Montag, 20. Mai 2024


Im Keim erstickt - Aufruhr in Dresden

Hauschild: Na ja, es trat schon eine gewisse Vorfreude auf, als wir erfuhren, dass in Berlin eine ganz brenzlige Situation herannahte. Und das war dann eine Frage von Stunden, bis sich das langsam nach Dresden übertrug.

Von Brigitte Froesick | 01.06.2003
    Peter-Ralf Hauschild. 1953 ist er Lehrling bei der Bau-Union Dresden. Westsender wie der RIAS sind in der Elbmetropole kaum zu empfangen. Es dauert deshalb, bis die Informationen aus Berlin durchsickern.

    Bannack:Die sonst ihrer Wege gehenden Passanten auf den Straßen standen in Grüppchen zusammen und sprachen aufeinander ein, diskutierten.

    Der Schlosser Siegfried Bannack erfährt auch erst im Laufe des Tages von den Demonstrationen in Berlin.

    Bannack:Zu diesem Zeitpunkt wussten diejenigen, die bisher keinen westlichen Radiosender hören konnten, so wie wir in der Werkstatt, noch nichts von den sich in Berlin inzwischen entwickelnden Ereignissen. Endlich stieß ich auf einige bekannte Nachbarn von denen ich erfuhr, dass in Berlin gestreikt werde.

    Und so springt am 17. Juni der Funke von Berlin mit Verzögerung auf die Dresdner Betriebe über. Zum Beispiel auf das Zweigwerk von Carl-Zeiss Jena, in dem Elisabeth Wankerl als Technische Zeichnerin arbeitet.

    Wankerl:Wir - die "Nichtgenossen" - marschierten mit Begeisterung stadtwärts, ohne zu wissen, was eigentlich los war, aber wir spürten schon damals so eine Art "Wende" in uns. Wir rissen die überall herum hängenden Transparente mit den kommunistischen Parolen runter und dachten, dass wir nun endlich befreit seien

    Hauschild:Der Tag begann ansich normal und um die Mittagszeit fingen dann die Demonstrationen an. Wir sind alle geschlossen in die Stadt rein zur Demonstration ... in Richtung Postplatz.

    Dort ist am Nachmittag auch der Lehrling Frank Müller

    Müller:In einer großen Menschenansammlung kamen Demonstrationszüge verschiedener Dresdner Großbetriebe auf dem Postplatz an , und ich kann mich noch an Spruchbänder erinnern: 'Wir Sachsenwerker fordern die Rücknahme der Normenerhöhung' und 'Nieder mit der Regierung Ulbricht'.

    Kunze: Plötzlich versuchten einige Demonstranten, das Telefon-Zentralamt zu besetzen. Es kam zu heftigen Rangeleien mit der Volkspolizei und zur Verhaftung mehrerer Demonstranten. Doch das wirkte geradezu eskalierend.

    Egon Kunze, damals Praktikant bei einem Pharma-Unternehmen. Auch der Schüler Wolfgang Martin beobachtet, wie sich die Situation zuspitzt.

    Martin:Das Gebäude war von der Kasernierten Volkspolizei umstellt. Als Demonstranten auf das Gebäude zustürmten, schossen die Polizisten. Die Menge stieb auseinander und suchte Schutz hinter den damals noch aufgeschütteten Kriegstrümmern. Verletzt wurde niemand.

    Und Manfred Schulze, für den an diesem Tag der Berufschulunterricht ausfällt, erinnert sich:

    Schulze:Das alles spielte sich in einem Zeitraum von etwa zwei Stunden ab, als plötzlich von fern Panzerketten zu hören waren. Nach kurzer Zeit tauchten auch die ersten russischen T 34 auf. Das war für uns das Signal, schnellstens abzuhauen

    Martin: Bald tauchte sowjetisches Militär auf, hauptsächlich Motorrad-Einheiten, dreckbespritzt, direkt von einem Manöver abgezogen, wie es hieß.

    Hauschild:Die Sowjettruppen hatten dann schon Bajonetts aufgepflanzt auf die Gewehre, um die Menschenmassen auseinanderzutreiben, und man sah schon dann, dass irgendwie die ganze Situation am kippen war, weil die Verstärkung der Russen immer größer wurde, und es gab größere Handgemenge.

    Das sowjetische Militär zeigt frühzeitig massive Präsenz, wie der Schüler Gottfried Schmidt in einem Brief festhält.

    Schmid:Auf den Straßen der inneren Stadt jede Menge gepanzerte Mannschaftsfahrzeuge mit sturmbereiter Infanterie, kleine Panzerautos, Kettenfahrzeuge mit Vierlings-MG's, ja sogar leichte Infanteriegeschütze, dazwischen ab und zu Kolonnen auf Krafträdern, alles voll einsatzbereit.

    Hauschild:Es war mehr eine Drohung von den Russen. Es ist niemand dort erstochen worden oder sonst was... Wir wurden einfach auseinandergetrieben.

    Wesentlich brutaler geht es auf dem nahegelegenen Altmarkt zu. Dort beobachtet der damals 15jährige Schüler Jördi Donat:

    Donat:Auf dem Altmarkt waren KVP und russische Panzer aufgefahren. Einer der Demonstrierenden hatte ein Megaphon, durch das er rief: ‚Nicht schießen!' Trotzdem lagen auf dem noch kriegszerstörten Platz Verwundete. Andere und ich suchten Deckung hinter Steinquadern. .... Wir versuchten, die Verletzten in Krankenhäuser zu bringen.

    Auch ganz in der Nähe, am Theaterplatz zwischen Semper Oper, Italienischem Dörfchen und Hofkirche, ist inzwischen sowjetisches Militär angerückt. Johannes Stefan ist Augenzeuge der Tumulte dort.

    Stefan: Bewaffnete sowjetische Soldaten auf Motorrädern und solche mit Maschinengewehren auf Lastwagen versuchten, ständig über den Theaterplatz in Kurven zu fahren, um die Menge so an einer Zusammenballung zu hindern. Es gelang ihnen jedoch kaum, da jedesmal, wenn ein Fahrzeug den Motor anlaufen ließ, eine größere Anzahl von Demonstranten unter Geschrei dorthin rannte, das Fahrzeug umstellte und so am Weiterfahren hinderte.

    Johannes Stefan beobachtet, wie Polizei und Demonstranten gemeinsam gegen Randalierer vorgehen. Auf dem Theaterplatz bleibt es bei erregten Diskussionen zwischen protestierenden Bürgern und Vertretern der bewaffneten Staatsmacht. Obwohl für Dresden schon seit 14 Uhr der Ausnahmezustand gilt, wird die Versammlung nicht gewaltsam aufgelöst.

    Stefan:Der gesamte Platz wurde schließlich abgesperrt, so dass ihn keine neuen Passanten mehr betreten konnten, während ihn jede der Anwesenden zu der Zeit , zu der es ihm beliebte, ungehindert verlassen konnte.

    Aber Einheiten der Kasernierten Volkspolizei gehen am Abend massiv gegen 200 Demonstranten vor, die auf dem Bahnhofsvorplatz festsitzen. Egon Kunze

    Kunze:Die Vopos stürmten mit aufgepflanztem Bajonett im Laufschritt auf die Demonstranten zu, die so gezwungen wurden, auf die vor ihnen abgestellten etwa 10 offenen Lastwagen aufzuspringen. Die Lkws wurden von der KVP sofort verschlossen und abtransportiert.