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Im Dickens-Rausch

Alle Jahre wieder verfällt die holländische Stadt Deventer ins Charles-Dickens-Fieber. Dann wird dem englischen Romancier mit einem Festival gewürdigt und der Ort verwandelt sich ins viktorianische England des 19. Jahrhunderts.

Von Nicole de Bock |
    Ein Jugend-Mädchenchor in Deventer probt noch mal eifrig seine Lieder. Alle Jahre wieder kurz vor Weihnachten ist die Stadt Deventer im Dickens-Fieber! Es werden Kostüme anprobiert, Texte gepaukt und Tannenbäume aufgestellt. Schon zum 19. Mal wird hier zu Ehren des englischen Schriftstellers Charles Dickens ein Festival organisiert. Schauplatz des sogenannten Dickens Festijn ist das historische Bergviertel der Stadt.

    "Es heißt Bergviertel, weil es an einem Berge gebaut worden ist. Diese Berg ist eine Flussdüne, so eigentlich ist es einen natürlichen Hügel."

    Marianne Oggel, Stadtführerin in Deventer. Das Bergviertel war schon im Mittelalter ein lebendiges Handelszentrum. Die Kaufmannshäuser und Handwerkerhäuser, die hier ab etwa 1300 in Ziegelstein gebaut worden sind, wurden fast alle restauriert. Die Walstraße läuft auch heute noch parallel an der inzwischen verschwundenen Stadtmauer.

    "Im Mittelalter war es die Straße , wo die einfachen Handwerksleute gelebt haben. Diesen Charakter hat diese Straße immer durch die Jahrhunderte hin behalten. Heute ist es noch immer eine Straße, wo man kleine Geschäfte hat, kleine Läden, Antikwiederherstellungsgeschäfte, Kunstgalerien, Buchhändler haben wir hier. Früher hat man hier auch Lagerhäuser gehabt, das kann man sehen an diesen Mechaniken, wenn man hoch schaut. Ja, es hat immer noch eine aktive Atmosphäre."

    Der mittelalterliche Kern von Deventer, mit seinem noch originalen Straßenmuster, seinen romantischen Straßenlaternen und so mancher Fassade im Stil des 19. Jahrhunderts, ist eine ideale Kulisse um die Geschichten aus den Büchern von Charles Dickens wieder lebendig werden zu lassen. Zahllose Chöre bringen die Stadt mit ihren traditionellen englischen "Christmas songs" so richtig in Stimmung.

    Emmy Strik ist Initiatorin des Projekts, das jedes Jahr 100.000 Besucher in die ehemalige Hansestadt lockt!

    "Ich bin auf die Idee gekommen, weil ich England und die Art wie dort Weihnachten gefeiert wird, so toll finde. Und diese Straße, die Walstraße, wo alles angefangen hat, sieht echt aus wie eine Straße aus einem Dickens-Buch. Das war der Auslöser."

    Hauptattraktion des Festivals sind die Straßentheater, die Szenen aus Dickens berühmten Geschichten darstellen. Mehr als 900 Kostümierte und auch Berufsschauspieler lassen das viktorianische England des 19. Jahrhunderts aufleben. Oliver Twist und die Waisenkinder, die männerhassende Miss Havisham aus "Große Erwartungen" oder Nicholas Nickleby aus dem gleichnamigen Roman. Man kann ihnen allen im historischen "Bergquartier" in Deventer begegnen. Emmy Strik:

    "Ich finde es sehr wichtig, dass die Schauspieler im Straßentheater genau so handeln wie in den Büchern. David Copperfield läuft zum Beispiel herum mit seiner ersten Frau Dora. Es passierte Mal, dass Dora anfing zu flirten mit anderen Jungen. Dann kann ich richtig böse werden, weil das hätte die Dora nie gemacht. Ich möchte, dass die Schauspieler sich an die Bücher halten!"

    Einer der sich schon viele Jahre an die Bücher hält, ist der geldgierige Scrooge aus "Ein Weihnachtslied in Prosa". In Dickens Erzählung wird Scrooge, der seine Mitmenschen rücksichtslos ausbeutet, an Heiligabend von Geistern heimgesucht und geplagt bis er sein Leben grundlegend ändert und zum Wohltäter wird.

    ""Ochgrrr... Humbug, Humbug finde ich es! Ich mag Weihnachten nicht, weil die Leute immer zu viel Geld spendieren mit Weihnachten. Die sollten sparen. Aber das machen die nicht, die kaufen allerhand Dinge, die nutzlos sind. Man kauft Kerzen und die stellt man vor dem Fenster. Warum dann? Für die Gemütlichkeit sagt man immer. Was ist denn Gemütlichkeit? Gemütlichkeit ist nur, wenn man da sitzt am Weihnachtsabend und die Münzen, die man in Kisten hält, dass man die zählt. Und das was man hört, das Klingeln von den Münzen, das ist das Herrlichste was es gibt auf der Welt, so denke ich darüber."

    Nicht nur in der berühmtesten Geschichte des Romanciers wird die Gesellschaftskritik deutlich. Dickens prangert die sozialen Missstände, die er am eigenen Leibe in seiner Kindheit erlebt hat an und bricht eine Lanze für die kleinen Leute und die Sonderlinge. In Deventer nimmt man es ganz genau mit der Inszenierung seiner Texte.

    Emmy Strik lässt zwei junge Mädchen in ihre viktorianischen Kostüme schlüpfen und prüft mit Argusaugen ob auch alles richtig sitzt. Dann zeigt sie stolz eines ihrer besten Stücke:

    "Dieses Kleid hier: Es ist für ein Theaterstück gemacht worden, so richtig authentisch, wie es früher war, mit einem großen Reifen. Die Figur ist zwei Meter breit auf der Straße. Es ist Dora aus David Copperfield. Sie läuft mit David Hand in Hand. Zusammen sind sie vier Meter breit. Jeder macht dann Platz. Echt fantastisch! 'Is echt fantastisch!'"

    Ganz erstaunlich ist es, dass sogar private Wohnzimmer umdekoriert werden und die Bewohner selbst in Dickens-Tracht herumlaufen. Jeder macht mit. Der gute Geist der Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft hat kurz vor Weihnachten Deventer fest im Griff. Ganz im Sinne des Charles Dickens!

    "Emmy Strik, die hat uns alle angesteckt. Es ist ein fantastisch geselliges Fest. In diesem Viertel arbeiten wir jetzt alle zusammen, beim Dekorieren der Straßen zum Beispiel. Dickens hat uns alle ein wenig verrückt gemacht!"

    Die Kirche des Bergviertels wurde 1209 in Naturstein am höchsten Punkt des Viertels errichtet und wird heute als Ausstellungsraum benutzt. Natürlich beherbergt sie während dem Dickens-Festijn eine Dickens-Ausstellung, die extra vom Dickensmuseum in London organisiert wird. Kuriosa aus Dickens' Zeit, Originalausgaben seiner Bücher mit üppigen Illustrationen, ja sogar eine Haarlocke vom Schriftsteller kann man hier bewundern. Hier treffen sich auch alle Chöre des Festivals für ein "singalong" mit den Bürgern der dickenssüchtigen Stadt!