Im September 1901 hat Sigmund Freud die Figur des Moses von Michelangelo zum ersten Mal in Rom gesehen. Und von da an hat es ihn immer wieder zu dieser Skulptur hingezogen und er hat sie tagelang betrachtet, sich kleine Zeichnungen ihrer Details gemacht. Sie ist Teil eines Grabdenkmals, das Michelangelo zwischen 1512 und 1516 für den Papst Julius den 2. in der Kirche St. Pietro in Vincoli ausgeführt hatte. Freud hat, wie schon viele Kunsthistoriker vor ihm, versucht herauszufinden, was der Künstler in dieser Figur ausdrücken, in welcher Situation er den Moses darstellen wollte, den Propheten, der die göttlichen Gesetze auf steinernen Tafeln zu den Menschen bringt, den Menschen, die seine Mission längst vergessen haben und nun das goldene Kalb anbeten. 1914 veröffentlichte Freud zunächst anonym sein so genanntes 'Wagstück’ über den Moses, das eine neue Deutung des Kunstwerkes und des Motivs des Künstlers enthielt, eine Interpretation die über die Jahre Gegenstand vieler Kontroversen war. Ilse Grubrich-Simitis, Psychoanalytikerin in Frankfurt hatte 2002 in Rom Gelegenheit im Zuge der Restaurationsarbeiten an dem berühmten Grabmal an der kunsthistorischen Debatte über Michelangelos Absicht mit diesem Werk teilzunehmen. In einer Collage genannten Arbeit hat sie ihre Überlegungen zu dem Kunstwerk vor dem Hintergrund der Freudschen Deutung veröffentlicht. Hans-Martin Lohmann hat für uns dieses Buch gelesen:
So umstritten die Psychoanalyse als Heilverfahren heutzutage auch sein mag, so unbestritten ist der Rang, den Sigmund Freud in der geistigen Hierarchie des 20. Jahrhunderts einnimmt. Selbst ein Magazin wie der Spiegel, notorisch bekannt dafür, die praktizierenden Seelenärzte mit ätzendem Hohn zu überziehen, kam in seiner Bilanz des letzten Jahrhunderts nicht umhin, die epochale Rolle Freuds an zu erkennen:
Sigmund Freud, Schöpfer der Psychoanalyse, prägte das Jahrhundert wie kein anderer.
Interessanterweise verhält es tatsächlich so, dass es weniger die kurative Seite der Psychoanalyse ist, die auf lange Sicht reüssieren konnte, als vielmehr ihr kulturtheoretisches und -kritisches Potential. Freuds Schriften über den Ursprung der Kultur, über den Mord der Söhne am Urvater, über Totem und Tabu, Krieg und Tod, aber auch über Literatur und bildende Kunst bergen so brisanten intellektuellen Sprengstoff, dass die Diskussionen darüber bis heute andauern.
Zu den anregendsten Schriften aus Freuds Feder zählt gewiss die über den Moses des Michelangelo. Dieser kleine Text, 1914 in der Zeitschrift Imago anonym erschienen, ist nicht nur deshalb so faszinierend, weil er eine höchst eigenwillige und originelle Deutung der berühmten Moses-Plastik in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli gibt. Sondern auch deshalb, weil er, überspitzt formuliert, beinahe mehr über ihren Autor preisgibt als über das von ihm bewunderte Kunstwerk Michelangelos. Dass Freud seine Schrift mit Bedacht anonymisierte, geschah wohl nicht zuletzt aus der Sorge, sie könne Einblicke in seine allerprivatesten Verhältnisse gestatten.
Freuds Deutung der Moses-Statue läuft einen, auf den finalen Punkt zu: Michelangelo habe den jüdischen Religionsstifter in dem Moment in Marmor gebannt, da dieser, vom Berg Sinai steigend, seines abtrünnigen Volkes ansichtig wird, das um das Goldene Kalb tanzt. In seinem ersten Zorn wolle Moses die Gesetzestafeln zertrümmern, besinne sich jedoch und halte in der destruktiven Bewegung inne, indem er seinen ursprünglichen Affekt zügele. Dies sei der Augenblick, den der Künstler habe festhalten wollen. Freud schreibt:
Damit hat er (Michelangelo) etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.
