Donnerstag, 25. April 2024

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Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde"
Im Labyrinth der Fiktionen

Der Spiegel im Spiegel. Der Schriftsteller Peter Stamm erzählt in seinem neuen Roman von einem Schriftsteller, über den ein Film gedreht wird. Und es wird tatsächlich ein Film gedreht.

Von Maike Albath | 03.02.2023
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde"
Was kann ein Dokumentarfilm über jemanden preisgeben, der nichts von sich preisgeben will? Es geht in "In einer dunkelblauen Stunde" so postmodern selbstreferentiell zu, wie man es von Peter Stamm gewohnt ist, diesmal aber sogar über die Mediengrenze hinweg. (S. Fischer Verlag)
Eine junge Dokumentarfilmerin namens Andrea sitzt in einem kleinen Schweizer Dorf fest. Sie wartet auf den Schriftsteller Richard Wechsler, der eigentlich längst hätte eintreffen müssen. Zur Untätigkeit verdammt, schaut sich Andrea die bereits gedrehten Szenen auf ihrem Laptop an.
"Ich weiß nicht, wie viel Zeit mir bleibt, sagt Wechsler, aber wer weiß das schon? Es gab Momente, in denen mir das Ende näher schien als jetzt. Er steht am Ufer der Seine, der Himmel ist bedeckt, ein paar Tauben fliegen vorüber."

Das Spiel im Spiel

Zugespitzt, minimalistisch und lakonisch, so setzt der neue Roman „In einer dunkelblauen Stunde“ von Peter Stamm ein. Der erste Satz ist als Frage formuliert und deutet bereits auf den Kern der Geschichte hin, zugleich versetzt er das Raum-Zeit-Gefüge in Schwingungen. Die Figur spricht vom Ende, vom eigenen Ende – es handelt sich aber um den Anfang eines Buches und auch, wie sich wenige Zeilen weiter herausstellt, um die ersten Einstellungen eines Films.
Andrea, die Ich-Erzählerin des Romans, gibt die Perspektive vor, an sie richtet sich Wechsler. Gemeinsam mit ihrem eher unbedarften Freund, dem Kameramann Tom, arbeitet sie an einer Dokumentation über den Schriftsteller. Damit nicht genug. Auch über den realen Autor Peter Stamm gibt es nämlich einen Film, angeblich von einem Duo namens Tom und Andrea. In der realen Doku sitzen zwei junge Leute im Dunkeln neben der Kamera und stellen Fragen, der Schriftsteller hockt auf einem Stuhl vor einer weißen Mauer.
„'Wie kann so’n Film wie unserer einen Menschen darstellen – oder kann man überhaupt einen Menschen darstellen?' - 'Ich glaube, der Anspruch sollte nicht so hoch sein, aber das ist er auch nicht. Ich finde auch, diese Beschränkung – das sollte jetzt keine Beleidigung sein – diese Beschränkung zu sagen, wir machen einen Film darüber, wie der ein Buch schreibt und nicht, wir machen einen Film über den, finde ich eigentlich schon mal ganz gut. Weil sie viel mehr prozesshaft ist, nicht der Versuch zu zeigen, was diesen Menschen ausmacht, der sowieso hoffnungslos wäre, sondern einfach mal zu schauen, was da geschieht.' - 'Das heißt, du hast es auch niemals bereut, bei diesem Projekt hier mitzumachen oder daran gedacht, sogar auszusteigen…' - 'Ich habe mir nie überlegt, auszusteigen, denn dazu bin ich zu schweizerisch und zu anständig. Es ist auch wieder eine Erfahrung.'“

