- Getrocknete Ohren Gedichte mit Abbildungen von Anke Kirsch Grupello Verlag, 1996, 96 Seiten, Preis: 24,80 Mark
- Im Anfang war mein Wort Gedichte Grupello Verlag, 1998, 96 Seiten, Preis: 24,80 Mark
"Mein erstes Gedicht handelt von einem Vulkan. Ich hatte damals so ein Bild zuhause, und das hat mich fasziniert. Und das Gedicht, wenn man es jetzt übersetzt, heißt: Dort um die Ecke schlägt ein Vulkan/er ist stark und mächtig/er schlägt wie eine Fontäne aus Feuer/und gerinnt wie Siegellack. Ich habe tatsächlich gewußt, was Siegellack ist, weil wir eine kleine Statue hatten, aus Siegellack. Und da habe ich meine Eltern immer gefragt, was das ist, ich dachte, das sei Schokolade, und die sagten, das sei Sieggellack, das gerinnt, und ich wußte also auch, daß Sieggellack gerinnt."
Als Alexander Nitzberg sein erstes Gedicht schrieb, war er drei Jahre alt. Damals lebte er noch mit seinen Eltern in Moskau. Er wollte Maler werden, genau wie sein Vater. Die Familie Nitzberg führte einen Haushalt, wie er zur Ära Chruschtschow wohl eher ungewöhnlich war: "Meine Mutter war Schauspielern, und zwar, was auch nicht unbedeutend ist, Rezitatorin", erzählt Alexander Nitzberg. "Das gab es tatsächlich in Rußland, eine Unterteilung der Schauspielerei in einzelne Abteilungen, in Dramatische Kunst, in Puppenspielerei und Rezitation. Meine Mutter fing als Puppenspielerin an, sie hat dann als Rezitatorin weitergearbeitet. Und ihr Beruf war es tatsächlich, Gedichte auswendig zu lernen. Mein Vater war Maler und Bildhauer. Er hatte in Moskau ein Atelier, in einem großem Keller: Mit einem Freund in der Chruschtschow-Zeit haben die beiden einen Keller besetzt. Sie waren junge Burschen, und haben ein Schloß an die Tür gehängt. Dort haben sie gehaust und gearbeitet. Das war ein Riesenatelier. Das war die Boheme. Es bewegten sich dort ständig junge Maler und Kunststudenten und Dichterinnen und Musiker und einfach nur interessante Leute. Dort war permanent etwas los, zu jeder Tages- und Nachtzeit, da war das Leben."
Alexander Nitzberg ist dann doch Lyriker geworden. Bei seiner Mutter hat er erfahren, wie man Lyrik rezitiert, und bis heute ist ihm genauso wichtig, seine Gedichte zu sprechen, wie sie zu schreiben.
"Wenn ich ein Gedicht rezitiere, dann übertrage ich das sozusagen auf den Hörer. Es ist für meine Gedichte, glaube ich, lebensnotwendig. Ich vergleiche Dichtung gerne mit Medizin, die dann erst zur Medizin wird, wenn man sie einnimmt. Im Glas ist es nur irgendeine Flüssigkeit mit ein bißchen Gift drin. Ihre eigentliche Wirkung als Medizin entsteht erst dann, wenn man sie einnimmt, wenn man sie in sich hineinläßt.
"Ich bin ein ungeniertes Genie", so verkündet Nitzberg vom Umschlag seines ersten Gedichtbandes "Getrocknete Ohren". Es ist ein Topos der Lyrik, der Lyrik vergangener Jahrhunderte wohlgemerkt, daß ein Dichter sich quasi marktschreierisch an den Leser bringt. Heutzutage gilt das als unfein, aber immerhin war Nitzberg so die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewiß. Für "Getrocknete Ohren" bekam er 1996 den Ersten Düsseldorfer Lyrikpreis. Altmeister Peter Rühmkorf klopfte dem jungen Kollegen in der "Zeit" väterlich auf die Schulter: Nitzberg sei ein "Traditionalist der klassischen Moderne." Nun ist Nitzbergs zweiter Gedichtband, "Am Anfang war mein Wort", im Düsseldorfer Grupello Verlag erschienen.
