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Im Land der Morgenstille

Eine Terra incognita betrat Siegfried Genthe, also er im Juni 1901 in einer kleinen Hafenstadt sein Schiff verließ. Gut ein halbes Jahr bereiste er als erster deutscher Journalist Korea, das damals noch Tschôssönn hieß und durchstreifte auf teils abenteuerliche Weise das damals kaum erschlossene Land. Genau 100 Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint jetzt eine Neuausgabe dieser ersten umfassenden Reisebeschreibung von Korea.

Von Astrid Nettling | 14.09.2005
    " Stundenlang, ehe das Festland selbst zu Gesicht kommt, geht die Fahrt durch zahllose Inseln hindurch, die der stark zersplitterten Westküste vorgelagert sind. Kein Lüftchen regte sich, alles ringsum friedlich und still. Es ist, also ob man sich in ein verwunschenes Land einschliche. Und schließlich tun wir ja auch nichts anderes, wenn wir in Tschôssönn eindringen, in das "Land der Morgenfrische"."

    Tatsächlich war Korea weitgehend noch Terra incognita, als Siegfried Genthe im Juni 1901 in Tschemulpo, dem heutigen Inchon, einer kleinen Hafenstadt im Westen, an Land ging. Gut ein halbes Jahr bereiste er als erster deutscher Journalist im Auftrag der renommierten "Kölnischen Zeitung" Tschôssönn, so der alte Name für Korea, und durchstreifte auf teils abenteuerliche Weise das damals kaum erschlossene Land - weite Teile im Innern, die Diamantberge mit ihren buddhistischen Klöstern im Norden, die Vulkaninsel Cheju im Süden und natürlich Seoul, die Hauptstadt im Westen. Über zweihundert Jahre hatte sich Korea vollständig von der Außenwelt abgeschlossen, bevor 1876 Japan die Öffnung einiger seiner Häfen erzwang und das "Einsiedlerkönigreich" langsam, aber sicher in das Blickfeld europäischer wie außereuropäischer Mächte geriet. Noch tat sich nicht viel, als Genthe die fremde Welt Koreas betrat.

    Seit Hunderten von Jahren gestaltete sich das Leben der Menschen, ihre Sitten und Gebräuche, ihre Art zu wohnen, sich zu ernähren und zu kleiden, nahezu unverändert. Angefangen von der weißen Kleidung, die von Männern und Frauen gleichermaßen in der Stadt wie auf dem Land getragen wurde, bis hin zu ihren niemals ausgehenden Tabakspfeifen von fünfzig oder mehr Zentimetern Länge, die zu halten jede andere Tätigkeit reichlich erschwerte, wenn nicht gar verunmöglichte. Denn eins erfährt der Reisende auf Schritt und Tritt: "Man lebt hier im fernen Osten, wo der einzige, allen gemeinsame Reichtum Zeit ist." Dem muss auch Genthe sich anpassen, als er sich mit seiner kleinen Karawane, unzulänglichen Landkarten und einem Dolmetscher über pfadlose Bergketten zuerst in das Innere des Landes begibt. Seine Eindrücke von der überwältigenden Berglandschaft Koreas wie von den einfachen Bergdörfern, deren Bewohner den fremden, weißen Mann neugierig bestaunen und freundlich aufnehmen, hält Genthe in gelungenen Skizzen fest - und korrigiert dabei so manches Vorurteil. "Ich war auf das Schlimmste gefasst: Ungeziefer, Gerüche aller Art und jede nur erdenkliche Unbequemlichkeit. Aber wieder einmal war es mir versagt, das Martyrium zu durchleben, das manche Reisende das Geschick haben, überall zu finden."

    Weiter geht es zu den abgeschiedenen buddhistischen Klöstern in die Diamantberge im Norden, so benannt nach ihren etwa 12.000 wie Diamanten glitzernden Bergspitzen. Jahrhundertelang der Mittelpunkt des Buddhismus, überlebten nur vier der ehemals 180 Bergklöster die große Buddhistenverfolgung zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in deren Folge der Konfuzianismus als staatstragende Lehre in Korea eingeführt wurde. Durch halsbrecherische Kraxeleien erreichen Genthe und seine Karawane schließlich als erstes Changansa, das Kloster des "Ewigen Friedens", das Tor gleichsam zu den inneren Diamantbergen mit Yujomsa, dem "Ulmen-Kloster", als deren Glanzstück, in dessen 18 Tempel und Schreine umfassender Anlage sich der Buddhismus über die Jahrhunderte hinweg unverändert und lebendig erhalten hatte. Zeit für den Reisenden aus dem Westen, hier in der Ruhe "weltflüchtiger Einsamkeit und tatenloser Beschaulichkeit" über Lebensführung und Lebenssinn in Europa und Ostasien nachzusinnen.

    Anfang September trifft Genthe in Seoul ein, wo der Fremde sogar vom koreanischen Kaiser empfangen wird. Minuziös beschreibt er die Förmlichkeiten bei Hofe, die halbherzigen Modernisierungsversuche und Anfänge westlichen Lebensstils, wofür in der Hauptsache ein Fräulein Sonntag aus dem Elsass, die Vorsteherin des Kaiserhaushaltes, zuständig ist. Die Stadt selbst - ein graues Riesendorf mit kleinen, niedrigen Lehmhäusern, aber vollständig elektrifiziert. "Man traut seinen Augen kaum, es fährt der Koreaner zwischen Lehmhütten und Strohdächern in sausenden elektrischen Straßenbahnen umher" - was in dieser Zeit nicht einmal Städte wie Tokio, Peking oder Shanghai zu bieten hatten. Die letzten Wochen seiner Reise verbringt Genthe auf der südlichen Vulkaninsel Cheju, der "Insel am fernsten Horizont", die ihrem Namen alle Ehre macht.

    Noch unerschlossener als das koreanische Festland, gelingt ihm nur unter Schwierigkeiten die Erstbesteigung des heiligen Bergs Hala-san, dessen Großartigkeit ihn allerdings für alle Mühen reichlich entschädigt. "Rings um einen, nach allen Seiten, nichts als die leuchtende Bläue von Himmel und Meer." Nach lebensgefährlicher Fahrt mit einer koreanischen Dschunke erreicht er schließlich Anfang November im Hafen von Mokpo wieder koreanisches Festland, um es wenig später auf einem Dampfer in Richtung Japan zu verlassen. Mit Aufgeschlossenheit, Sympathie und Neugier sowie großem Respekt vor dem Fremden und kulturell Anderen reiste der deutsche Journalist Siegfried Genthe durch das "Land der Morgenfrische" - was sich seinem Leser auf wohltuende Weise mitteilt und seine Reiseschilderungen heute noch äußerst lesenswert macht. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie, in einer Umbruchszeit geschrieben, Einblicke in eine untergehende Welt vermitteln:

    " Lautlos wallen die weißen Gestalten vorbei, lautlos auf ihren weichen Sandalen aus Hanf oder Strohgeflecht. Seit undenklichen Zeiten muss dies Bild dasselbe gewesen sein. Und doch bricht eine neue Zeit an für dies märchenhaft verschlafene Land, das vielleicht noch rascher dem Ansturm westlicher Gedanken und Einrichtungen erliegen wird wie seine Nachbarländer, weil sein Volk hellere Köpfe und weitere Herzen hat."

    Siegfried Genthe
    "Korea - Reiseschilderungen"
    (Iudicium Verlag)