Freud merkt ausdrücklich an, dass seine Interpretation des Moses von der biblischen Überlieferung abweiche, und schreibt damit diese Abweichung der künstlerischen Intention Michelangelos zu. Jacob Burckhardts klassische Deutung im Cicerone verhält sich dagegen durchaus bibelkonform, wenn er notiert:
Moses scheint in dem Moment dargestellt, da er die Verehrung des goldenen Kalbes erblickt und aufspringen will. Es lebt in seiner Gestalt die Vorbereitung zu einer gewaltigen Bewegung, wie man sie von der physischen Macht, mit der er ausgestattet ist, nur mit Zittern erwarten mag.
Beide, Freud und Burckhardt, wie konträr ihre Deutungen auch ausfallen, wenn der eine die gebremste, gleichsam abflauende Bewegung und der andere die sich vorbereitende Bewegung des Moses hervorhebt, beziehen sich auf ein und dieselbe Textstelle im Alten Testament, auf das 32. Kapitel des Buches Exodus, wo es heißt:
Der Herr sprach aber zu Moses: Gehe, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat’s verderbt...Als er aber nahe zum Lager kam und das Kalb und den Reigen sah, ergrimmte er mit Zorn und warf die Tafeln aus seiner Hand und zerbrach sie unten am Berge.
Die Frankfurter Freud-Forscherin Ilse Grubrich-Simitis hat sich Freuds Abhandlung neunzig Jahre nach ihrem Erscheinen noch einmal gründlich vorgenommen und sie sowohl aus kunsthistorischer als auch psychoanalytischer Perspektive durchleuchtet. Aus dieser doppelten Perspektivierung, die durch zahlreiche sorgsam reproduzierte Abbildungen ergänzt wird und in der Text und Bild in einen intimen Dialog treten, ist tatsächlich eine Art von "Collage" entstanden, wie es im Untertitel des schönen Buches heißt. Schön darf dieses Buch nicht nur seiner erlesenen äußeren Ausstattung wegen genannt werden, sondern auch, weil es beiden Kunstwerken ihr Recht lässt – sowohl der Moses-Plastik Michelangelos als auch dem Moses-Essay Freuds.
Als Kunstkenner und Kunsthistoriker war Freud gewiss eher ein Laie, weshalb er seinen Versuch auch vorsichtshalber als "Wagstück" apostrophierte. Immerhin war er, der sich sonst primär für den Inhalt von Kunstwerken interessierte, kunstwissenschaftlich so versiert, dass ihm die nach dem Arzt Giovanni Morelli benannte Methode, d.h. die Beachtung formaler Aspekte bei der Entschlüsselung von Kunstwerken, durchaus geläufig war. Grubrich-Simitis nutzt dieses Methodenbewusstsein Freuds, das nun allerdings in einem entscheidenden Punkt seines Moses-Essays gerade nicht zu Buche schlägt, zu einem Seitenhieb gegen die verbreitete Unsitte späterer psychoanalytischer Autoren, Kunstwerken in erster Linie psychopathographisch oder, schlimmer noch, mittels Gegenübertragungsreaktionen zu Leibe zu rücken. Ausnahmen wie Katherine Stroczan und Reimut Reiche, gleichermaßen mit der Psychoanalyse und der bildenden Kunst vertraut, haben überzeugend demonstriert, wieviel weiter man interpretatorisch kommt, wenn man sich allein auf die Formensprache des Kunstwerks einlässt.