An Nitzbergs Gedichten ist allerhand bemerkenswert. Er dichtet in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache ist. Als er mit seiner Familie nach Düsseldorf kam, war er zehn Jahre alt, und seither spricht er deutsch. Als wolle er keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß er seine zweite Sprache bis in den letzten Winkel gemeistert hat, hält Nitzberg sich an klassische Reim- und Metrikschemata. Er erweckt totgelobte Formen wie das Sonett zum Leben und führt mit seiner formbewußten Poetik einen Feldzug gegen dichterische Beliebigkeit. "Beethoven hat, bevor er seine neunte Sinfonie komponiert hat, jahrelang Musiktheorie gelernt und hat jahrelang Tonleitern rauf und runter gespielt. Wenn ein Pianist Klavier spielt, muß er das auch tun. Wenn Sie jetzt Japanisch lernen wollen, müssen Sie zuerst das ABC lernen, und die einfachsten Formen der Grammatik. Man glaubt aus irgendeinem Grunde, das hätte man als Künstler nicht mehr nötig. Man geht irgendwie davon aus, daß Sprechen ja jeder kann, und das reicht, um Gedichte zu schreiben. Und ich behaupte, das reicht nicht, weil Gedichte schreiben eine Kunst ist, die genauso erlernt sein will wie jede andere Kunst."
Natürlich hat Nitzberg die Kollegenschelte auch in Reime gefaßt: "Die sagen: Reim dich, oder ich freß’ dich! / das sei unser Gedicht? / ich weiß: Reime sind lästig: / Heute reimen sogar die Verliebten nicht: / Wie eine Börsenzeitung: grau und prosaisch im Keim. / Doch selbst in der Gebrauchsanleitung/ findet sich manchmal ein winziger Reim. . ./ (...) Die Zeitgenossen! Ein Ärger! : / Sind weder Fleisch noch Fisch: Jürgen Becker, Durs Grünbein, Enzensberger: / Welch monotones Gemisch! Robert Gernhardt! Auch früher schon witzig gewesen - / immer noch in Betrieb: immer noch Paulus, Jerokesen / und was jener an jene schrieb! / Der Dichtung öde Sahara / bestattet Skelett auf Skelett / Aber Hilde Domin? Aber Kirsch, die Sarah? / - Nun ja ... nicht übel ... ganz nett ..."
Da wundert man sich nicht, daß der junge Dichter neben sich gerade mal Heinrich Heine gelten läßt. Anders als sein Düsseldorfer Vorbild ist Nitzberg aber kein politischer Dichter. Er schreibt über Zufallsbegegnungen und Alltagsszenen, er verfaßt Nonsensverse, Spottgedichte, Hymnen und Sonette. Sein Themenkanon reicht von einem Regenschirm über eine Nonnenprozession bis zur Weltwerdung. Dabei erinnern sein parlierender Tonfall und seine überraschenden Pointen an Lyriker wie Christian Morgenstern, Jakob van Hoddis oder Erich Kästner. Andererseits zählt Nitzberg Georg Trakl und Gottfried Benn zu seinen Vorbildern, und mit ihnen teilt er die Dichte und die Schockwirkung mancher Metaphern. Besonders auffällig ist das dann, wenn Nitzberg sich den Bewegungen der Straße annimmt. Denn er ist vor allem eines: ein Stadtlyriker.
