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Illegale Chemiewaffenprogramme in den USA und in Russland

Meurer: Samstag Morgen war die Erleichterung zunächst groß, als den russischen Einsatzkräften die Stürmung des Musical-Theaters gelang und Hunderte von Geiseln befreit werden konnten. Dann aber wurde rasch klar, zu welch hohem Preis das alles geschah. 115 Geiseln sind am Gas gestorben, und seitdem rätselt die Welt, was das Sonderkommando Alpha verwendet und eingesetzt hat, eine neue Form von Chloroform, ein Opiat oder etwas aus den C-Waffenbeständen der russischen Armee, die erst bis zum Jahr 2007 vernichtet werden müssen? Am Telefon begrüße ich Jan van Aken, Bio- und C-Waffenexperte von der Nichtregierungsorganisation Sunshine Project. Nach allem was Zeugen, Geiseln berichtet haben, was glauben Sie, was die Sondereinsatzkräfte am Samstag verwendet haben?

    Van Aken: Es spricht alles dagegen, dass das eins dieser tödlichen Nervengase aus der Zeit des Kalten Krieges war, also kein Sarin, Soman oder VX, sondern eher eine Chemikalie, die in erster Linie betäubend wirkt. Das kann eine Substanz sein, wie sie in ähnlicher Form auch in der Medizin eingesetzt wird, oder eine Neuentwicklung. In jedem Fall – da bin ich mir recht sicher – stammt diese Substanz auch aus einem Chemiewaffenprogramm in der Sowjetunion.

    Meurer: Also Chemikalien, die betäubend wirken, rechnen Sie auch zu den C-Waffen?

    Van Aken: Auf jeden Fall. Die Chemiewaffenkonvention macht da überhaupt keinen Unterschied, ob eine Substanz tödlich oder nicht tödlich ist. Selbst Tränengas darf man nicht in Kriegen einsetzen. Da gibt es nur Ausnahmen für den internen Polizeigebrauch gegen Demonstranten. Also all das fällt auf jeden Fall unter die Definition einer chemischen Waffe.

    Meurer: Ist Ihnen bekannt, dass weltweit an solchen Chemikalien experimentiert und getestet wird, die nicht unbedingt eine tödliche Wirkung haben, sondern betäuben sollen?

    Van Aken: Nein, eigentlich sind wir bis vor einigen Wochen davon ausgegangen, dass die Chemiewaffenkonvention all diese Programme verbietet. Jetzt haben wir vor vier Wochen festgestellt, dass in Amerika genau so ein Programm läuft zur Entwicklung von sogenannten nicht tödlichen chemischen Waffen, und die Ereignisse in Moskau zeigen, dass offensichtlich die Russen genau so ein Programm haben. Wir stehen im Moment vor der paradoxen Situation, dass durch die Chemiewaffenkonvention einerseits diese riesigen Bestände an tödlichen Nervengasen vernichtet werden sollen, andererseits insgeheim, unter Ausschluss der Öffentlichkeit neue Arten von Chemiewaffen entwickelt werden.

    Meurer: Gibt es eine Lücke im C-Waffenverbot von 1997?

    Van Aken: Nein, eigentlich gibt es überhaupt keine Lücke. Es ist völlig klar, dass das verboten ist. Aus Amerika zum Beispiel wissen wir – das können wir belegen -, dass dort auch militärische Sachen entwickelt werden, Gasgranaten mit großen Reichweiten. Das hat alles keine Legitimation mehr für den Polizeigebrauch. Das ist ganz klar verboten. Das ist heute auch schon aus der Chemiewaffenkonvention ersichtlich.

    Meurer: Es gibt ja in Den Haag eine Überwachungsbehörde, die das Verbot von 1997 kontrollieren soll, die also, wenn ich das richtig sehe, Inspekteure in die verschiedenen Länder schickt. Wird in Russland auch ausreichend inspiziert?