Wirklichkeiten zweiter und dritter Ordnung

Dies ist der echte, mit allen Wassern der Postmoderne gewaschene Peter Stamm - soweit man vor einer Kamera echt sein kann. Und die anderen beiden, Tom und Andrea, sind die echt? Wir haben es mit Wirklichkeiten erster, zweiter und dritter Ordnung zu tun, mit Konstruktionen voller Selbstreferentialität.
Als Doku-Fiction bezeichnen die Regisseure Arne Kohlweyer und Georg Isenmann ihren Film „Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt“. Schon in der ersten Szene begreift man, dass es eben nicht nur um Peter Stamm selbst geht, sondern, genau wie im Roman, ebenso um das Duo Tom und Andrea. Zudem ist das konkrete Manuskript, an dem Peter Stamm gerade arbeitet, Thema des Films. Und damit auch der fiktive Schriftsteller Richard Wechsler. Diese Romanfigur hat ein Werk verfasst, das dem von Peter Stamm nicht unähnlich ist.
Eine Geschichte gebiert also eine weitere Geschichte, die wiederum eine Geschichte gebiert. Dabei kommt es zu reizvollen Reibungen. Der Roman entfaltet eine starke Eigendynamik; auch entwickelt sich die Geschichte völlig anders, als man vermuten könnte. Zwar kreist die Handlung um Wechsler, aber Hauptheldin ist die Erzählerin Andrea. Ein bisschen ruppig, betont unsentimental und kurz davor, Tom in den Wind zu schießen, geht sie auch mit Wechsler eher flapsig um. Sie hat ein genaues Auge.
"Er lächelt. Er hat etwas Blaues in sich, ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll. Es ist glatt und glänzend und durchsichtig, mal scheint es fest wie Glas, mal wie ein Wassertropfen, der zerfließen könnte, wenn man ihn berührt. Das Blaue ist nicht sehr groß."
Auf Andreas Beobachtungen scheint auch der Titel des Romans zurückzugehen: Es handelt sich um einen Vers aus dem Gedicht „Blaue Stunde“ von Gottfried Benn, den sie wie nebenbei einmal zitiert, ohne die Quelle zu nennen: „In einer blauen, dunkelblauen Stunde, und wenn sie ging, weiß keiner, ob sie war“. Das Gedicht dreht sich um einen Mann, der mit der Frau eines anderen Mannes schläft. Darin steckt schon die Fabel von Peter Stamms Roman. Denn Andrea, die selbst mitten in einer Krise steckt, kommt einer geheim gehaltenen Liaison Wechslers auf die Schliche, und zwar einzig und allein, weil sie seine Bücher gründlich liest. Sie sucht die Pfarrerin des Ortes auf, Judith, eine Schulkameradin von Wechsler, verheiratet und Mutter zweier Töchter.
"Es ist nur eine Möglichkeit, sagt Judith. Was meint sie damit? Und: Alles hat sie mir nicht erzählt. Man kann nie alles erzählen. Die Stunden und die Tage, die sie miteinander verbracht haben, die Erregung, die Liebkosungen, der Sex. Die Begegnungen und die Abschiede, die Freude und die Verzweiflung. Eine Möglichkeit? Eine Version der Geschichte? Und was wäre Wechslers Version? Was wäre meine Version?"