Im deutschen Expressionsmus stellte man sich so das Monster der Großstadt vor. Heute wird sich kaum noch ein Leser wegen einer Straßenbahn erschrecken. Und doch ist bei diesem Gedicht bemerkenswert, wie nahe Nitzberg in Ton und Haltung an den Expressionismus herangerückt ist. Eine ähnliche Bewegung gab es auch in der russischen Lyrik, und von beiden Schulen übernimmt Nitzberg das, was er in der deutschen Gegenwartsdichtung so vermißt: den Willen zur Form. "Ich beschäftige mich auch schon seit Jahren sehr intensiv mit der russischen Lyrik, vor allem mit der russischen Lyrik des sogenannten Silbernen Jahrhunderts. Das entspricht etwa dem deutschen Expressionismus von der Zeit her, also der Lyrik des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts, und parallel dazu auch sehr intensiv mit dem deutschen Expressionismus. Das sind Bewegungen, die mir beide sehr nahe sind, weil in dieser Zeit, am Jahrhundertbeginn, hat man sich eben als Avantgarde verstanden. Und das bedeutet ja eigentlich nur, daß man sich besonders intensiv mit Gestaltungsfragen auseinandergesetzt hat. Mit reinen Gestaltungsfragen. Das heißt, man fragt sich nicht, was sage ich, sondern wie sage ich es."
Der 28jährige Dichter hat sich auch als Übersetzer einen Namen gemacht. In seinem Hausverlag, dem kleinen Düsseldorfer Grupello-Verlag, hat er mit einer Reihe namens "Chamäleon" begonnen. Er will hierzulande unbekannte oder nach seiner Meinung mangelhaft übersetzte russische Dichter einem deutschen Publikum vorzustellen: "Wenn ich Deutschen etwas auf Russisch vorlese, dann empfinden sie das als sehr schön. Sie empfinden, es ist eine sehr weiche, eine sehr angenehm klingende Sprache. Und das gibt auch viele Möglichkeiten, darin zu dichten. Es ist eine Sprache, die sehr viele Klänge und Laute hat, eine sehr komplizierte Grammatik, die natürlich auch eine gewisse Präzision erlaubt. Und sie hat natürlich auch solche Möglichkeiten, etwas verschleiert auszudrücken. Es gibt im Russischen zum Beispiel auch eine ganz hohe Sprachebene, die es auf deutsch so kaum noch gibt, eine Sprache, die gefüllt ist mit Archaismen, die man im Alltag so gar nicht mehr benutzt. Das sind biblische Ausdrücke, die aber die Möglichkeit erlauben, eine ganz andere Sprachebene, einen ganz hohen Stil anzuschlagen."
Manchmal bemerkt man Wechselwirkungen zwischen Nitzbergs Übersetzungen und seinen Dichtungen. So mag das Gedicht "Eros" von den erotischen Sonetten des Abram Efros beeinflußt sein, die Nitzberg erstmals ins Deutsche übertragen hat. Zum erstenmal hat er auch Gedichte von Oleg Grigorjew, Igor Sewerjanin und Michail Senkewitsch übersetzt. All diese Autoren sind in Rußland sehr bekannt. Sie starben in unserem Jahrhundert, und sie haben die dichterischen Strömungen der russischen Moderne, etwa den Symbolismus und den Existenzialismus mit geprägt. Nitzberg führt ihre Ideen fort, auch wenn er selbst keine Gedichte mehr auf russisch schreibt. "Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der russischen und der deutschen Lyrik ist eben diese Art von Pathos, die es in der russischen Dichtung gibt, die aber dort oft gar nicht so empfunden wird, und diese Art von Pathos erlaubt einfach eine viel größere Direktheit, eine viel größere Unmittelbarkeit. Es wird ganz oft am Himmel gerüttelt, auch viele Dichter, die hier in Deutschland bekannt sind, tun das. Und das ist etwas, was man im Deutschen so nicht mehr machen kann, heutzutage. Das ist auch ganz gut so."
Trotzdem: Es findet sich einiges von dem russischen Pathos wieder in Nitzbergs Gedichten. Manchmal taucht es in seinen apokalyptischen Visionen auf, manchmal dann, wenn er sich selbst als dichterischen Weltschöpfer, als Demiurg darstellt. Es gehört dabei zu Nitzbergs Stil, daß man nie ganz genau weiß, ob er sich selbst zu ernst nimmt, oder ob er sich veralbert.
