BEGLEY: Ich glaube, meine Gefühle gegenüber Deutschland muß man differenzieren. Da gab es erstens die Phase während und nach dem Krieg und während meiner Soldatenzeit in Deutschland, denn ich kam ja Anfang 1955 wieder nach Deutschland, ins schwäbische Göppingen, und blieb dort bis Ende August 1956. Damals waren meine Gefühle gegenüber Deutschland eine Mischung aus Haß und Angst. Hinzu kam eine Art ungeheure Befriedigung - Befriedigung angesichts der Zerstörung Deutschlands. Denn damals freute ich mich darüber, daß wir den Krieg gewonnen hatten - wir, die andere Seite. Die erwachsenen Deutschen, denen ich damals begegnete, mochte ich nicht - das waren die Deutschen, die im Krieg gewesen waren.
SCHECK: Hatten Sie 1955 denn Kontakt zu Deutschen außerhalb dessen, was Ihnen Ihre Pflichten als Armeeoffizier vorschrieben?
BEGLEY: Ja, sehr viele sogar, denn ich sprach deutsch, ging regelmäßig in die Göppinger Weinstuben und gehörte einem Reitclub an. Ich traf also eine ganze Menge Deutsche. Die meisten legten großen Wert darauf, mir zu versichern, daß sie ihren gesamten Militärdienst an der Ostfront und nicht an der Westfront abgeleistet hätten - in der Annahme, als Amerikaner sei es mir völlig schnuppe, was sie an der Ostfront getrieben hatten. Manchmal hielt ich den Mund, mitunter erzählte ich aber, daß ich zufälligerweise auch an der Ostfront gewesen war. Dann verließ ich Deutschland und kam erst wieder Mitte der 80er Jahre zurück, als mich meine Geschäfte als Rechtsanwalt nach Düsseldorf führten. Damals fiel mir auf, wie sehr sich dieses Land verändert hatte. Ich meine damit nicht die Institutionen oder den Wohlstand, sondern schlicht die Veränderungen in der demographischen Zusammensetzung. Die Menschen, die ich damals traf, waren jung - meistens viel jünger als ich. Und heute ist das noch viel ausgeprägter. Die Deutschen, die mir heute begegnen, sind in den seltensten Fällen älter als ich. Da ich sechs Jahre alt war, als der Krieg ausbrach, bedeutet das, daß diese Menschen bei Kriegsbeginn genauso hilflos waren wie ich - ja im Fall der übergroßen Mehrheit, daß sie damals noch nicht einmal geboren waren. Nun habe ich die Eigenart, daß ich junge Menschen sehr mag - vielleicht liegt es daran, daß ich fünf Kinder habe. Ich empfinde instinktive Sympathie gegenüber intelligenten jungen Menschen, und da mache ich keine Unterschiede zwischen Deutschen und anderen. Ich bin kein Rassist. Ich glaube weder an Erbschuld noch Kollektivschuld. Ich glaube nicht, daß die Deutschen einer Rasse angehören, die sie im Gegensatz zu andere Völkern zum Bösen prädestiniert. Vielleicht sollte ich anfügen, daß meiner Meinung nach alle Menschen böse sind. Ich fühle also kein Unbehagen, wenn ich mich heute in Deutschland aufhalte. Ich fühle mich hier ganz wohl, und wenn ich Deutsche kennenlerne, beurteile ich sie einzeln entsprechend dem Eindruck, den ihre Intelligenz, ihre moralischen Eigenschaften und ihr Charme auf mich machen.
SCHECK: Diese Haltung zu Fragen von Schuld und Unschuld kommt auch in Ihrem ersten Roman "Lügen in Zeiten des Krieges" zum Ausdruck. Aber mich erinnert das an die Debatte um Daniel Goldhagens Buch "Hitlers willige Vollstrecker", eine Debatte, die in den USA und in Deutschland sehr heftig geführt wurde. Goldhagen argumentiert ja, daß es eines Disposition der Deutschen zum Holocaust gab. Hätte der Holocaust überall stattfinden können - er fand natürlich nicht nur in Deutschland statt - aber hätte er auch von einem anderen Land ausgehen können?
