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Im Kampf mit der Uhr

Dramatische Entscheidungen, technisches Wettrüsten und anhaltende Faszination - das Zeitfahren im Radsport fesselt seit seiner Einführung. Die Spezialdisziplin ist häufig von entscheidender Bedeutung für den Ausgang der Tour de Fránce. Doch was steckt hinter der schweißtreibenden Plackerei?

Von Tim Farin |
    Auch wenn diese Aufnahme 23 Jahre alt ist – bis heute fesselt das Duell zwischen dem amerikanischen Rennradfahrer Greg LeMond und Frankreichs Nationalheld Laurent Fignon auf der Schlussetappe der Tour de France 1989. Nie sonst war die Entscheidung um den Gesamtsieg knapper: Der Kalifornier LeMond nahm dem bis dahin Gesamtführenden auf den 24einhalb Kilometern von Versailles ins Herz der Hauptstadt Paris 58 Sekunden ab – am Ende waren es acht Sekunden, die über das Gelbe Trikot entschieden.

    Wenn es einen Beweis dafür braucht, dass die Spezialdisziplin des Zeitfahrens im Radsport von Bedeutung ist, dann ist dieses historische Ereignis das Paradebeispiel. Doch der Stellenwert des Einzelkampfs gegen die Uhr ist generell hoch – und bei der diesjährig en Tour enorm. Insgesamt sind es mehr als 100 Kilometer, welche die Klassementfahrer auf eigene Faust bestreiten müssen – das erste lange Zeitfahren steht am Montag zwischen Arc-et-Senans und der französischen Uhrenhauptstadt Besancon an.
    Der deutsche Weltmeister im Zeitfahren, Tony Martin, hatte in der ersten Tour-Woche enormes Pech. Eine Scherbe plättete seinen Hinterreifen beim Zeitfahren im Prolog, am Tag darauf brach er sich das Kahnbein der linken Hand – doch er hat sich durchgekämpft, weil er bei der Tour in seiner Paradedisziplin triumphieren möchte. Schließlich hat Martin sich auf dieses erste lange Zeitfahren akribisch vorbereitet:

    "Ja ich hab das erste Zeitfahren aus dem Auto heraus gesehen, das sind wir komplett abgefahren, es sah sehr, sehr schwer aus, sehr unrhythmisch, es waren auch einige schwerere Hügel oder fast Berge dabei. Also ich denke es wird nicht einfach und gerade am Ende der ersten Woche, wo alle dann wirklich schon müde sind, noch vor dem ersten Ruhetag, wird es da denk ich schon sehr große Zeitabstände geben."

    Das Zeitfahren ist eine besondere Disziplin, das weiß auch Lars Teutenberg, mit 42 Jahren zuletzt überraschend Dritter bei der deutschen Meisterschaft im Zeitfahren. Er gilt als einer der begehrtesten Techniker im Profizirkus. Teutenberg betreut als Technischer Direktor das australische Team GreenEdge, und er sagt:

    "In diesem Jahr ist das Zeitfahren besonders wichtig, weil die Gesamtlänge deutlich größer ist als in den vergangenen Jahren und da kann der eine oder andere Kletterer schon mal Minuten verlieren, die andersrum dann der Gesamtfahr- und Zeitfahrspezialist bergauf nicht verlieren wird."

    Unter den größten Namen in der Historie der Tour de France waren viele wahre Dominatoren im Alleingang gegen die Uhr. Eddy Merckx, Fausto Coppi, Miguel Indurain, Bernard Hinault, Jacques Anquetil – auch der nun erneut unter akutem Doping-Verdacht stehende Lance Armstrong und der überführte Jan Ullrich waren in der Lage, die Rundfahrten auf den Einzelzeitfahr-Etappen zu prägen.

    Eingeführt wurde diese Sonderdisziplin 1934, als sich die Veranstalter in einem erbitterten Wettkampf mit einer konkurrierenden Zeitung sahen. Tour-Gründer Henri Desgrange führte damals das Einzelzeitfahren ein, auch wenn es herbe Kritik gab – unter anderem von Frankreichs Kommunisten, die eine Ausbeutung der Athleten wähnten. Das Zeitfahren mit Starts in Intervallen war ideal geeignet, um dem Radio eine anhaltend spannende Berichterstattung zu gewährleisten. Das erste Zeitfahren gewann über 90 Kilometer von La Roche Sur Yon nach Nantes der spätere Toursieger Antonin Magne – gut für die Akzeptanz der neuen Prüfung in seinem Heimatland Frankreich.

    Raymond Poulidor, als Ewiger Zweiter bekannt und vielleicht gerade deshalb ein bis heute beliebter Sportstar in der Grande Nation, verzweifelte in den 60er Jahren an der Überlegenheit, die sein großer Widersacher Jacques Anquetil im Zeitfahren präsentierte. Er erlebte, worum es in dieser Spezialdisziplin vor allem geht:

    "Es ist eine Geschichte von Willen und Mut. Man muss versuchen, über das Leiden hinauszuschreiten."

    Der 76 Jahre alte Poulidor tourt mit seinen Büchern durch französische Einkaufszentren, vor allem ist von ihm in Erinnerung geblieben, wie er 1964 am Puy de Dôme seinen großen Rivalen Anquetil fast bezwungen hätte – aber nur fast. Die Radsportwelt kennt diesen erbitterten Zweikampf als Ellenbogen-Duell – wesentlich unbekannter ist, was auf einer Zeitfahretappe bei dieser Tour passiert war. Poulidor hatte sich vorgenommen, Anquetil endlich zu besiegen – und lag 27 Kilometer vor dem Finish laut Zwischenzeit gar vorne. Doch dann hatte er eine Reifenpanne – und der Traum war aus.

    "An jenem Tag schlug ich Anquetil gegen die Uhr. Und mit der Zeitgutschrift, die es gegeben hätte, hätte ich die Tour de France gewinnen können."

    Was hat sich verändert seit jenen Tagen? Wenn man die Bilder der High-Tech-Maschinen sieht, ist klar: Heute zählt jedes technische Detail. Und auch hierfür war der knappe Sieg Greg LeMonds 1989 ein epochemachendes Ereignis. Der Amerikaner hatte als Erster einen Triathlonlenker aufgeschraubt . Technik-Experte Lars Teutenberg:

    "Die wichtigste Innovation ist glaube ich nach wie vor noch der Lenkeraufsatz, den Greg LeMond damals zum ersten Mal gefahren ist – und auch noch unschlagbar. Nach wie vor ist der Fahrer der größte Windwiderstand, da man kann also am Fahrer mehr rausholen als am Fahrrad."

    Auch die anderen Komponenten sind auf Aerodynamik getrimmt: Laufräder, abfallende Rahmen, Helme, Anzüge – da zählen die Details. So ist das wichtige Einzelzeitfahren heute ein Kampf der Forschung – aber immer noch einer, in dem am Ende die Körper der Athleten entscheiden. Und Frankreichs Tour-Held Raymond Poulidor glaubt, dass die zu seiner Zeit nicht schlechter waren:

    "Der große Unterschied ist das Material. Die abfallenden Rahmen, die Triathlon-Lenker, die superleichten Räder. Aber wenn man sie unter denselben Bedingungen gemessen hätte, wenn sie heute einen Jungen wie Anquetil hätten, dann wäre die Durchschnittsgeschwindigkeit sicherlich in der Nähe der heutigen gewesen – und vielleicht noch höher."