- Im Anfang war mein Wort Gedichte Grupello Verlag, 1998, 96 Seiten, Preis: 24,80 Mark
"Mein erstes Gedicht handelt von einem Vulkan. Ich hatte damals so ein Bild zuhause, und das hat mich fasziniert. Und das Gedicht, wenn man es jetzt übersetzt, heißt: Dort um die Ecke schlägt ein Vulkan/er ist stark und mächtig/er schlägt wie eine Fontäne aus Feuer/und gerinnt wie Siegellack. Ich habe tatsächlich gewußt, was Siegellack ist, weil wir eine kleine Statue hatten, aus Siegellack. Und da habe ich meine Eltern immer gefragt, was das ist, ich dachte, das sei Schokolade, und die sagten, das sei Sieggellack, das gerinnt, und ich wußte also auch, daß Sieggellack gerinnt."
Als Alexander Nitzberg sein erstes Gedicht schrieb, war er drei Jahre alt. Damals lebte er noch mit seinen Eltern in Moskau. Er wollte Maler werden, genau wie sein Vater. Die Familie Nitzberg führte einen Haushalt, wie er zur Ära Chruschtschow wohl eher ungewöhnlich war: "Meine Mutter war Schauspielern, und zwar, was auch nicht unbedeutend ist, Rezitatorin", erzählt Alexander Nitzberg. "Das gab es tatsächlich in Rußland, eine Unterteilung der Schauspielerei in einzelne Abteilungen, in Dramatische Kunst, in Puppenspielerei und Rezitation. Meine Mutter fing als Puppenspielerin an, sie hat dann als Rezitatorin weitergearbeitet. Und ihr Beruf war es tatsächlich, Gedichte auswendig zu lernen. Mein Vater war Maler und Bildhauer. Er hatte in Moskau ein Atelier, in einem großem Keller: Mit einem Freund in der Chruschtschow-Zeit haben die beiden einen Keller besetzt. Sie waren junge Burschen, und haben ein Schloß an die Tür gehängt. Dort haben sie gehaust und gearbeitet. Das war ein Riesenatelier. Das war die Boheme. Es bewegten sich dort ständig junge Maler und Kunststudenten und Dichterinnen und Musiker und einfach nur interessante Leute. Dort war permanent etwas los, zu jeder Tages- und Nachtzeit, da war das Leben."
Alexander Nitzberg ist dann doch Lyriker geworden. Bei seiner Mutter hat er erfahren, wie man Lyrik rezitiert, und bis heute ist ihm genauso wichtig, seine Gedichte zu sprechen, wie sie zu schreiben.
"Wenn ich ein Gedicht rezitiere, dann übertrage ich das sozusagen auf den Hörer. Es ist für meine Gedichte, glaube ich, lebensnotwendig. Ich vergleiche Dichtung gerne mit Medizin, die dann erst zur Medizin wird, wenn man sie einnimmt. Im Glas ist es nur irgendeine Flüssigkeit mit ein bißchen Gift drin. Ihre eigentliche Wirkung als Medizin entsteht erst dann, wenn man sie einnimmt, wenn man sie in sich hineinläßt.
"Ich bin ein ungeniertes Genie", so verkündet Nitzberg vom Umschlag seines ersten Gedichtbandes "Getrocknete Ohren". Es ist ein Topos der Lyrik, der Lyrik vergangener Jahrhunderte wohlgemerkt, daß ein Dichter sich quasi marktschreierisch an den Leser bringt. Heutzutage gilt das als unfein, aber immerhin war Nitzberg so die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewiß. Für "Getrocknete Ohren" bekam er 1996 den Ersten Düsseldorfer Lyrikpreis. Altmeister Peter Rühmkorf klopfte dem jungen Kollegen in der "Zeit" väterlich auf die Schulter: Nitzberg sei ein "Traditionalist der klassischen Moderne." Nun ist Nitzbergs zweiter Gedichtband, "Am Anfang war mein Wort", im Düsseldorfer Grupello Verlag erschienen.