BEGLEY: Ich habe Goldhagens Buch für die "Los Angeles Times" besprochen und daher sehr sorgfältig gelesen. Ich muß Ihnen widersprechen, wenn Sie erklären, Goldhagen behaupte, die Deutschen an sich hätten eine Prädisposition zum Holocaust. Goldhagen ist der Überzeugung, daß es eine Tradition des deutschen Antisemitismus gibt, die sich bis auf Luther und auf den katholischen Antisemitismus noch früherer Zeiten zurückführen läßt. Er hält dies für einen wesentlichen Bestandteil des deutschen Denkens. Die napoleonische Ära erscheint Goldhagen lediglich als Zäsur, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts zur Aufhebung einiger Beschränkungen gegenüber Juden führte, so daß der Judenhaß eine Zeitlang in den Hintergrund trat. Danach kam es zum Aufstieg verschiedener philosophischer Schulen, die rassistisch waren, die Romantik einer ganz bestimmten Ausprägung gewann an Einfluß, es kam zu einem Zustrom von Ostjuden nach Deutschland, und dann erlitt Deutschland furchtbaren Schaden während des Ersten Weltkriegs und danach, und erst da lebten die Dämonen des Antisemitismus wieder auf. Sie kehrten in ein Land zurück, in dem eine Konditionierung der Intellektuellen stattgefunden hatte, eine Konditionierung auf Antisemitismus hin, und als dies eine Kombination einging mit dem historischen Betriebsunfall Hitler - das müssen wir nun nicht noch mal alles durchkauen -, da war es leicht, den Schritt vom Antisemitismus zum Ausschluß und zur Auslöschung zu tun. Ich glaube, Goldhagen umgeht viele Fragen, die gestellt werden sollten.
SCHECK: Allen voran die Frage, ob diese Tradition in Frankreich oder Spanien nicht genauso wirkmächtig war ...
BEGLEY: Und auch die Frage, die gestellt werden muß: nämlich warum die Juden im Deutschland des 19. und zu Anfang des 20. Jahrunderts so viel besser reüssierten als überall sonst auf der Welt. Aber ich glaube nicht, daß Goldhagen an irgendeiner Stelle - selbst da, wo sein rhetorischer Furor mit ihm durchgeht - impliziert, daß sich ein Deutscher von irgend jemand sonst auf der Welt in seinem Verhältnis zum Juden unterscheidet - abgesehen von einer antisemitischen Erziehung und einem antisemitischen Milieu. Ich glaube also, man hat ihm sein Buch ungerechtfertigterweise um die Ohren geschlagen, und ich glaube auch, daß Goldhagen auf brillante Weise einige der sehr schweren Frage stellte, die zuvor nicht gestellt worden waren. Nämlich: Warum haben ganz gewöhnliche Deutsche nicht nur Gaskammern betrieben, oder Maschinengewehre aus sicherer Entfernung bedient, sondern einen nach dem anderen umgebracht? Warum war das deutsche Wachpersonal in den Konzentrationslagern so brutal? Warum wurden die Arbeitslager in Vernichtungslager umgewandelt? Und warum gab es ein so außergewöhnliches Phänomen wie die Todesmärsche, die vor den Augen der Öffentlichkeit in Deutschland stattfanden zu einem Zeitpunkt, als Deutschland den Krieg längst verloren hatte und dies alles keinerlei Ziel mehr dienen konnte. All diese Fragen sind bis heute unbeantwortet.
SCHECK: Als der junge Louis Begley 1955 nach Deutschland kam - und ich nehme an, daß Sie damals kaum eine andere Wahl hatten - gab es da nicht den Wunsch nach Rache, nach Bestrafung?
BEGLEY: Eine Wahl hatte ich damals tatsächlich nicht. Ich wäre lieber nach Asien gegangen, darauf wäre ich viel neugieriger gewesen viel mehr an. Aber einen Wunsch nach Bestrafung verspürte ich damals überhaupt nicht. Wenn ich mich umsah und all die Zerstörung sah, hatte ich den Eindruck, durchaus gerächt worden zu sein - das kann man sich natürlich nur schwer vorzustellen: wie Deutschland damals aussah, wie arm es war, wie am Boden zerstört. Ich bin ein durchaus rachsüchtuger Mensch, aber man muß wohl noch sehr viel rachsüchtiger sein als ich, um sich mehr Bestrafung zu wünschen.
SCHECK: Machen wir nun einen großen Sprung. 1947 kommt die Familie Begleiter/Begley nach Amerika, Sie studieren in Harvard, zu ihren Kommilitonen zählt John Updike, gemeinsam mit ihm machen Sie Ihr Examen als Klassenbester in englischer Literatur. Sie haben damals einige Kurzgeschichten veröffentlicht. Dennoch entscheiden Sie sich gegen den Beruf des Schriftstellers, studieren statt dessen Jura und machen eine Karriere als Anwalt. Erst Ende der 80er Jahren kehren Sie zum Schreiben zurück, zu ihrer Vergangenheit, zur Literatur. Warum diese Entscheidung?
