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Ilia und Idamante in schwerem Gelände

Vor sieben Jahren wurde Mozarts "Idomeneo" wegen allzu eindeutiger Anspielungen auf religiöse Wahnvorstellungen vom Spielplan der Deutschen Oper in Berlin genommen. Jetzt hat der 38-jährige Venezianer Damiano Michieletto einen neuen Inszenierungsversuch am Theater an der Wien gewagt.

Von Frieder Reininghaus | 14.11.2013
    Prinzessin Ilia, eine nach dem Ende des Trojanischen Kriegs als Gefangene nach Kreta überstellte Tochter von König Priamos, stapft im Flüchtlingslook durch ein Stiefelfeld. Sophie Karthäuser erhebt im Theater an der Wien ihren wunderbar weichen, anschmiegsam femininen Sopran aus dem dunklen Granulat, in dem die an die Überreste einer Schlacht erinnernden Schuhe eine letzte Ruhe gefunden haben. Das Bild postuliert eine Übertragung: Denn auf der Insel Kreta haben die vielen von Homer besungenen Schlachten dieses ersten minutiös dokumentierten Krieges der Weltgeschichte nicht stattgefunden, sondern weiter nördlich auf dem kleinasiatischen Festland. Um die Ruhe ist es bald geschehen.

    Idamante, der Kronprinz des Inselkönigreichs, tritt zu Ilia und beginnt sich auszuziehen – das ist die Form, mit der ein auf exaltierte Expression sich verpflichtendes Theater seit Jahrzehnten das Aufwallen von Liebesgefühlen signalisiert (wenn es männliche Begehren nicht ohnedies gleich als Vergewaltigungen zeigt). Doch vorm Ablegen der Unterwäsche macht die so überzeugend energisch singende französische Mezzosopranistin Gaëlle Arquez dann Schluss (wahrscheinlich wollte Regisseur Damiano Michieletto der Szene einen Rest realistischer Plausibilität wahren).

    Ein kompaniestarkes Rudel Sanitäter in orangenfarbigen Warnwesten fährt den schiffbrüchigen Idomeneo im Krankenbett herein. Elektra aus der mörderischen Herrscherfamilie Agamemnon-Klytämnestra stapft hinterdrein in das unwegsame Gelände – Marlis Petersen wurde aufgebrezelt wie eine Party-Bratze der 1990er Jahre. Sie singt so animierend, wie sie aussieht. Für die ihr vom König verordnete Rückkehr nach Mykene geht sie erst einmal in der Kärntener Straße einkaufen. Sie kommt mit vielen bunten Tüten zurück, um nicht nur Idamante, auf den sie es primär abgesehen hat, sexuell zu belästigen, sondern auch dessen Vater Idomeneo.

    Den Einbruch des von Neptun in die Hofwüste von Herakleion entsandte Meeresungeheuer zeigt Michieletto als Wüten des Chors, der von der Seite hereinbricht, die Begrenzungsvorhänge der Bühnenfläche herunterreißt und ein Chaos mit Stühlen und Koffern veranstaltet. Gemessen an den Fernsehbildern von den Folgen eines Taifuns bleibt diese Art der Vergegenwärtigung freilich eher matt – und eine Visualisierung der über Kreta hereingebrochenen Schuldenkrise wäre womöglich wirklich ungeheuerlich gewesen.

    Deftiger fällt die optische Kontrapunktierung des "lieto fine" aus und die der abschließenden Ballettmusik: Elettra gönnt sich ein Schlammbad vorn an der Rampe. Der seiner Königswürde und -bürde enthobene Idomeneo legt sich zum Sterben ins Granulat und wird mit ihm von den trauernden Hinterbliebenen bestreut. Die von Szene zu Szene immer noch schwangerer ausstaffierte Ilia aber bringt auf der ohnedies schon blutigen Matratze unter lauten Schreien ihr Kind zur Welt – der glückliche Vater fungiert als Geburtshelfer für seinen Thronfolger.

    Mozarts Musik, die mit all dem wenig zu tun hat, ficht dies nicht an. Petra Müllejans, die Primgeigerin des Freiburger Barockorchesters, dirigiert energisch und mit recht ordentlichem Resultat. René Jacobs präsidiert vom Dirigentenpult aus. Und das Publikum scheint überwiegend erbaut von dem, was ihr Michieletto zum langatmigen Stück kurzweilig anbietet. Um es in Mozarts Singspiel-Metaphorik zu sagen: "Schlecht geschwor'n und lang gewunden, dann gesuhlt, zuletzt entbunden".