Dass Henry Miller oder Ilya Ehrenburg mit ihm befreundet waren, dass Modigliani ihn porträtierte, dass Picasso und Jean Cocteau ihn beerdigten, dass große Künstler wie Francis Bacon sich von seinen verrottenden Tierkadaver-Bildern haben inspirieren lassen, das alles weiß hierzulande kaum einer, und kaum einer kennt seine Werke, trotz der Verehrung des berühmten Kunstkritikers Werner Haftmann, der einmal sagte: "Wie ein Mensch im Hunger fiel er die Dinge an".
Nun hat der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli in seinem ersten Roman expressiv poetisch das Leben und den Hunger des Chaim Soutine zum Ausgangspunkt gewählt.
Da ist zunächst der reale, körperliche Hunger, aus schierer Armut geboren. Denn Chaim Soutine kam 1879 unweit von Minsk im litauischen Smilowitchi als zehntes von elf Kindern eines bettelarmen jüdischen Flickschneiders zur Welt. Hunger, Gewalt und die Angst vor antisemitischen Pogromen prägten seine Kindheit. Die gemeinschaftlichen Eß-Rituale in der Familie besänftigten zwar für kurze Zeit die Angst, die Not vertrieben sie nicht. Als Soutine 1913, zwanzigjährig, in der Pariser Künstlerkolonie La Ruche, dem Bienenstock, ankam, wunderten sich die anderen Künstler-Hungerleider, wie viel er aß.
"Er ist niemals satt. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen. Er wird an diesem Ort Mahlzeiten malen, mit Brot und Heringen, er wird sie anflehen, ihn satt zu machen. Endlich satt, für einmal satt, für immer satt. Das Hungergefühl bleibt auf der angebettelten Leinwand gefangen. Magere Fische, eine Lauchzwiebel, schrumpelige Äpfel, Suppentopf und zerfetzte Artischocke, die er unter einem Marktstand aufgelesen hat. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen."
Fische, Äpfel, Heringe, Zwiebeln - das alles hat Soutine auch gemalt, ebenso Landschaften, Schlachttiere, Chorknaben und greisgesichtige Hotelboys. Dazwischen vom Wind zerfetzte Bäume oder taumelnde Häuser, die drohen ineinanderzufallen, - als habe der Wind die vier Ecken des Hauses ergriffen ... wie es im Buch Hiob heißt. Alle Gegenstände und alle Lebewesen sind auf den Bildern Soutines entfesselten oder erodierenden Elementen ausgesetzt, dem Wind, dem Sturm, einem inneren Beben, Todesvisionen und der Scham des Davongekommensein.
Ralph Dutli hat diese entfesselten Elemente sichtbar gemacht, richtiger: er hat Werke des Malers in seiner Sprache nachgebildet, andere frei erfunden. Als Rahmenhandlung hat er sich gekonnt eine bedrängende Geschichte aus der Wirklichkeit erwählt: In "Soutines letzter Fahrt" reist der todkranke jüdische Maler 1943 aus der unbesetzten südfranzösischen Zone unter Morphium gesetzt in einem Leichenwagen nach Paris, wo er an einem seit Jahren schwärenden Magengeschwür notopiert und vom bevorstehenden Tode errettet werden soll.
Für Soutine war der Leichenwagen damals eine Tarnung, dazu erdacht, dass er, der bekannte osteuropäische jüdische Maler, nicht den Nazis in die Hände falle. Für den Autor Ralph Dutli ist das Morphium, der Mohnsaft, die Tarnung im Schreiben. Es ermöglicht ihm den Maler in ein phantastisches Reich aus Erinnerungen und Halluzinationen zu versetzen. Er erinnert sich an das Bilderverbot in der Kindheit, das ihn Zeit seines Schaffens gegen die Leinwand und gegen seine eigenen Bilder wüten läßt. Er erinnert Szenen aus der Zeit in Paris, wo er obsessiv malte und sich vor Pogromen für alle Zukunft sicher wähnte. Er erinnert sich an den Erfolg und daran, wie er sich vor den Nazis verstecken mußte. Dazwischen immer wieder Todesphantasien.