So subtil und in sich stimmig Freuds Deutung der Moses-Statue auch sein mag, so sehr beruht sie doch auf einem fundamentalen Irrtum, dem auch Burckhardt unterlag. Während Freud etwa der Bewegung der rechten Hand des Moses, die in den herabwallenden Bart fährt, und auch einer Reihe anderer Details große Aufmerksamkeit schenkt, lässt er die auffälligen Höcker oder Hörner auf dem Kopf der Statue unbeachtet. Dieses Merkmal aber, das auch in anderen künstlerischen Moses-Darstellungen auftaucht, verweist eindeutig auf einen anderen biblischen Zusammenhang als auf den von Freud reklamierten. Wenn die Hörner auf dem Haupt des Moses ikonologisch die gleiche Bedeutung haben wie die Strahlen, die sich ebenfalls in einer Reihe von Moses-Darstellungen finden – und diese Übereinstimmung gilt heute als erwiesen –, dann verkörpert der Moses des Michelangelo jene Gestalt, die den zweiten Abstieg vom Sinai bewältigt. Der gehörnte bzw. strahlenbekränzte Moses ist der Mann, der dem Zeugnis von Exodus 34 zufolge "vierzig Tage und vierzig Nächte" bei Gott war und die zweiten Gesetzestafeln in Empfang nimmt. Durch diese Nähe zu Gott ist Moses buchstäblich "strahlend" geworden.
Diesen Befund verdanken wir im wesentlichen dem Kunsthistoriker Franz-Joachim Verspohl. Interessanterweise verweist Grubrich-Simitis zusätzlich auf zwei Schüler Freuds, Theodor Reik und Eva Rosenfeld, die schon vor Jahrzehnten die Bedeutung der Hörner erkannten, aber daraus ganz unterschiedliche Schlüsse zogen. Für Verspohl und Grubrich-Simitis ist jedenfalls klar, dass der gehörnte Moses des Michelangelo eine Gestalt zeige, die nach der Begegnung mit Gott als Prophet und Visionär vor das Volk Israel tritt, zugleich aber auch vom Schrecken der Ankündigung seines nahenden Todes gezeichnet ist. Letztlich, so diese Deutung, die eine hohe Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann, haben wir es bei Michelangelos gewaltiger Skulptur mit einem Moses zu tun, der, ganz im Gegensatz zu Freuds Deutung, von einer tragischen Vorahnung beseelt ist. Die Tragik des biblischen Moses ist bekanntlich, dass er das Gelobte Land zwar aus der Ferne schauen, aber nicht mehr betreten darf, wie es vom Deuteronomium überliefert wird.
Mag also Freud auch geirrt haben, so ist der, wie die Autorin schreibt, "kaum verhüllte projektive Charakter seiner Deutung" dennoch von großer innerer Stringenz und Schönheit. Die Gestalt des Moses, der Freud in seinen späten Jahren eine weitere – übrigens bis heute ebenso umstrittene – Abhandlung widmete, hat den Schöpfer der Psychoanalyse zeitlebens fasziniert. Gerade in Phasen innerer und äußerer Konflikte, etwa mit seinem Schüler C.G. Jung, schöpfte Freud aus seiner Moses-Projektion Kraft und Durchhaltevermögen. Um Grubrich-Simitis zu zitieren:
Unstreitig ist, dass Freud in Krisenzeiten bei der Figur des biblischen Helden...Stärkung gesucht und gefunden hat – beim Zerbrechen inspirierender Freundschaften, angesichts der Gefährdung von Körper und Lebenswerk, in Vorahnung heraufziehender, bislang unvorstellbarer kollektiver Vernichtungskatastrophen.
Man tritt der Autorin sicherlich nicht zu nahe, wenn man ihrer Sympathie für Freuds
Moses-Bild eine kaum verdeckte politische Absicht unterstellt. In der Gestalt des Moses identifizierte Freud eine personale und soziale Kraft, die fähig ist, dem Sog zur Auflösung der ödipalen Ordnung, der Rückkehr zur vorgesetzlichen Anarchie und zur Entsublimierung Einhalt zu gebieten. Im Blick auf die heutigen Verhältnisse spricht Grubrich-Simitis von einer sich beschleunigenden "kulturellen Regression" und setzt dagegen, sozusagen als leibhaftigen Protest, Freuds Moses:
Könnte es also sein, dass wir als Bürger der westlichen Zivilisation unsererseits...
weltlichen Halt suchen an Moses als einer Gesetzeswortlaut, ethischen Prinzipien und hochsublimierter 'Geistigkeit' unverbrüchlich verpflichteten Gestalt, als dem Repräsentanten einer Buchreligion mit ihrer Betonung von Intellektualität und Innen-
welt des Menschen?