BEGLEY: Eine Entscheidung war das eigentlich gar nicht. 1989 räumte mir meine Anwaltskanzlei einen langen Fortbildungsurlaub ein, das gehört zu unserer Firmenpolitik, dieser Urlaub kann zwischen drei und sechs Monaten lang sein. Aus Gründen, die zu erklären jetzt zu weit führen würde, entschied ich mich für einen dreimonatigen Urlaub und nahm dann noch vier Wochen regulären Urlaub dazu. Ich hatte keinen Plan, den ich auch nur mir selbst gegenüber einzugestehen wagte, höchstens besaß ich eine vage Vorahnung, daß ich ein Buch schreiben wollte, Denn während eines schrecklichen Gewitters verließ ich mein Büro und kaufte einen Laptop-Computer, ich war klatschnaß, als ich wieder zurückkam, und trat tags darauf dann meinen Fortbildungsurlaub an, ich ging in mein Ferienhaus auf Long Island, und am nächsten Tag begann ich dann mit der Niederschrift von "Lügen in Zeiten des Krieges”. Ich schrieb jeden Tag daran, bis ich fertig war, und das dauerte exakt drei Monate. Aber einen Plan besaß ich nicht, ich verspürte nicht den Wunsch, zur Literatur zurückzukehren. Ich war als Anwalt sehr glücklich und bin es noch.
SCHECK: Aber offenbar haben Sie in der Literatur etwas gefunden, das Sie weiterschreiben läßt, denn jetzt liegt ja bereits ihr vierter Roman auf deutsch vor. Mit jedem ihrer Bücher überraschen Sie Ihre Leser mit einem völlig neuen Thema. Ihr neuer Roman trägt den knappen Titel "Schmidt" und darin geht es unter anderem über Antisemitismus. Darf man das als Reaktion auf den Antisemtismus verstehen, dem Sie als Rechtsanwalt in den USA ausgesetzt waren?
BEGLEY: Ich habe in den Vereinigten Staaten nie irgendwelchen Antisemitismus erlebt. Ich bin mir jedoch darüber im klaren, daß es so etwas wie gesellschaftlichen Antisemitismus gibt. Meine Titelheld Schmidt mag ja nicht nur keine Juden, sondern auch keine Italiener, keine Griechen, keine irischen Katholiken, keine Polem und wahrscheinlich auch keine Deutschen. Schmidt trägt zwar einen deutschen Namen, hat aber völlig vergessen, daß er etwas mit Deutschen zu tun hat. Er ist also ein Mensch voller Vorurteile - über seine Gesellschaft und über seine Klasse.
SCHECK: Nun ist das häßliche Wort gefallen: Klasse. Ich habe in der Schule gelernt, Amerika sei eine klassenlose Gesellschaft.
BEGLEY: Welch ein Irrtum. Amerika ist eine von Klassen beherrschte Gesellschaft. Amerikaner können mehr klassenspezifische Unterscheidungen treffen als jeder französische Herzog. Nur sind diese Unterscheidungen so getarnt, daß man innerhalb des Systems stehen muß, um ihre Wirkweise zu verstehen. Der Witz an der ganzen Sache ist nun, daß sich Schmidt der Oberschicht zurechnet - und dies durchaus zu Recht - er hat schließlich in Harvard Jura studiert, und auch sein Vater war schon Rechtsanwalt. Die amerikanische Elite rekrutiert sich aus der Bevölkerung, man muß nicht von Thurn und Taxis heißen, um der Oberschicht anzugehören. Ich benutze den Namen Schmidt auch deshalb, um mich über die wundersamen, vertrackten und bizarren Nuancen des amerikanischen Snobismus lustig zu machen. Die neue Welt hat auch ihre neue Aristokratie hervorgebracht. Darin liegt eben die Tragikeines Mannes wie Schmidt - wenn man sozusagen das Element des Gesellschaftsromans in den Vordergrund stellen möchte - er sagt ja an einer Stelle: Wer hat schon so hart gearbeitet wie ich? Tatsächlich hat er sich eine schöne Stange Geld zusammengespart - aber im Amerika von heute ist das gar nichts. Er zählt sozusagen zur Bettleraristokratie.
SCHECK: Vielen Dank für diese tour d'horizon durch die gesellschaftlichen Schichten der USA. Aber worin liegt denn nun die Aufgabe des Schriftstellers in diesem Zusammenhang - kann er nur beschrieben, wie Sie das in Ihrem Roman "Schmidt" tun, oder besteht da nicht doch die klammheimliche Hoffnung auf Veränderung?
BEGLEY: Ich bin nicht auf gesellschaftliche Veränderung aus. Meine Bücher haben keine Botschaft. Sie sollen weder eine Revolution auslösen noch auch nur zu gesellschaftlichen Verbesserungen führen. Ich schreibe wirklich aus dem einzigen Grund, weil ich schreiben möchhte. Und ich schreibe, was ich will, nicht das, was von mir erwartet wird. Ich blicke nicht zu anderen Autoritäten auf, ob das, was ich schreibe, korrekt ist oder gesellschaftlich nützlich.
O-Ton Louis Begley
begley.ram
Link: Kritik: Louis Begley: Schmidt von Martin Lüdke