"Er fährt in einem schwarzen Leichenwagen, Marke Citroen, Modell Corbillard, nach Paris. Fährt er zum Sterben? Aber nein, der Mohnsaft verscheucht den Gedanken. Er fährt in das Land der Milch. Er fährt in die Zukunft, die nicht eintreten wird. Er fährt ins weiße Paradies. Er soll noch nicht aufwachen, solange die von Sertürner erfundene Mohnschrift voranläuft, der Mohnsaft der Literatur. ... "
Tatsächlich geht es Dutli im Roman vor allem um diesen "Mohnsaft" der Literatur. Der Autor erzählt nicht einfach die Lebensgeschichte des Chaim Soutine - das auch! -, doch er hat anderes im Sinn. Der Roman ist ein Ort, an dem, um es mit einem Bild von André Breton zu sagen, die Tür schlägt - hin und her.
Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Realität, Wahn und Wirklichkeit existieren ebenso wenig wie die Grenzen zwischen Dutlis Sprachwelt und Soutines Bilderwelt. In der Sprache erkennt man Soutines Kosmos, die bildnerische Kraft des Malers verbandelt sich mit der Schöpfungskraft des dichterischen Wortes.
Wie aber vermischen sich im Roman Tatsache und Dichtung, oder: Dokument und Fiktion, frage ich den Autor.
"Das Nebeneinander von Dokument und Delirium, das war für mich, ... durch die Reibung dieser beiden Dinge entsteht für mich Poesie, wo die knallharte historische Realität sich mit dem Traum reibt, oder Funken schlägt, das ist für mich eigentlich das Poetische dieses Romans,
Diese Verankerung, dass da Widerhaken sind in der Wirklichkeit, die stecken manchmal ganz tief, und manchmal fest, und mal sind sie locker, aber die sind natürlich da in der Realität und es ist ein Hin und Her zwischen Dokument und Fiktion."
Auf der Reise ins Land der Erinnerungen und der Halluzinationen erfindet uns Dutli die Quellen von Soutines Kunst: Not, Hunger, Verfolgung, die Kindheit im Shtetl mit ihren Liedern und Festen, die Pariser Boheme der 1920er Jahre, außerdem die Begegnungen mit Rembrandts Ochsenhälften, mit Nabokovs Dichtung, mit Bachs Kantaten. Der Soutinesche Kosmos wird vor uns lebendig, die Befremdung des Auf-der-Welt-Seins, die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt. Drängend, dringlich, ja geballt ist die Sprache, und ihr Sog ist Konstruktionsprinzip. Man wird immer wieder gefangen genommen von dem Wechselspiel der Bilder, mit denen Dulti frei hantiert, wie er erzählt.
"... der Mann der ihm das Gedicht vom weißen Paradies über den Tisch schiebt in der Rotonde, ein Jugendgedicht von Nabokov – Nabokovsche Spiele sind da natürlich schon auch eine Lust, damit zu spielen. Ein Russe, der aus Berlin angereist kam. Das Gedicht gibt es, ich habe es nur an einer Stelle gefälscht, im Gedicht ist alles weiß, aber der Himmel ist ganz blau, und ich habe aus dem blauen Himmel noch einen weißen Himmel gemacht, Kleine Fälschungen, Das gehört auch zur Lust, mit diesen Texten zu spielen. Ich brauchte einen weißen Himmel und keinen blauen."