Hans Martin Lohmann war das über Michelangelos Moses und Freuds 'Wagstück’ von Ilse Grubrich-Simitis. Erschienen ist das 132 Seiten starke Buch im S.Fischer Verlag und kostet 24.90 Euro.
So umstritten die Psychoanalyse als Heilverfahren heutzutage auch sein mag, so unbestritten ist der Rang, den Sigmund Freud in der geistigen Hierarchie des 20. Jahrhunderts einnimmt. Selbst ein Magazin wie der Spiegel, notorisch bekannt dafür, die praktizierenden Seelenärzte mit ätzendem Hohn zu überziehen, kam in seiner Bilanz des letzten Jahrhunderts nicht umhin, die epochale Rolle Freuds an zu erkennen:
Sigmund Freud, Schöpfer der Psychoanalyse, prägte das Jahrhundert wie kein anderer.
Interessanterweise verhält es tatsächlich so, dass es weniger die kurative Seite der Psychoanalyse ist, die auf lange Sicht reüssieren konnte, als vielmehr ihr kulturtheoretisches und -kritisches Potential. Freuds Schriften über den Ursprung der Kultur, über den Mord der Söhne am Urvater, über Totem und Tabu, Krieg und Tod, aber auch über Literatur und bildende Kunst bergen so brisanten intellektuellen Sprengstoff, dass die Diskussionen darüber bis heute andauern.
Zu den anregendsten Schriften aus Freuds Feder zählt gewiss die über den Moses des Michelangelo. Dieser kleine Text, 1914 in der Zeitschrift Imago anonym erschienen, ist nicht nur deshalb so faszinierend, weil er eine höchst eigenwillige und originelle Deutung der berühmten Moses-Plastik in der römischen Kirche San Pietro in Vincoli gibt. Sondern auch deshalb, weil er, überspitzt formuliert, beinahe mehr über ihren Autor preisgibt als über das von ihm bewunderte Kunstwerk Michelangelos. Dass Freud seine Schrift mit Bedacht anonymisierte, geschah wohl nicht zuletzt aus der Sorge, sie könne Einblicke in seine allerprivatesten Verhältnisse gestatten.
Freuds Deutung der Moses-Statue läuft einen, auf den finalen Punkt zu: Michelangelo habe den jüdischen Religionsstifter in dem Moment in Marmor gebannt, da dieser, vom Berg Sinai steigend, seines abtrünnigen Volkes ansichtig wird, das um das Goldene Kalb tanzt. In seinem ersten Zorn wolle Moses die Gesetzestafeln zertrümmern, besinne sich jedoch und halte in der destruktiven Bewegung inne, indem er seinen ursprünglichen Affekt zügele. Dies sei der Augenblick, den der Künstler habe festhalten wollen. Freud schreibt:
Damit hat er (Michelangelo) etwas Neues, Übermenschliches in die Figur des Moses gelegt, und die gewaltige Körpermasse und kraftstrotzende Muskulatur der Gestalt wird nur zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung, die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat.
Freud merkt ausdrücklich an, dass seine Interpretation des Moses von der biblischen Überlieferung abweiche, und schreibt damit diese Abweichung der künstlerischen Intention Michelangelos zu. Jacob Burckhardts klassische Deutung im Cicerone verhält sich dagegen durchaus bibelkonform, wenn er notiert:
Moses scheint in dem Moment dargestellt, da er die Verehrung des goldenen Kalbes erblickt und aufspringen will. Es lebt in seiner Gestalt die Vorbereitung zu einer gewaltigen Bewegung, wie man sie von der physischen Macht, mit der er ausgestattet ist, nur mit Zittern erwarten mag.