Die Wahrheit gibt es nicht

Peter Stamm zitiert sich in „In einer dunkelblauen Stunde“ selbst, aber arbeitet mit markanten Verschiebungen. Seine Figur Andrea recherchiert in den Romanen von Wechsler, als seien es authentische Zeugnisse. Einer heißt „Alle Tage meines Lebens“, was an den Roman „An einem Tag wie diesem“ von Peter Stamm erinnert. Es gibt etliche thematische Überschneidungen, denn es geht um einen krebskranken Lehrer, der seine Gefühlsabstinenz zu überwinden versucht und zu seiner Jugendliebe zurückkehrt. Dieser Lehrer wohnt in Paris, wo Peter Stamm auch Richard Wechsler verortet. In dem Dokumentarfilm besucht er das Haus, das sein Held bewohnt.
“'On peut?' - 'Allez…' - 'Je sui un peu timide…' - 'Es war vorher das Haus eines Freundes, als ich 1983 in Paris gearbeitet habe, hat er hier gewohnt, und ich habe ihn oft besucht, und er hat mir eigentlich den Jazz beigebracht und mich auch in die Stadt eingeführt…' - 'J’aime la symétrie de la maison…' - 'Oui, c’est simple…' - 'Im Grunde hätte ich auch rein aus der Erinnerung arbeiten können, das wäre auch gegangen, aber ich hab’s immer ganz gern, wenn noch ein bisschen Realität mit rein kommt…'“
Und daraus mag jeder selbst seine Schlüsse ziehen. Ob im Film oder im Roman, längst sind wir eingesponnen in ein schillerndes Gewebe aus Erfundenem und Realem, und wie oft in Stamms Büchern entwickelt sich ein eigentümlicher Sog. Immer wieder werden die Bedingungen der Fiktion verhandelt.
Im Film taucht die Pastorin aus Peter Stamms Heimatdorf auf, mit der er auf Schweizerdeutsch über die Liebe spricht, was Authentizität suggeriert, auch seine Frau gibt ein Interview, und in einer leicht verkrampften Szene beugt sich Stamm mit seinem Lektor über die Rohfassung von „In einer dunkelblauen Stunde“. Stamms Romanheldin Andrea wechselt schließlich ihren Beruf, aber anders als viele der Lebensvermeider aus Peter Stamms Werk scheint sie nicht in Passivität zu erstarren, sondern die Kraft für Veränderungen aufzubringen.

Eine überzeugende existentielle Dimension

Es ist kein Zufall, dass seinem Roman ein Motto voransteht: „I know not what tomorrow will bring…“ Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa schrieb diesen Satz kurz vor seinem Tod nieder. Pessoa, der zu Lebzeiten kaum etwas veröffentlichte und eine kümmerliche Existenz als Handelskorrespondent fristete, hat sich in seinen Werken in verschiedene Dichter-Figuren aufgespalten, die er mit Namen, Biographien, Charakterzügen, ästhetischen Überzeugungen und sogar einem äußeren Erscheinungsbild versorgte. Er nannte sie „Heteronyme“ und schlüpfte lustvoll in die verschiedenen Häute hinein, weil sie ihm die Freiheit verschafften, ganz unterschiedliche Stillagen auszuprobieren. Peter Stamm bleibt bei seinem unterkühlten, präzisen Stil und dem durchgearbeiteten Satzbau. Aber wie Pessoa probiert er verschiedene Erzählinstanzen aus.
Es ist wahr, wir hatten ziemlich viel Spaß mit Richard, auch wenn er kein guter Witzeerzähler war oder vielleicht gerade deshalb. Es schien, als sei die Filmerei, als sei alles für ihn nur ein Spiel. Vermutlich habe ich ihn deshalb gemocht. Es war etwas Leichtes um ihn, etwas Leichtsinniges, Lebendiges, etwas Blaues. Vielleicht fange ich wieder an, Filme zu machen, sage ich.
„'Peter, welche Aspekte würde es nicht geben, wenn wir nicht dabei gewesen wären? Also, welche Aspekte in deinem Roman?' - 'Also 'wir' heißt jetzt?' - 'Andrea und ich.' - 'Ihr seid ja meine Figuren. Ich habe euch ja erfunden, von daher seid ihr automatisch immer dabei.'
Alles ist Erfindung, und auch davon erzählt der Roman. „In einer dunkelblauen Stunde“ erschöpft sich nicht in einem Maskenspiel, so amüsant sich dieses gestaltet, es gibt auch eine überzeugende existentielle Dimension. Und was ist mit dem Autor selbst, mit Peter Stamm, der hier spricht? Auch er ist, in gewisser Weise, eine Erfindung. Von wem auch immer.
Peter Stamm: "In einer dunkelblauen Stunde"
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
252 Seiten, 24 Euro.

 
"Wechselspiel – wenn Peter Stamm schreibt"
Regie: Arne Kohlweyer und Georg Isenmann
Dokuficiton, 52 Minuten, C-Films AG
Premiere auf den Solothurner Filmtagen 2023.