Doch kehren wir noch einmal zum Hunger zurück. Anders als das Magenleiden, das Soutine zeitlebens nicht mehr los wurde, endete der körperliche Hunger 1923, als der us-amerikanische Pharmazeut und Millionär Albert C. Barnes, in Paris auftauchte, Soutines Bilder entdeckte, und über 50 Stück kaufte. Der Maler war über Nacht ein gemachter Mann. Doch der seelische Hunger, das beschreibt uns der Roman, der seelische Hunger, der Chaim Soutine zum Maler machte, der blieb. Über ihn heißt es:
"Ich hab einmal gesehen .. wie der Neffe des Rebbe einer Gans den Hals durchschnitt ... und das Blut ausfließen ließ ... ich wollte schreien ... aber sein fröhliches Gesicht ... schnürte mir die Kehle zu ... diesen Schrei ... ich spüre ihn noch immer hier ... als ich ein Kind war ... zeichnete ich ein Porträt meines Lehrers ... ich versuchte ... mich von diesem Schrei zu befreien... aber vergeblich ... als ich das Ochsengerippe malte ... war es noch immer derselbe Schrei ... von dem ich mich befreien wollte .. es ist mir bis heute nicht gelungen."
Das Malen, die seelische Nahrung des Künstlers, war im Shtetl verboten. Soutine übertrat das Verbot und widmete der Malerei sein Leben - In aller Scham. Kein Wunder, dass er die Leinwand malträtierte, sie abrieb, ritzte, quälte. Überhaupt, ist die Farbe neben dem Corbillard- Leichenwagen das zweite Leitmotiv des Romans. Im Zentrum steht die Sehnsucht nach der nicht-Farbe Weiß: der Schnee der Heimat, die Leinwand des Bilderverbots, die Milch und das Bismuthpulver gegen das Magengeschwür - weiß ist nicht zuletzt auch das schmerzlindernde Morphium, das die Einbildung beflügelt, und weiß ist bei Dutli die phantasierte Klinik des Todes.
"Sein Hunger ist noch da, aber es ist nicht mehr das gierige Schlingen wie einst. Er wundert sich über die Mahlzeiten. Blasse Nudeln, weiße Sahnesauce, Schneeflocken aus Käse darübergestreut, weiße Krautstiele, weiße Hechtknödel, Blumenkohl, weißer Spargel , Sauce Béchamel, weißes Kalbfleisch, Frischkäse, wolkenhafte Milchsuppen, Milchreis. Weiße Erbsen. Und keine Karotte. Beim Ei hatten sie das Gelb entfernt."
Das Leben, das Dutli dagegen setzt, ist die Farbe, sie allein verkörpert die Vitalität des Augenblicks, die "Auferstehung der Materie und des Fleisches", wie es im Roman heißt.
Dutli hat keinen Künstlerroman geschaffen, es gibt keine Bildbeschreibungen, auch der typische existenzielle Zwiespalt zwischen Kunst und Leben fehlt. Lebende und Tote, Personen des realen Lebens wie fiktive Personen geraten miteinander ins Gespräch, Menschen und Farben rebellieren gegen die Gewissheiten, immer auch gegen die Gewissheiten der Religion.
"Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion, nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion. Ihre roten Heiligen sind: Zinnober, Karmesin, Drachenblut, Roter Ocker, Indischrot, Marsrot, Pompejanischrot, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Rubin, Inkarnat."
Der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli, das kann man abschließend sagen, ist prädestiniert für den Stoff, aus dem Soutines Träume sind. Es ist, als habe Soutines Geschichte auf diesen Lyriker gewartet. Dutli ist Schweizer. Er hat Slavistik und Romanistik studiert. 12 Jahre lebte er in Paris, nicht weit von Soutines Atelier im Bienenstock. Seine gesättigte Erfahrung sättigt den Roman.
Darüber hinaus ist Dutli als Übersetzer eng vertraut mit Geschichte und Literatur Frankreichs, Deutschlands und Russlands, eng vertraut mit den Emigrationsgeschichten der Deutschen und der Russen in Paris. Und er teilt noch eine weitere Erfahrung mit Soutine -- das Leben in fremden Sprachen. Auch Dutli kennt das Miteinander verschiedener Bildwelten in einem Kopf, er erkundet die Spracherweiterungen der Grenzüberschreitung. Entstanden ist so ein großartiger Roman über Verfolgung und Freiheit, über die Erschaffung und Zerstörung von Bildwelten und über das Feuerwerk, das Worte und Bilder über die Zeiten hinweg entfachen können.
Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt, Roman, Wallstein Verlag, 272 Seiten, 19,90 Euro
Nun hat der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli in seinem ersten Roman expressiv poetisch das Leben und den Hunger des Chaim Soutine zum Ausgangspunkt gewählt.
Da ist zunächst der reale, körperliche Hunger, aus schierer Armut geboren. Denn Chaim Soutine kam 1879 unweit von Minsk im litauischen Smilowitchi als zehntes von elf Kindern eines bettelarmen jüdischen Flickschneiders zur Welt. Hunger, Gewalt und die Angst vor antisemitischen Pogromen prägten seine Kindheit. Die gemeinschaftlichen Eß-Rituale in der Familie besänftigten zwar für kurze Zeit die Angst, die Not vertrieben sie nicht. Als Soutine 1913, zwanzigjährig, in der Pariser Künstlerkolonie La Ruche, dem Bienenstock, ankam, wunderten sich die anderen Künstler-Hungerleider, wie viel er aß.
"Er ist niemals satt. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen. Er wird an diesem Ort Mahlzeiten malen, mit Brot und Heringen, er wird sie anflehen, ihn satt zu machen. Endlich satt, für einmal satt, für immer satt. Das Hungergefühl bleibt auf der angebettelten Leinwand gefangen. Magere Fische, eine Lauchzwiebel, schrumpelige Äpfel, Suppentopf und zerfetzte Artischocke, die er unter einem Marktstand aufgelesen hat. Noch nie haben sie einen solchen Hunger gesehen."
Fische, Äpfel, Heringe, Zwiebeln - das alles hat Soutine auch gemalt, ebenso Landschaften, Schlachttiere, Chorknaben und greisgesichtige Hotelboys. Dazwischen vom Wind zerfetzte Bäume oder taumelnde Häuser, die drohen ineinanderzufallen, - als habe der Wind die vier Ecken des Hauses ergriffen ... wie es im Buch Hiob heißt. Alle Gegenstände und alle Lebewesen sind auf den Bildern Soutines entfesselten oder erodierenden Elementen ausgesetzt, dem Wind, dem Sturm, einem inneren Beben, Todesvisionen und der Scham des Davongekommensein.
Ralph Dutli hat diese entfesselten Elemente sichtbar gemacht, richtiger: er hat Werke des Malers in seiner Sprache nachgebildet, andere frei erfunden. Als Rahmenhandlung hat er sich gekonnt eine bedrängende Geschichte aus der Wirklichkeit erwählt: In "Soutines letzter Fahrt" reist der todkranke jüdische Maler 1943 aus der unbesetzten südfranzösischen Zone unter Morphium gesetzt in einem Leichenwagen nach Paris, wo er an einem seit Jahren schwärenden Magengeschwür notopiert und vom bevorstehenden Tode errettet werden soll.
Für Soutine war der Leichenwagen damals eine Tarnung, dazu erdacht, dass er, der bekannte osteuropäische jüdische Maler, nicht den Nazis in die Hände falle. Für den Autor Ralph Dutli ist das Morphium, der Mohnsaft, die Tarnung im Schreiben. Es ermöglicht ihm den Maler in ein phantastisches Reich aus Erinnerungen und Halluzinationen zu versetzen. Er erinnert sich an das Bilderverbot in der Kindheit, das ihn Zeit seines Schaffens gegen die Leinwand und gegen seine eigenen Bilder wüten läßt. Er erinnert Szenen aus der Zeit in Paris, wo er obsessiv malte und sich vor Pogromen für alle Zukunft sicher wähnte. Er erinnert sich an den Erfolg und daran, wie er sich vor den Nazis verstecken mußte. Dazwischen immer wieder Todesphantasien.