An Nitzbergs Gedichten ist allerhand bemerkenswert. Er dichtet in einer Sprache, die nicht seine Muttersprache ist. Als er mit seiner Familie nach Düsseldorf kam, war er zehn Jahre alt, und seither spricht er deutsch. Als wolle er keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß er seine zweite Sprache bis in den letzten Winkel gemeistert hat, hält Nitzberg sich an klassische Reim- und Metrikschemata. Er erweckt totgelobte Formen wie das Sonett zum Leben und führt mit seiner formbewußten Poetik einen Feldzug gegen dichterische Beliebigkeit. "Beethoven hat, bevor er seine neunte Sinfonie komponiert hat, jahrelang Musiktheorie gelernt und hat jahrelang Tonleitern rauf und runter gespielt. Wenn ein Pianist Klavier spielt, muß er das auch tun. Wenn Sie jetzt Japanisch lernen wollen, müssen Sie zuerst das ABC lernen, und die einfachsten Formen der Grammatik. Man glaubt aus irgendeinem Grunde, das hätte man als Künstler nicht mehr nötig. Man geht irgendwie davon aus, daß Sprechen ja jeder kann, und das reicht, um Gedichte zu schreiben. Und ich behaupte, das reicht nicht, weil Gedichte schreiben eine Kunst ist, die genauso erlernt sein will wie jede andere Kunst."
Natürlich hat Nitzberg die Kollegenschelte auch in Reime gefaßt: "Die sagen: Reim dich, oder ich freß’ dich! / das sei unser Gedicht? / ich weiß: Reime sind lästig: / Heute reimen sogar die Verliebten nicht: / Wie eine Börsenzeitung: grau und prosaisch im Keim. / Doch selbst in der Gebrauchsanleitung/ findet sich manchmal ein winziger Reim. . ./ (...) Die Zeitgenossen! Ein Ärger! : / Sind weder Fleisch noch Fisch: Jürgen Becker, Durs Grünbein, Enzensberger: / Welch monotones Gemisch! Robert Gernhardt! Auch früher schon witzig gewesen - / immer noch in Betrieb: immer noch Paulus, Jerokesen / und was jener an jene schrieb! / Der Dichtung öde Sahara / bestattet Skelett auf Skelett / Aber Hilde Domin? Aber Kirsch, die Sarah? / - Nun ja ... nicht übel ... ganz nett ..."
Da wundert man sich nicht, daß der junge Dichter neben sich gerade mal Heinrich Heine gelten läßt. Anders als sein Düsseldorfer Vorbild ist Nitzberg aber kein politischer Dichter. Er schreibt über Zufallsbegegnungen und Alltagsszenen, er verfaßt Nonsensverse, Spottgedichte, Hymnen und Sonette. Sein Themenkanon reicht von einem Regenschirm über eine Nonnenprozession bis zur Weltwerdung. Dabei erinnern sein parlierender Tonfall und seine überraschenden Pointen an Lyriker wie Christian Morgenstern, Jakob van Hoddis oder Erich Kästner. Andererseits zählt Nitzberg Georg Trakl und Gottfried Benn zu seinen Vorbildern, und mit ihnen teilt er die Dichte und die Schockwirkung mancher Metaphern. Besonders auffällig ist das dann, wenn Nitzberg sich den Bewegungen der Straße annimmt. Denn er ist vor allem eines: ein Stadtlyriker.
