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Illusionen und Irrwege der literarischen Intelligenz

Ohne Frage ist es für Literaten einfacher, radikale politische Positionen zu fordern als für Politiker, die täglich an die Grenzen der Realpolitik stoßen. Mit diesem Konkurrenzverhältnis zwischen Theorie und Praxis hat sich der Bonner Politiologe Günther Rüther beschäftigt.

Von Martin Hubert | 04.02.2013
    Als Günter Grass im April vergangenen Jahres mit seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" Israels Politik attackierte, löste das heftige Reaktionen aus. Kaum ein anderer Schriftsteller sprang ihm jedoch bei. Umso heftiger wurde die Rolle in Frage gestellt, die Grass für sich in Anspruch nahm: dass er als Literat eine besondere moralische Instanz gegenüber der Politik verkörpere. Die Zeiten scheinen also vorbei zu sein, in denen Schriftstellern wie Grass, Heinrich Böll, Rolf Hochhuth oder Hans Magnus Enzensberger eine besondere Rolle als kritische Stimme innehatten. Der Bonner Politikwissenschaftler Günther Rüther stellt die aktuelle Beziehung zwischen Literatur und Politik nun erstmals in einen größeren historischen Zusammenhang. Dieses Thema ist politisch enorm aufgeladen. Es ist daher dankenswert, dass Günther Rüther auch seine Karten offenlegt.

    "Günter Grass hält nach wie vor an "seiner SPD" fest. Seine Treue mag manchem Unionspolitiker ein Dorn im Auge sein. Denn bisweilen trübt diese Bindung in öffentlichen und literarischen Angelegenheiten einen klaren und unvoreingenommenen Blick als Schriftsteller und Intellektueller auf die Realität. Möglicherweise gilt dies letztlich für den Autor dieses Buches selbst."

    Günter Rüther ist nicht nur Bonner Lehrbeauftragter für politische Wissenschaft und Soziologe, sondern auch Hauptabteilungsleiter bei der CDU-nahen Adenauer-Stiftung. Sein Buch ist zwar eine wissenschaftlich-historische Studie, unverkennbar aber auch klar politisch positioniert. Rüther geht in seinen Rückblicken immer schon von der Gegenwart aus, also von der parlamentarischen Demokratie und der Westbindung der Bundesrepublik. Sein Credo: Literaten sollten nie mit der Macht verschmelzen und der Politik gegenüber kritisch eingestellt sein. Umgekehrt hätten die Politiker das zu akzeptieren. Die Wurzeln für die oft verhängnisvolle Beziehung der Literaten zur Politik sieht er in der nationalen Frage.

    "In keinem Land Europas war dieses Verhältnis so kompliziert, von Missverständnissen, Fehlurteilen, Misstrauen und Ideologien bestimmt wie in Deutschland. Es begann mit dem deutschen Idealismus und fand erst nach der Wiedervereinigung 1990 zur Normalität, vorläufig, oder dürfen wir nach mehr als 200 Jahren hoffen, vielleicht sogar endgültig. Dies deutet darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem schwierigen Verhältnis und der deutschen nationalen Frage gibt. Ist es ein Zufall der Geschichte, dass wir eine Entspannung zwischen Literatur und Politik zu einem Zeitpunkt konstatieren, wo Deutschland in Grenzen lebt, die sowohl von unseren Nachbarn als auch von uns selbst als endgültig bezeichnet werden?"

    Im Detail bezieht sich Rüther auf die altbekannte Theorie von der verspäteten Nation. Demnach entwickelte das deutsche Bürgertum zwar bis zur Reichsgründung 1871 eine eigenständige Kultur. Es konnte aber kaum an der politischen Macht in einer einheitlichen Nation partizipieren. Daher bildete sich ein Dualismus, eine Entgegensetzung von Kultur und Politik heraus. Vor allem die Schriftsteller verliehen der Kultur dabei eine idealistisch-überhöhte Weihe: Sie galt als Garant höherer Werte und führte zum Ideal der deutschen Kulturnation, das unterschiedlich aufgeladen werden konnte: mal national-chauvinistisch, mal freiheitlich-demokratisch. Am Beispiel von Thomas Mann zeigt Günther Rüther überzeugend, wie beides in einer Person zum Ausdruck kommen kann.