"Er fährt in einem schwarzen Leichenwagen, Marke Citroen, Modell Corbillard, nach Paris. Fährt er zum Sterben? Aber nein, der Mohnsaft verscheucht den Gedanken. Er fährt in das Land der Milch. Er fährt in die Zukunft, die nicht eintreten wird. Er fährt ins weiße Paradies. Er soll noch nicht aufwachen, solange die von Sertürner erfundene Mohnschrift voranläuft, der Mohnsaft der Literatur. ... "
Tatsächlich geht es Dutli im Roman vor allem um diesen "Mohnsaft" der Literatur. Der Autor erzählt nicht einfach die Lebensgeschichte des Chaim Soutine - das auch! -, doch er hat anderes im Sinn. Der Roman ist ein Ort, an dem, um es mit einem Bild von André Breton zu sagen, die Tür schlägt - hin und her.
Die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Nacht und Tag, zwischen Traum und Realität, Wahn und Wirklichkeit existieren ebenso wenig wie die Grenzen zwischen Dutlis Sprachwelt und Soutines Bilderwelt. In der Sprache erkennt man Soutines Kosmos, die bildnerische Kraft des Malers verbandelt sich mit der Schöpfungskraft des dichterischen Wortes.
Wie aber vermischen sich im Roman Tatsache und Dichtung, oder: Dokument und Fiktion, frage ich den Autor.
"Das Nebeneinander von Dokument und Delirium, das war für mich, ... durch die Reibung dieser beiden Dinge entsteht für mich Poesie, wo die knallharte historische Realität sich mit dem Traum reibt, oder Funken schlägt, das ist für mich eigentlich das Poetische dieses Romans,
Diese Verankerung, dass da Widerhaken sind in der Wirklichkeit, die stecken manchmal ganz tief, und manchmal fest, und mal sind sie locker, aber die sind natürlich da in der Realität und es ist ein Hin und Her zwischen Dokument und Fiktion."
Auf der Reise ins Land der Erinnerungen und der Halluzinationen erfindet uns Dutli die Quellen von Soutines Kunst: Not, Hunger, Verfolgung, die Kindheit im Shtetl mit ihren Liedern und Festen, die Pariser Boheme der 1920er Jahre, außerdem die Begegnungen mit Rembrandts Ochsenhälften, mit Nabokovs Dichtung, mit Bachs Kantaten. Der Soutinesche Kosmos wird vor uns lebendig, die Befremdung des Auf-der-Welt-Seins, die Verwaistheit aller Figuren, das Taumeln der Dinge in einer heillosen Welt. Drängend, dringlich, ja geballt ist die Sprache, und ihr Sog ist Konstruktionsprinzip. Man wird immer wieder gefangen genommen von dem Wechselspiel der Bilder, mit denen Dulti frei hantiert, wie er erzählt.
"... der Mann der ihm das Gedicht vom weißen Paradies über den Tisch schiebt in der Rotonde, ein Jugendgedicht von Nabokov – Nabokovsche Spiele sind da natürlich schon auch eine Lust, damit zu spielen. Ein Russe, der aus Berlin angereist kam. Das Gedicht gibt es, ich habe es nur an einer Stelle gefälscht, im Gedicht ist alles weiß, aber der Himmel ist ganz blau, und ich habe aus dem blauen Himmel noch einen weißen Himmel gemacht, Kleine Fälschungen, Das gehört auch zur Lust, mit diesen Texten zu spielen. Ich brauchte einen weißen Himmel und keinen blauen."
Doch kehren wir noch einmal zum Hunger zurück. Anders als das Magenleiden, das Soutine zeitlebens nicht mehr los wurde, endete der körperliche Hunger 1923, als der us-amerikanische Pharmazeut und Millionär Albert C. Barnes, in Paris auftauchte, Soutines Bilder entdeckte, und über 50 Stück kaufte. Der Maler war über Nacht ein gemachter Mann. Doch der seelische Hunger, das beschreibt uns der Roman, der seelische Hunger, der Chaim Soutine zum Maler machte, der blieb. Über ihn heißt es:
"Ich hab einmal gesehen .. wie der Neffe des Rebbe einer Gans den Hals durchschnitt ... und das Blut ausfließen ließ ... ich wollte schreien ... aber sein fröhliches Gesicht ... schnürte mir die Kehle zu ... diesen Schrei ... ich spüre ihn noch immer hier ... als ich ein Kind war ... zeichnete ich ein Porträt meines Lehrers ... ich versuchte ... mich von diesem Schrei zu befreien... aber vergeblich ... als ich das Ochsengerippe malte ... war es noch immer derselbe Schrei ... von dem ich mich befreien wollte .. es ist mir bis heute nicht gelungen."
