Das ist ganz und gar unspanisch, möchte man sagen. Die spanische Gitarre setzt bewusst auf das mitunter Geräuschhafte des Tons, so wie die englische Tradition auf gleichbleibende Tonqualität um den Preis einer gewissen Gleichförmigkeit aus ist. Bei Desiderio gibt es eine Fülle von Farben - aber zugleich geht es um die pure Klangschönheit. Er ist der Gitarrist auf der Ideallinie zwischen Espressivo und bel canto, und er kommt damit dem Ideal italienischen, gerade auch neapolitanischen Gesangs so nahe wie sonst niemand. Seine neue CD, erschienen bei wakumusic und beim Bayerischen Rundfunk produziert, erzählt davon. Sie enthält Werke von Carulli, Giuliani, Paganini, Castelnuovo Tedesco und Domeniconi nebst drei Sonaten von Scarlatti. Die größte Reichweite hat zweifellos die Grande Sonate op. 30 A-dur von Paganini, wo man wieder einmal die gleiche Erfahrung macht wie bei den Belcanto-Arien eines Bellini: den Noten nach scheint es sich eher um eine schlichte Komposition zu handeln - erst eine Interpretation wie diese zeigt, wie komplex die Noten gemeint sind. * Musikbeispiel: Nicolò Paganini - 3. Satz aus: Grande Sonate op. 30 A-dur Aniello Desiderio mit der Grande Sonate von Paganini, wo er nun wirklich den ganzen Reichtum seiner Artikulationsmöglichkeiten einbringt. Es gibt einen Bonus-Track auf dieser CD. Da singt Desiderio, der ja nach wie vor in Neapel lebt, "O paese d' 'o Sole", eine Canzone, mit dem typischen, leicht nasalen Tonfall seiner Heimat, der von innen kommt und gewissermaßen für sich bleibt und der mit dem geschmetterten, in schlechtem Neapolitanisch gesungenen "O sole mio" eines Pavarotti nichts gemein hat. Ein Stück Privatissimum des großen Musikers Aniello Desiderio und eine Liebeserklärung an die neapolitanische Musik, die ich Ihnen nicht vorenthalten möchte. * Musikbeispiel: L. Bovio-V.D'Annibale - "O paese d' 'o sole" Das war die neue Platte im Deutschlandfunk, heute mit einer CD des Bingham String Quartetts und des Gitarristen Jason Carter - Quintette von Luigi Boccherini - , die bei Koch erschienen ist. Und der neuen CD des neapolitanischen Gitarristen Aniello Desiderio, die ich Ihnen zum Schluss vorstellte. Diese Neuproduktion ist bei dem kleinen Label Wakumusic erschienen, und zwar unter dem Titel "Il fenomeno - Aniello Desiderio". Am Mikrofon bedankt sich Norbert Ely für Ihre Aufmerksamkeit.