Die wenigen theoretischen Auseinandersetzung deutscher Autoren mit dem Thema Comic kranken daran, daß ihnen der Raum für einen wirklich systematischen Überblick fehlt und daß sie oft nicht die neuesten, avanciertesten Entwicklungen berücksichtigen. Andreas Platthaus hat diese Nöte zu den Tugenden seines Textes gemacht, hat statt einer chronologischen Geschichte eine Sammlung von Essays über seine Lieblingscomics verfaßt. Darin vereint finden sich unter anderem George Herrimans "Krazy Kat" und Bill Wattersons "Calvin und Hobbes", Carl Barks "Donald Duck", Art Spiegelmans "Maus" und der Barbarossaleuchter des Aachener Domes. Jeder dieser Essays läßt sich separat lesen, steht wie ein einzelnes Bild in einem Comic. Bald entdeckt der Leser jedoch die Bewegungslinien, ergänzt die Lücken zwischen den Bildern, sieht zum Beispiel welche Entwicklungen Techniken wie die Linienführung oder das Inken, das heißt die Farbgebung im Comic genommen haben. Besonders beeindruckt dabei Platthaus' genauer Blick für die Struktur der Comicbilder, ihr Zusammenspiel mit dem Text, die Architektur ganzer Seiten, die dramaturgischen Mittel der Bildgeschichte. Diese Beobachtungskunst erlernt hat Platthaus in Entenhausen, in der Schule Donald Ducks. Er ist sogar Ehrenpräsidente der deutschen Organisation nichtkommerzieller Anhänger des lauteren Donaldismus. "Deren Prinzip ist, daß sie nicht den Comic als Medium betrachten, sondern als Denkmodell davon ausgehen, daß Entenhausen tatsächlich existiert", so Platthaus. "Dann muß man aufgrund von 6000, 7000 Seiten, die wir als kanonisch anerkennen, Aussagen über Entenhausen machen. Und das geht natürlich bei einem so sehr eingeschränkten Zeitraum der Berichterstattung und einer sehr beschränkten Seitenzahl nur, wenn man sehr exakt hinsieht, was dort passiert. Wenn ich über physikalische Gegebenheiten in Entenhausen schreiben will, dann werde ich keine einzige Geschichte finden, wo das tatsächlich zum Thema gemacht wird, wo dann zum Beispiel ein Forschungsinstitut gezeigt würde, das irgendwelche Theorien über das Wetter in Entenhausen von sich gibt, sondern da muß ich einfach beobachten, was auf diesen Bildern passiert. Und da ist jedes noch so kleine Detail natürlich aussagekräftig."
Bei aller Begeisterung für seinen Gegenstand ist Platthaus jedoch keineswegs unkritisch gegenüber Tendenzen, die den Kommerz allzu hoch über den künstlerischen Anspruch stellen, wie dies etwa Carl Barks tut, der in den 90er Jahren statt Comics nur mehr teure Ölgemälde von Donald Duck produziert. Auch andere negative Aspekte wie Gewaltverherrlichung und ideologische Intentionen der Comicautoren kommen zur Sprache, doch werden sie nicht dramatisiert, so wie Platthaus andererseits auch keine flammende Verteidigungsschrift einer geringgeschätzten Gattung vorgelegt hat. In dem durchweg sachlichen Text gibt es jedoch ein suggestives Moment: Häufig wird in Nebensätzen erwähnt, daß etwa Jack Kerouac und E.E. Cummings "Krazy Kat" lasen, auch James Joyce sich die neusten Episoden von Gertrude Stein erzählen ließ, oder daß Fellinis Lieblingscomic "Mandrake" war. Platthaus will diese Episoden jedoch nicht als subtile Rechtfertigung mittels Namedropping verstanden wissen: " Was ich damit zeigen wollte, ist einfach die Position des Comics in einem ganzen Verbund von verschiedenen Praktiken, die ermöglichen zu erzählen: sei es Kino, sei es Roman, sei es die Bildersprache von großen Malern. Und daß es immer wieder große Leute gab, profilierte Vertreter ihres Faches, die gerade im Comic Inspiration gefunden haben, und wo ich glaube, daß sich Entwicklungslinien aufzeigen lassen, die dann auch wieder nahelegen, daß der Comic eben nicht nur durch alle möglichen Kunstarten befruchtet worden ist, was zweifellos stimmt, sondern daß er auch ein wenig dazu hat beitragen können, wie sich die Kunst in diesem Jahrhundert entwickelt hat."
So wird "Im Comic vereint" zu einem großangelegten kulturhistorischen Essay, voller geistreicher Exkurse über Arno Schmidt, Höhlenmalerei und Zeitungspolitik, in dem ganz nebenbei noch ein paar Mythen der Comicgeschichte entzaubert werden, etwa daß die Superman-Erfinder nie am finanziellen Erfolg der Serie beteiligt wurden, oder daß "The Yellow Kid" der erste Comic gewesen ist, sich die Geburt des Mediums demnach auf 1896 datieren ließe. Seine zahlreichen neuen, grundsätzlichen Erkenntnisse und Thesen, etwa daß mit der Begrenzungslinie des Comics das Phänomen Zeit in die Kunst gekommen ist, breitet der Text beiläufig aus, prunkt damit nicht. Dabei gäbe es allen Anlaß dazu, denn Platthaus hat zum Beispiel die eindrucksvolle Entdeckung gemacht, daß eine Bildfolge am im 12. Jahrhundert entstandenen Barbarossa-Leuchter des Aachener Domes sich einer Art des zyklischen Erzählens bedient, die im Mittelalter nicht weiter rezipiert wurde, die aber schon auf den Comic vorausweist.
Dargestellt ist in dieser Bildfolge die Lebensgeschichte von Jesus Christus, der in den einzelnen Bildern Tafeln mit Sätzen aus der Bergpredigt in Händen hält. " Es war klar kodifiziert im Mittelalter, welche Sprüche aus der Bergpredigt man zitieren konnte, in diesem Fall war das eben die Seeligpreisung", erläutert Platthasu. Aber das Ganze geht darüber hinaus noch einen Dialog ein mit den andern acht Tafeln, mit den Lebenserzählungen von Jesus Christus, und zwar insofern, als die Zitate aus der Bergpredigt Bezug nehmen auf die jeweils folgende Szene aus dem Leben Christi. Und um diesen Bezug herzustellen, so ist meine Theorie, wurde bewußt von einer Chronologie Abstand genommen. Man hat das Leben wild durcheinandergewürfelt, die Geburt kommt beispielsweise erst nach Szenen, die aus dem späteren Leben von Jesus überliefert sind. Aber das alles gibt ein perfektes Bild, wenn man es textlich und bildlich zusammensetzt, und das ist genau das, was die Faszination des Comics ausmacht." Die Faszination des Comics zu vermitteln, ist Andreas Platthaus nachdrücklich gelungen. Immer wieder verspürt man den Wunsch, aufzuspringen und - von Fall zu Fall - zum Kiosk zu rennen oder zur Buchhandlung zu spazieren, um den besprochenen Comic zu kaufen. Daß man dann doch sitzenbleibt, liegt keineswegs daran, daß das Buch seinem Gegenstand, dem Comic, letztlich überlegen wäre, sondern weil hier endlich jemand auf einem Niveau schreibt, das den anspruchsvollen Arbeiten dieser Kunstform gerecht wird. Ein Niveau, das sich zukünftige Publikationen über den Comic zum Vorbild nehmen sollten, getreu dem klassischen Comicende "Fortsetzung folgt..."
Link: Interview mit der Donald-Duck-Übersetzerin Erika Fuchs