Beide, Freud und Burckhardt, wie konträr ihre Deutungen auch ausfallen, wenn der eine die gebremste, gleichsam abflauende Bewegung und der andere die sich vorbereitende Bewegung des Moses hervorhebt, beziehen sich auf ein und dieselbe Textstelle im Alten Testament, auf das 32. Kapitel des Buches Exodus, wo es heißt:
Der Herr sprach aber zu Moses: Gehe, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat’s verderbt...Als er aber nahe zum Lager kam und das Kalb und den Reigen sah, ergrimmte er mit Zorn und warf die Tafeln aus seiner Hand und zerbrach sie unten am Berge.
Die Frankfurter Freud-Forscherin Ilse Grubrich-Simitis hat sich Freuds Abhandlung neunzig Jahre nach ihrem Erscheinen noch einmal gründlich vorgenommen und sie sowohl aus kunsthistorischer als auch psychoanalytischer Perspektive durchleuchtet. Aus dieser doppelten Perspektivierung, die durch zahlreiche sorgsam reproduzierte Abbildungen ergänzt wird und in der Text und Bild in einen intimen Dialog treten, ist tatsächlich eine Art von "Collage" entstanden, wie es im Untertitel des schönen Buches heißt. Schön darf dieses Buch nicht nur seiner erlesenen äußeren Ausstattung wegen genannt werden, sondern auch, weil es beiden Kunstwerken ihr Recht lässt – sowohl der Moses-Plastik Michelangelos als auch dem Moses-Essay Freuds.
Als Kunstkenner und Kunsthistoriker war Freud gewiss eher ein Laie, weshalb er seinen Versuch auch vorsichtshalber als "Wagstück" apostrophierte. Immerhin war er, der sich sonst primär für den Inhalt von Kunstwerken interessierte, kunstwissenschaftlich so versiert, dass ihm die nach dem Arzt Giovanni Morelli benannte Methode, d.h. die Beachtung formaler Aspekte bei der Entschlüsselung von Kunstwerken, durchaus geläufig war. Grubrich-Simitis nutzt dieses Methodenbewusstsein Freuds, das nun allerdings in einem entscheidenden Punkt seines Moses-Essays gerade nicht zu Buche schlägt, zu einem Seitenhieb gegen die verbreitete Unsitte späterer psychoanalytischer Autoren, Kunstwerken in erster Linie psychopathographisch oder, schlimmer noch, mittels Gegenübertragungsreaktionen zu Leibe zu rücken. Ausnahmen wie Katherine Stroczan und Reimut Reiche, gleichermaßen mit der Psychoanalyse und der bildenden Kunst vertraut, haben überzeugend demonstriert, wieviel weiter man interpretatorisch kommt, wenn man sich allein auf die Formensprache des Kunstwerks einlässt.
So subtil und in sich stimmig Freuds Deutung der Moses-Statue auch sein mag, so sehr beruht sie doch auf einem fundamentalen Irrtum, dem auch Burckhardt unterlag. Während Freud etwa der Bewegung der rechten Hand des Moses, die in den herabwallenden Bart fährt, und auch einer Reihe anderer Details große Aufmerksamkeit schenkt, lässt er die auffälligen Höcker oder Hörner auf dem Kopf der Statue unbeachtet. Dieses Merkmal aber, das auch in anderen künstlerischen Moses-Darstellungen auftaucht, verweist eindeutig auf einen anderen biblischen Zusammenhang als auf den von Freud reklamierten. Wenn die Hörner auf dem Haupt des Moses ikonologisch die gleiche Bedeutung haben wie die Strahlen, die sich ebenfalls in einer Reihe von Moses-Darstellungen finden – und diese Übereinstimmung gilt heute als erwiesen –, dann verkörpert der Moses des Michelangelo jene Gestalt, die den zweiten Abstieg vom Sinai bewältigt. Der gehörnte bzw. strahlenbekränzte Moses ist der Mann, der dem Zeugnis von Exodus 34 zufolge "vierzig Tage und vierzig Nächte" bei Gott war und die zweiten Gesetzestafeln in Empfang nimmt. Durch diese Nähe zu Gott ist Moses buchstäblich "strahlend" geworden.
