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Im Entdeckerland

Bachs ältester Sohn erlebt derzeit eine Renaissance. Der Carus-Verlag belebt Wilhelm Friedemann Bach neu – mit einer Noten-Gesamtausgabe und einer (darauf basierenden) CD-Reihe.

Von Christoph Vratz |
    "W.F. Bach, Largo, aus: Ouvertüre in Es"

    Man könnte glatt meinen, es handle sich um eine Imitatio der Musik des Vaters. In den Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach folgt an 16. Stelle eine Französische Ouvertüre mit anschließendem schnellem Fugato. Wilhelm Friedemann Bach nun baut seine Ouvertüre in Es-Dur nach gleichem Muster auf: zu Beginn ein arpeggierter Akkord, anschließend ein rasanter Lauf aufwärts, bevor die Melodie in punktiertem Rhythmus ihren Verlauf nimmt. Dieses Werk ist um 1775 entstanden, rund ein Jahr, nachdem sich Bach jun. in Berlin niedergelassen hat. Bis dahin hatte er als konzertierender Künstler in halb Europa sein Glück versucht – sozusagen als einer der ersten freischaffenden Musiker überhaupt. Zurück zu seiner Ouvertüre: Auch hier folgt, nach formalem Muster und väterlicher Inspiration, auf das einleitende Largo ein fugierter schneller Satz:

    "W.F. Bach, Allegro, aus: Ouvertüre in Es"

    Der niederländisch-stämmige, inzwischen in Köln beheimatete Cembalist und Organist Léon Berben hat für die neue Wilhelm Friedemann-Bach-Edition als ersten Teil der Abteilung Klaviermusik neben dieser Ouvertüre je zwei Sonaten und Fantasien eingespielt, sowie ein Concerto und ein Menuett mit Variationen. Berben spielt auf einem Keith-Hill-Cembalo, dem Nachbau eines Christian Zell-Instruments aus den späten 1720er Jahren. Berben geht es bei diesen Stücken nicht um eine Innenschau, um meditative Strenge. Vielmehr kehrt er den konzertanten Charakter dieser Stücke hervor: im Sinne einer uneingeschränkten Spiellust. Sicher bei allen Verzierungen, straff und zielgerichtet, mit einer Mischung aus Fantasie und Präzision bewältigt er auch den Vivace-Schluß-Satz des G-Dur-Concertos.

    "W.F. Bach, Vivace, aus: Concerto in G-Dur"

    Beim Stuttgarter Carus-Verlag erscheint unter der Ägide von Peter Wollny zurzeit eine neue Noten-Gesamtausgabe der Werke Wilhelm Friedemann Bachs. Parallel dazu entstehen CD-Einspielungen, bei denen alle Genres berücksichtigt werden. Die ersten drei Folgen liegen nun vor. Neben dem Teil eins der Klaviermusik handelt es sich um eine Aufnahme mit Concerti und Trios. Das früheste Werk, ein Cembalokonzert in D, stammt aus den End-1730er Jahren, als Bach versuchte, neben seinen kirchlichen Verpflichtungen, auch im höfischen Musikleben Fuß zu fassen. Daraus nun der Finalsatz, Presto – mit Sebastian Wienand als Solist am Cembalo.

    "W.F. Bach, Presto, aus: Cembalokonzert in D-Dur"

    Beim Ensemble um die Geigerinnen Anne Katharina Schreiber und Martina Graulich sowie die Cellistin Ute Petersilge klingt diese Musik ungemein frisch und glaubwürdig, was auch an der rhythmischen Prägnanz liegen mag. Überall waltet darüber hinaus Umsicht in der Dynamik, so dass sich Nachdenkliches mit Freudigem, Leises mit Virtuosem abwechselt. Das zeigt sich vor allem in der dialogischen Struktur von Soloinstrument und Streichern.

    Vor seinen Konzertengagements und seiner Reisetätigkeit war Wilhelm Friedemann Bach 18 Jahre lang als Musikdirektor und Organist in Halle angestellt, bevor er im Mai 1764 sang- und klanglos seine Stelle kündigte. Aus dieser Zeit stammen rund 20 Kantaten – ein bislang auch diskographisch weitgehend vernachlässigtes Repertoire. Hören Sie den Choral "Sag an, mein Herzensbräutigam" aus der Kantate "Der Herr wird mit Gerechtigkeit". Es singen und spielen die Mitglieder der Rastatter Hofkapelle. Die Leitung hat Jürgen Ochs.

    "W.F. Bach, Choral, aus: Der Herr wird mit Gerechtigkeit"

    Man mag dieser Aufnahme unter dem Strich ein wenig Zurückhaltung unterstellen, auch die Textverständlichkeit liegt nicht immer im Optimalbereich – doch die Balance zwischen Sängern und Orchester ist nahezu ideal eingefangen: ein dichtes Gewebe aus Stimmen und Impulsen. Mal sind es die Streicher, die für Bodenhaftung sorgen, während die Soprane im Chor wie ein Satellit darüber schweben. Mal bietet das Orchester angemessen dezentes Geleit, während die eigentliche Arbeit fugenartig vom Chor geleistet wird.

    Woran es jedoch stellenweise mangelt, ist die Zuspitzung, die Lust an der rhetorischen Geste, der Mut zu einem intensiveren musik-dramatischen Element. Das gilt besonders für das "Heilig ist Gott", ein kurzer, aber brillanter Satz, der seinerzeit in Halle zum festen Repertoire an hohen Festtagen zählte. Jürgen Ochs leitet noch einmal die Rastatter Hofkapelle.

    "W.F. Bach: Heilig ist Gott"

    Die ersten drei Folgen einer Wilhelm Friedemann-Bach-Edition beim Label Carus habe ich Ihnen heute vorgestellt – Aufnahmen, die neugierig auf eine baldige Fortsetzung machen. Denn auch bei diesem Bach gibt es noch reichlich zu entdecken.
    Am Mikrofon verabschiedet sich: Christoph Vratz.


    Musikliste:
    Wilhelm Friedemann Bach:
    Claviermusik I
    Léon Berben (Cembalo)
    Carus CD 4009350833463; LC 03989

    Wilhelm Friedemann Bach:
    Concerti & Trios
    Sebastian Wienand (Cembalo)
    Anne Katharina Schreiber (Violine)
    Martina Graulich (Violine)
    Frank Coppieters (Violine)
    Werner Saller (Viola)
    Ute Petersilge (Violoncello)
    Carus CD 4009350833579; LC 03989

    Wilhelm Friedemann Bach:
    Kantaten II
    Rastatter Hofkapelle
    Jürgen Ochs (Ltg.)
    Carus CD 4009350833293; LC 03989