Im deutschen Expressionsmus stellte man sich so das Monster der Großstadt vor. Heute wird sich kaum noch ein Leser wegen einer Straßenbahn erschrecken. Und doch ist bei diesem Gedicht bemerkenswert, wie nahe Nitzberg in Ton und Haltung an den Expressionismus herangerückt ist. Eine ähnliche Bewegung gab es auch in der russischen Lyrik, und von beiden Schulen übernimmt Nitzberg das, was er in der deutschen Gegenwartsdichtung so vermißt: den Willen zur Form. "Ich beschäftige mich auch schon seit Jahren sehr intensiv mit der russischen Lyrik, vor allem mit der russischen Lyrik des sogenannten Silbernen Jahrhunderts. Das entspricht etwa dem deutschen Expressionismus von der Zeit her, also der Lyrik des beginnenden Zwanzigsten Jahrhunderts, und parallel dazu auch sehr intensiv mit dem deutschen Expressionismus. Das sind Bewegungen, die mir beide sehr nahe sind, weil in dieser Zeit, am Jahrhundertbeginn, hat man sich eben als Avantgarde verstanden. Und das bedeutet ja eigentlich nur, daß man sich besonders intensiv mit Gestaltungsfragen auseinandergesetzt hat. Mit reinen Gestaltungsfragen. Das heißt, man fragt sich nicht, was sage ich, sondern wie sage ich es."
Der 28jährige Dichter hat sich auch als Übersetzer einen Namen gemacht. In seinem Hausverlag, dem kleinen Düsseldorfer Grupello-Verlag, hat er mit einer Reihe namens "Chamäleon" begonnen. Er will hierzulande unbekannte oder nach seiner Meinung mangelhaft übersetzte russische Dichter einem deutschen Publikum vorzustellen: "Wenn ich Deutschen etwas auf Russisch vorlese, dann empfinden sie das als sehr schön. Sie empfinden, es ist eine sehr weiche, eine sehr angenehm klingende Sprache. Und das gibt auch viele Möglichkeiten, darin zu dichten. Es ist eine Sprache, die sehr viele Klänge und Laute hat, eine sehr komplizierte Grammatik, die natürlich auch eine gewisse Präzision erlaubt. Und sie hat natürlich auch solche Möglichkeiten, etwas verschleiert auszudrücken. Es gibt im Russischen zum Beispiel auch eine ganz hohe Sprachebene, die es auf deutsch so kaum noch gibt, eine Sprache, die gefüllt ist mit Archaismen, die man im Alltag so gar nicht mehr benutzt. Das sind biblische Ausdrücke, die aber die Möglichkeit erlauben, eine ganz andere Sprachebene, einen ganz hohen Stil anzuschlagen."
Manchmal bemerkt man Wechselwirkungen zwischen Nitzbergs Übersetzungen und seinen Dichtungen. So mag das Gedicht "Eros" von den erotischen Sonetten des Abram Efros beeinflußt sein, die Nitzberg erstmals ins Deutsche übertragen hat. Zum erstenmal hat er auch Gedichte von Oleg Grigorjew, Igor Sewerjanin und Michail Senkewitsch übersetzt. All diese Autoren sind in Rußland sehr bekannt. Sie starben in unserem Jahrhundert, und sie haben die dichterischen Strömungen der russischen Moderne, etwa den Symbolismus und den Existenzialismus mit geprägt. Nitzberg führt ihre Ideen fort, auch wenn er selbst keine Gedichte mehr auf russisch schreibt. "Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der russischen und der deutschen Lyrik ist eben diese Art von Pathos, die es in der russischen Dichtung gibt, die aber dort oft gar nicht so empfunden wird, und diese Art von Pathos erlaubt einfach eine viel größere Direktheit, eine viel größere Unmittelbarkeit. Es wird ganz oft am Himmel gerüttelt, auch viele Dichter, die hier in Deutschland bekannt sind, tun das. Und das ist etwas, was man im Deutschen so nicht mehr machen kann, heutzutage. Das ist auch ganz gut so."
Trotzdem: Es findet sich einiges von dem russischen Pathos wieder in Nitzbergs Gedichten. Manchmal taucht es in seinen apokalyptischen Visionen auf, manchmal dann, wenn er sich selbst als dichterischen Weltschöpfer, als Demiurg darstellt. Es gehört dabei zu Nitzbergs Stil, daß man nie ganz genau weiß, ob er sich selbst zu ernst nimmt, oder ob er sich veralbert.