Freitag, 19. April 2024

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Illusion Fortschritt

Der deutsche Titel sagt es bereits: "Illusion Fortschritt". Wer glaubt, Fortschritt sei die Triebfeder der Evolution, der irrt. Wer die Entwicklung des Lebens auf der Erde nur als gradlinige und zielgerichtete Bewegung hin zu höheren, komplexeren Lebensformen ansieht, erliegt einer Illusion. Es gibt ihn nicht, den Fortschritt. Bei aller Vielfalt, die das Leben bislang hervorgebracht hat, eine Zielrichtung läßt sich nicht erkennen. Der Mensch ist nur als ein Produkt des puren Zufalls, noch nicht einmal eines sehr wahrscheinlichen Zufalls, sondern ein gradezu groteskes Beispiel für die absonderlichen Verirrungen, die der Evolution unterlaufen, eine absolute, unwiederholbare Ausnahme, keineswegs Ergebnis zielgerichterer Entwicklung.

Johannes Kaiser | 07.04.1999
    Mit solchen ketzerischen Ansichten erregt der 57jährige amerikanische Zoologe und Geologe Stephen Jay Gould schon seit einigen Jahren Wissenschaft wie Öffentlichkeit. Insofern birgt sein jetzt vorgelegtes allgemeinverständliches Buch über jüngste Erkenntnisse der Evolutionstheorie nichts völlig Neues, dennoch kommt es in seiner Kompaktheit einem Paukenschlag gleich, denn Gould stößt Mensch wie Tier gleichermaßen vom Sockel der Evolution. Sie sind nicht mehr als ein kleiner Wurmfortsatz am Dinosaurierkörper des Lebens, entbehrlich wie der Blinddarm beim Menschen, ohne weitere Bedeutung für den Fortgang der Evolution. Selbst menschgemachte Katastrophen wie ein atomarer Winter, die Erderwärmung oder forcierte Umweltvergiftung würden den Fortgang der Evolution nur unterbrechen, nicht aufhalten. Sind wir verschwunden, beginnt sie von neuem. Schließlich hat sie schon mehrere größere Rückschläge erlitten, ohne daß das Leben auf der Erde erloschen wäre.

    Mit dieser Idee werden sich die meisten nicht anfreunden mögen, denn sie stößt alles um, was die Biologiebücher und naturwissenschaftlichen Museen seit Jahrzehnten lehren. Seit die Schöpfungsgeschichte unter den Paukenschlägen von Darwins Evolutionstheorie in der Mottenkiste der naturwissenschaftlichen Fabeln verschwunden ist, gilt als gesichterte Erkenntnis, daß sich das Leben auf der Erde ständig vervollkommnet hat. Vom primitiven Einzeller über die Säugetiere bis hin zum Menschen reicht die Ahnenkette des Lebens. Danach ist der Mensch Höhe- und Endpunkt der Entwicklung. Angeblich führen die beiden Grundprinzipien der Evolution, Mutation und Selektion, also genetische Veränderung und die Auswahl der besser Angepaßten, zu dieser Höherentwicklung. Einmal abgesehen davon, daß Darwin selbst der Evolution keine Richtung unterstellte, stimmt die Argumentation mit der Wirklichkeit aber auch nicht im mindesten überein, wie Stephen Jay Gould an mehreren Beispielen vorführt.

    So erscheint es nur auf den ersten Blick so, als sei unser heutiges Pferd logische Folge einer konsequenten Weiterentwicklung früherer Pferdeformen. Wie Ausgrabungen und Skelettfunde beweisen, ist das heutige Pferd nicht mehr als ein winziger überlebender Zweig eines ausgesprochen üppig wuchernden Entwicklungsbusches der Pferde, der vor einigen Millionen Jahren seine Blütezeit hatte und viel mehr Arten aufwies, als die Neuzeit zu bieten hat. Nur sind die mächtigen Haupttriebe an diesem Stammbaum ausgestorben. Vom hundekleinen, vielzehigen Eohippus zum arabischen Vollblüter gibt es keine gerade Linie. Das Schlachtroß, mit dem Europa Amerika eroberte, entsprang einem kleinen, mickrigen Seitenpfad der Pferdeentwicklung und hat nur durch Zufall überlebt. Es ist noch nicht einmal der Endpunkt einer der Hauptlinien der Pferdeentwicklung. Ohne menschliches Zutun wäre wahrscheinlich auch dieser letzte Überlebende einer ehemals vielfältigen Stammesgeschichte ausgestorben.