    Van Aken: Diese OPCW, die Organisation in Den Haag, mach sicherlich einen sehr guten Job. Nur hat sie natürlich ein eingeschränktes Mandat, sage ich mal. Es kann nicht jede Chemikalie in jedem Land untersucht werden, das ist einfach zu viel. Deswegen sind eine Reihe von speziellen Chemikalien dort aufgelistet, deren Produktionsstätten untersucht werden. Das sind allerdings in der Regel nur die tödlichen Nervengase, nur ganz wenige klassische, sage ich mal, tödliche Chemiewaffen. Es kann sehr gut sein, dass jetzt ein Land wie Russland oder die USA neue Chemikalien entwickeln, die betäuben, die nicht unter diese Liste fallen und deswegen auch erst mal nicht inspiziert werden.

    Meurer: Warum hegen Sie eigentlich Verdacht gegen die USA?

    Van Aken: Das können wir belegen. Meine Kollegen in unserem amerikanischen Büro haben dort 18 Monate recherchiert und haben sehr viele Dokumente gefunden, die zweierlei Dinge belegen: Zum einen, dass dort geforscht wird an einer ganzen Reihe von Chemikalien für die militärische Nutzung, und zum anderen eben die Entwicklung von Gasgranaten mit großen Reichweiten. Das beides zusammengenommen ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass dort ein illegales Chemiewaffenprogramm stattfindet.

    Meurer: Was glauben Sie würde es bedeuten für das internationale C-Waffenverbot, wenn die russische Regierung, das russische Militär am Samstag tatsächlich verbotenes Gas eingesetzt haben sollte?

    Van Aken: Wenn das nicht aufgeklärt wird und wenn dort nicht festgestellt wird, dass das Einsätze sind, die so nicht stattfinden dürfen, dann besteht natürlich die Gefahr, dass diese ganze Konvention ins Wanken gerät. Wenn ein Land erstmals anfängt dagegen zu verstoßen und sich kein Protest in der Weltöffentlichkeit rührt, dann fühlen sich natürlich andere Länder animiert, genau das Gleiche nachzuahmen. Ich habe ein bisschen die Angst, dass wir hier vor einem neuen Wettrüsten mit diesen sogenannten nicht tödlichen chemischen Waffen stehen, die – das wissen wir seit dem Wochenende – doch sehr tödlich sein können.

    Meurer: Nehmen wir mal an, die Elitesoldaten Alpha hätten die Dosierung nicht so hoch angesetzt und wenige oder überhaupt keine Geiseln seien dabei gestorben, wäre ein solches Betäubungsmittel nicht in diesem Fall zu rechtfertigen gewesen, nach dem Motto "Der Zweck heiligt die Mittel"?

    Van Aken: Gut, dann hätte das aber auch nicht funktioniert. Das liegt in der Sache der Chemikalien, dass sie mit einer so hohen Konzentration rangehen müssen, um auch den letzten Geiselnehmer auszuknocken, und was für den einen die richtige Dosis ist, ist für die anderen eine tödliche Überdosis. So ein Konzertsaal ist ja kein Operationssaal, wo Sie individuell die richtige Dosis feststellen. Sie müssen immer mit einer hohen Konzentration rangehen, sonst wirkt das bei einigen Geiselnehmern nicht, und der Effekt ist überhaupt nicht da. Andrerseits nehmen Sie sehenden Auges dann Todesopfer in Kauf.

    Meurer: In welchem Maß ist es eigentlich möglich, sowohl den eingesetzten Sicherheitskräften als auch den Opfern ein Gegenmittel zu injizieren?

    Van Aken: Das kommt natürlich ganz auf die Substanz an. Es sind im Moment Opiate im Gespräch, opiatähnliche Substanzen, die dort eingesetzt worden sind. Wenn das wirklich stimmt, dann steht ein optimales Gegenmittel zur Verfügung, Naloxon – das wird auch in der Medizin eingesetzt -, das nahezu in Sekundenschnelle die Wirkung der Opiate wieder aufheben kann. Wir wissen aber heute noch nicht, welche Substanz wirklich dahintersteckt. Ich gehe aber einmal davon aus, wenn die Russen ein solches Chemiewaffenprogramm haben, eine solche Chemikalie entwickeln, dass sie auf jeden Fall auch ein Gegenmittel mitentwickeln; sie müssen ja auch ihre eigenen Leute schützen.

    Meurer: Vielen Dank für das Gespräch.

    Link: Interview als RealAudio