Diesen Befund verdanken wir im wesentlichen dem Kunsthistoriker Franz-Joachim Verspohl. Interessanterweise verweist Grubrich-Simitis zusätzlich auf zwei Schüler Freuds, Theodor Reik und Eva Rosenfeld, die schon vor Jahrzehnten die Bedeutung der Hörner erkannten, aber daraus ganz unterschiedliche Schlüsse zogen. Für Verspohl und Grubrich-Simitis ist jedenfalls klar, dass der gehörnte Moses des Michelangelo eine Gestalt zeige, die nach der Begegnung mit Gott als Prophet und Visionär vor das Volk Israel tritt, zugleich aber auch vom Schrecken der Ankündigung seines nahenden Todes gezeichnet ist. Letztlich, so diese Deutung, die eine hohe Plausibilität für sich in Anspruch nehmen kann, haben wir es bei Michelangelos gewaltiger Skulptur mit einem Moses zu tun, der, ganz im Gegensatz zu Freuds Deutung, von einer tragischen Vorahnung beseelt ist. Die Tragik des biblischen Moses ist bekanntlich, dass er das Gelobte Land zwar aus der Ferne schauen, aber nicht mehr betreten darf, wie es vom Deuteronomium überliefert wird.
Mag also Freud auch geirrt haben, so ist der, wie die Autorin schreibt, "kaum verhüllte projektive Charakter seiner Deutung" dennoch von großer innerer Stringenz und Schönheit. Die Gestalt des Moses, der Freud in seinen späten Jahren eine weitere – übrigens bis heute ebenso umstrittene – Abhandlung widmete, hat den Schöpfer der Psychoanalyse zeitlebens fasziniert. Gerade in Phasen innerer und äußerer Konflikte, etwa mit seinem Schüler C.G. Jung, schöpfte Freud aus seiner Moses-Projektion Kraft und Durchhaltevermögen. Um Grubrich-Simitis zu zitieren:
Unstreitig ist, dass Freud in Krisenzeiten bei der Figur des biblischen Helden...Stärkung gesucht und gefunden hat – beim Zerbrechen inspirierender Freundschaften, angesichts der Gefährdung von Körper und Lebenswerk, in Vorahnung heraufziehender, bislang unvorstellbarer kollektiver Vernichtungskatastrophen.
Man tritt der Autorin sicherlich nicht zu nahe, wenn man ihrer Sympathie für Freuds
Moses-Bild eine kaum verdeckte politische Absicht unterstellt. In der Gestalt des Moses identifizierte Freud eine personale und soziale Kraft, die fähig ist, dem Sog zur Auflösung der ödipalen Ordnung, der Rückkehr zur vorgesetzlichen Anarchie und zur Entsublimierung Einhalt zu gebieten. Im Blick auf die heutigen Verhältnisse spricht Grubrich-Simitis von einer sich beschleunigenden "kulturellen Regression" und setzt dagegen, sozusagen als leibhaftigen Protest, Freuds Moses:
Könnte es also sein, dass wir als Bürger der westlichen Zivilisation unsererseits...
weltlichen Halt suchen an Moses als einer Gesetzeswortlaut, ethischen Prinzipien und hochsublimierter 'Geistigkeit' unverbrüchlich verpflichteten Gestalt, als dem Repräsentanten einer Buchreligion mit ihrer Betonung von Intellektualität und Innen-
welt des Menschen?
Hans Martin Lohmann war das über Michelangelos Moses und Freuds 'Wagstück’ von Ilse Grubrich-Simitis. Erschienen ist das 132 Seiten starke Buch im S.Fischer Verlag und kostet 24.90 Euro.