    Von den großen historischen Zügen her trifft Günther Rüthers Ansatz sicherlich einen wichtigen Punkt. Fraglich ist jedoch, wie gut der Bezug auf die nationale Frage die unterschiedlichen Ideologien und Positionen erklären kann, die seit Weimar im Verhältnis zwischen Literatur und Politik aufgetreten sind. Das wird besonders deutlich, wenn Rüther die DDR-Literatur behandelt. Rüther untersucht zum Beispiel Autoren wie Franz Führmann, Anna Seghers, Volker Braun oder Christa Wolf, die vom Ideal einer neuen, antifaschistischen Kulturnation geprägt waren. Die Idee der wahrhaften deutschen Kulturnation wurde hier auf den Gegensatz von Kapitalismus und Sozialismus übertragen. Das Ideal band diese Schriftsteller lange an den DDR-Staat, da sie glaubten, über die Literatur zu seiner Humanisierung beitragen zu können. Für Rüther von Anfang an ein Irrglaube. Er schildert aber auch, wie sie aufgrund der politischen und sozialen Realitäten allmählich ihre Illusionen verloren und in unterschiedlichem Ausmaß auf kritische Distanz gingen. Dementsprechend fällt sein Gesamturteil sehr differenziert aus:

    "Eine pauschale Verurteilung wird dem Stellenwert der DDR-Literatur nicht gerecht. Sie verkennt ihr literarisches und ästhetisches Niveau und übersieht die Anerkennung, die sie gerade auch im Westen Deutschlands in den Jahren der Teilung aus diesem Grund gefunden hat. Zudem ist sie für viele Menschen in der DDR eine wichtige Orientierungshilfe und seelische Stütze gewesen."

    In Bezug auf die bundesrepublikanischen Literaten nach 1945 bemängelt Rüther, dass sich viele von ihnen in ein Phantasma des dritten Weges zwischen Sozialismus und Kapitalismus verrannt hätten. In den 50er- und 60er-Jahren hätten sie den Adenauer- und CDU-Staat als autoritäres Gebilde kritisiert. Angesichts der Integration zahlreicher NS-Beamter in den Staat und der Notstandsgesetze 1968 hätten sie außerdem vor einem Rückfall in den Faschismus gewarnt. Die von Adenauer in Gang gesetzte Demokratisierung und Westbindung Deutschlands hätten sie in ihrer Bedeutung nie richtig verstanden. Erst mit der Wiedervereinigung, so Rüther, sei vielen Literaten dieser Wert aufgegangen. Seine Bilanz:

    "Die Lust und Neigung deutscher Intellektueller, in einem schroffen Entweder-Oder zu denken und die Neigung der Politik, darauf mit Unbill, schlimmstenfalls mit Beleidigungen zu reagieren, ist einem verständnisvollen Blick für die unterschiedlichsten Aufgaben in einer demokratischen Gesellschaft gewichen."

    Günther Rüthers Buch informiert über manche Illusionen und Irrwege der literarischen Intelligenz in Deutschland. Es lässt sich in gewissem Sinn auch als kulturpolitisches Dokument einer sich modernisierenden CDU lesen, die ihr Verhältnis zu den Schriftstellern klären und entkrampfen will. Allerdings überfrachtet es die nationale Frage und die Theorie der verspäteten Nation, wenn diese die Beziehung zwischen Literatur und Politik in Deutschland allein erklären sollen. Der Verlust des besonderen Kritikerstatus des Schriftstellers hat zum Beispiel auch damit zu tun, dass die Rolle des Schreibenden in der Mediengesellschaft insgesamt an Gewicht verloren hat. Und damit, dass Bürgerinitiativen und NGO's seine kritische Rolle weitgehend übernommen haben. Auch ist die Frage, ob die westdeutschen Literaten in den 50er- und 60er-Jahren nicht doch auch zur Demokratisierung der Verhältnisse beigetragen haben, indem sie an die NS-Zeit und einige personelle Kontinuitäten erinnerten - auch wenn sich ihre Kritik aus heutiger Sicht manchmal übertrieben anhört. Diese Punkte bleiben in Günther Rüthers Buch unterbelichtet, sind aber für das Thema unverzichtbar.

    Günther Rüther: "Literatur und Politik: Ein deutsches Verhängnis?"
    Verlag: Wallstein, 351 Seiten, 24,90 Euro
    ISBN: 978-3-835-31233-3