Das Malen, die seelische Nahrung des Künstlers, war im Shtetl verboten. Soutine übertrat das Verbot und widmete der Malerei sein Leben - In aller Scham. Kein Wunder, dass er die Leinwand malträtierte, sie abrieb, ritzte, quälte. Überhaupt, ist die Farbe neben dem Corbillard- Leichenwagen das zweite Leitmotiv des Romans. Im Zentrum steht die Sehnsucht nach der nicht-Farbe Weiß: der Schnee der Heimat, die Leinwand des Bilderverbots, die Milch und das Bismuthpulver gegen das Magengeschwür - weiß ist nicht zuletzt auch das schmerzlindernde Morphium, das die Einbildung beflügelt, und weiß ist bei Dutli die phantasierte Klinik des Todes.
"Sein Hunger ist noch da, aber es ist nicht mehr das gierige Schlingen wie einst. Er wundert sich über die Mahlzeiten. Blasse Nudeln, weiße Sahnesauce, Schneeflocken aus Käse darübergestreut, weiße Krautstiele, weiße Hechtknödel, Blumenkohl, weißer Spargel , Sauce Béchamel, weißes Kalbfleisch, Frischkäse, wolkenhafte Milchsuppen, Milchreis. Weiße Erbsen. Und keine Karotte. Beim Ei hatten sie das Gelb entfernt."
Das Leben, das Dutli dagegen setzt, ist die Farbe, sie allein verkörpert die Vitalität des Augenblicks, die "Auferstehung der Materie und des Fleisches", wie es im Roman heißt.
Dutli hat keinen Künstlerroman geschaffen, es gibt keine Bildbeschreibungen, auch der typische existenzielle Zwiespalt zwischen Kunst und Leben fehlt. Lebende und Tote, Personen des realen Lebens wie fiktive Personen geraten miteinander ins Gespräch, Menschen und Farben rebellieren gegen die Gewissheiten, immer auch gegen die Gewissheiten der Religion.
"Die einzige Erlösung gibt es nicht. Die einzige Lösung ist die Farbe. Sie ist die letzte mögliche Religion, nein, ich hatte mich verschrieben: Rebellion. Ihre roten Heiligen sind: Zinnober, Karmesin, Drachenblut, Roter Ocker, Indischrot, Marsrot, Pompejanischrot, Purpur, Amarant, Kirschrot, Krapprot, Rubin, Inkarnat."
Der Lyriker und Übersetzer Ralph Dutli, das kann man abschließend sagen, ist prädestiniert für den Stoff, aus dem Soutines Träume sind. Es ist, als habe Soutines Geschichte auf diesen Lyriker gewartet. Dutli ist Schweizer. Er hat Slavistik und Romanistik studiert. 12 Jahre lebte er in Paris, nicht weit von Soutines Atelier im Bienenstock. Seine gesättigte Erfahrung sättigt den Roman.
Darüber hinaus ist Dutli als Übersetzer eng vertraut mit Geschichte und Literatur Frankreichs, Deutschlands und Russlands, eng vertraut mit den Emigrationsgeschichten der Deutschen und der Russen in Paris. Und er teilt noch eine weitere Erfahrung mit Soutine -- das Leben in fremden Sprachen. Auch Dutli kennt das Miteinander verschiedener Bildwelten in einem Kopf, er erkundet die Spracherweiterungen der Grenzüberschreitung. Entstanden ist so ein großartiger Roman über Verfolgung und Freiheit, über die Erschaffung und Zerstörung von Bildwelten und über das Feuerwerk, das Worte und Bilder über die Zeiten hinweg entfachen können.
Ralph Dutli, Soutines letzte Fahrt, Roman, Wallstein Verlag, 272 Seiten, 19,90 Euro