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Im Dickicht der Psychiatrie

Vor allem eine glänzende Deutung von Rossinis Oper "Sigismondo" begeisterte beim 31. Festival von Pesaro. Regisseur Damiano Michieletto verlegte die Handlung in die Zeit der ersten italienischen Republik.

Von Frieder Reininghaus |
    "Rossinis Bayreuth", das 31. Festival in Pesaro, ließ sich glänzend an. Damiano Michieletto ist mit seiner Interpretation des an Weihnachten 1814 im Teatro La Fenice erstmals gezeigten "Sigismondo" ein Wurf gelungen: Er hat den Eifersuchts- und Thronfolge-Konflikt aus dem historisch nicht genau zu verortenden Gesna und den mittelalterlichen Wäldern an der polnisch-böhmischen Grenze in die Zeit der ersten Republik und eine psychiatrische Anstalt verschoben.

    Giuseppe Maria Foppas Libretto erweist sich, bei Lichte besehen, als nichts anderes denn als Variante der altbekannten und vielfach literarisch bearbeiteten Fabel der Brabanter Herzogstochter Genoveva, die mit dem Pfalzgrafen Siegfried verheiratet, unzutreffend des Ehebruchs bezichtigt und zur Strafe im tiefsten Tann ausgesetzt, dann aber von ihrem wieder auf Jagd gehenden Ehemann entdeckt, in die Residenz und auf den Thron zurückgeholt wurde.

    Dass einer, der seine Frau aus Eifersucht zu Tode bringen lässt, bald aber argwöhnt, einen Irrtum begangen zu haben oder gar arglistig getäuscht worden zu sein, in einer Phase der Reue merkwürdige Stimmen hört und Halluzinationen hat, erscheint nun keinesfalls "sinnlos".

    Regisseur Michieletto zeigte den König, den es ins Dickicht der Psychiatrie verschlagen hat, als depressiven Patienten, der sich beständig den Ehering abzieht und wieder ansteckt – in einem Männerschlafsaal mit fünf Leidensgenossen, die alle auch einen kräftigen Tick haben, eigenwillig und verhaltensgestört.

    Dass eine geliebte, plötzlich aber missliebig werdende Frau in den Labyrinthen des Gesundheitswesens entsorgt, dann aus diesen aber auch wieder befreit wird, erscheint heutigen Augen als Deutung der Genoveva-Sage wenigstens ebenso plausibel wie eine optische Beschwörung der böhmischen Wälder im Kontext der musikalischen Wirbel Rossinis.

    Das Orchestra del Teatro Comunale di Bologna unter Michele Mariotti leistet im sommerlichen Pesaro – bis hin zum Kontrabass-Solo und zum Hammerflügeleinsatz – historisch bestens informierte Arbeit mit Brio. Olga Peretyatko ist eine hinreißende Aldimira und Daniela Barcellona in der Titelpartie eine Wucht.

    Die Kritiker haben 1814 Rossinis "Bequemlichkeit" moniert: er habe größere und kleinere Versatzstücke aus früheren Bühnenwerken recycelt. Tatsächlich haben sie recht gehabt – nur lassen sich die Übernahmen auch als sinnvolle arbeitsökonomische Maßnahmen deuten und insbesondere als Wille zur Herausbildung einer unverwechselbaren Handschrift: des musikalischen Markenzeichens Rossini. Mit "Sigismondo" – und auch dies gehört zu den produktiven Erfahrungen des diesjährigen Festivals in Pesaro – ist es offenkundig ausgeprägt.

    Das war bei "Demetrio e Polibio" noch nicht der Fall, einem Werk, das 1812 im Teatro Valle Rom uraufgeführt, aber bereits einige Jahre zuvor als Gemeinschaftsarbeit geschrieben wurde (nur ein Teil der Musik stammt also von Rossini). Davide Livermore hat dieses dramma serio als Theater auf dem Theater realisiert, in den Kulissen einer abgespielten Produktion. Der Charme der weithin noch nicht rossinesk-quirligen Musik verbraucht sich ebenfalls rasch.

    Aus der Backlist der Festspiel-Bestände wurde in der vor den Toren der Stadt gelegenen Adriatic Arena "La Cenerentola" reaktiviert – eine Inszenierung von Luca Ronconi, die das Aschenputtel nebst Stiefschwestern zunächst in ein Antiquitätengeschäft vor der Skyline einer modernen Großstadt beordert, in das der heiratswillige König mit einem feudalen Oldtimer einrückt. Doch dann wird – indem das Bühnenbild für fünf Minuten zum Hauptdarsteller avanciert – das ganze Gerümpel weggehoben. Die Hochhäuser öffnen sich und aus ihnen kommen Kamine, wie sie den Herzoglichen Palast in Urbino schmücken oder die schönsten französischen Königsschlösser.

    Die robuste Marianna Pizzolati setzt sich in der Titelpartie durch – auch mit etwas nachlassender Kraft für die höchst anspruchsvollen Tonleitern und Triller. Diese ungekürzte und sich daher unnötig in die Länge ziehende "Cenerentola” demonstriert den Umschlag von Wohltat in Plage – es ist, als müsse man nicht nur zu allen Gängen Schlagsahne essen, sondern noch übers Dessert hinaus.