    Es gibt in der Evolution keine aufsteigende Leiter. Mutation und Selektion führen zwar zur besseren Anpassung eines lebenden Organismus an seine augenblicklichen Umweltbedingungen, aber nicht unbedingt auch zu seiner Höherentwicklung. Die Vielfalt nimmt zu und zwar in alle Richtungen. Die Evolution entspricht einem Busch, der sich in alle Himmelsrichtungen streckt, keine bevorzugt. Es stimmt auch keineswegs, wie die alten Theorien behaupten, daß die höherentwickelten Arten im Überlebenskampf triumphieren und sich weltweit gegenüber primitiveren Formen durchsetzen. Ganz im Gegenteil zeigt die Erdgeschichte, daß bei allen Katastrophen die einfachen Lebensformen Sieger blieben. Je schlichter, desto erfolgreicher. Die am weitesten auf der Erde verbreitete Lebensform ist auch ihre einfachste, kleinste, älteste: die Bakterie. Sie übertrifft nicht nur zahlenmäßig alle anderen Lebensformen um das Milliardenfache, sie hat zudem sämtliche Bereiche der Erde erobert, findet sich im ewigen Eis ebenso wie in 265 Grad heißen Quellen auf dem Tiefseeboden, lebt in enger Symbiose mit sämtlichen anderen Lebewesen, oftmals millionenfach in deren Körpern selbst - 10 Prozent des menschlichen Trockengewichts sind Bakterien -, läßt sich selbst in mehreren tausend Metern Tiefe in der Erdrinde aufspüren. Nur etwas Wasser benötigen die Bakterien zum Leben, noch nicht einmal Sonne. Die Anpassungsfähigkeit, die Formenvielfalt, der Überlebenserfolg der Bakterien ist unvergleichlich. Die Evolution hat sie zu ihrem erfolgreichsten Vertreter erkoren.

    Warum aber haben sich dann neben ihr zahreiche andere Lebensformen gebildet? Nichts als statistische Wahrscheinlichkeit, meinen Stephen Gould und andere Evolutionsforscher. Sind die Bakterien die einfachste Grundform des Lebens, sein Startpunkt, gibt es für jede Entwicklung nur eine Richtung. Neues muß höher, komplizierter werden, denn auf der anderen Seite existiert nur noch tote Materie. Genetische Veränderungen und Auswahl bringen neben zahlreichen neuen Bakterienformen zwangsläufig auch kompliziertere Lebensformen hervor. Finden die in der Umwelt eine noch unbesetzte Nische, dann können sie überleben, sich vermehren und ausbreiten. Ihre weitere Entwicklung ist aber wieder rein vom Zufall abhängig. Die Evolution würfelt. Mal kommt dabei eine komplexere Lebensform, mal eine einfachere heraus. Eine eindeutige Tendenz fehlt. Nichts deutet daraufhin, daß die Evolution zielgerichtet voranschreitet. Sie schwankt, so wie der Zufall schwankt. Daß sie dabei den Menschen hervorgebracht hat, ist unwahrscheinlicher als ein Lottovolltreffer. Doch auch der kommt statistischer Wahrscheinlichkeitsverteilung nach fast jede Woche vor. Keine sehr schmeichelhafte Vorstellung für uns. Nicht der Mensch ist die Krone der Schöpfung, vielmehr gebührt diese Ehre der Bakterie. Allerdings können wir uns, so der amerikanische Paläontologe, dafür rühmem, eine eigene Evolution auf die Beine gestellt zu haben, die unserer Kultur. Da sehen wir wirklich ein rasante und ständige Weiterentwicklung, denn einmal Erworbenes kann gezielt weitergegeben werden, geht bewußt in die Kultur ein. Allerdings ist auch die kulturelle Evolution in mehreren Bereichen inzwischen an einem Endpunkt angekommen. Zu Bach, Mozart, Beethoven gibt es keine Steigerung, höchstens Gleichwertiges. Und auch im Sport kommt man immer häufiger an Grenzen, die kaum überschritten werden können. Hier ist die einzige Einschränkung zu Stephen Jay Goulds Buch zu machen. Als Kind Nordamerikas ist der Havard-Professor auch ein begeisterter Baseball-Fan. Zahlreiche Beispiele in seinem Buch beziehen sich auf diesen uns unverständlichen, langweiligen Sport. Goulds Versuche, statistische Wahrscheinlichkeiten, die unserem Alltagsverständnis zu widersprechen scheinen, anhand der Trefferquoten im Baseball zu erklären, sind für uns ermüdend und hätten, wenn nicht gestrichen, so doch gerafft werden sollen. Doch das nimmt dem Buch nicht seinen grundsätzlichen Verdienst, überfällige Aufklärung zu bieten. Für Lehrer wie Schüler eine Pflichtlektüre.