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Im Nebel der Ungewissheit

Nadia und ihr Mann Ange sind beliebte und engagierte Lehrer. Doch ihre heile Welt weicht ohne Vorwarnung: Nachbarn meiden das Ehepaar plötzlich, die bislang vertrauten Menschen und Orte werden bedrohlich und fremd. In dem aktuellen Roman Marie NDiayes, "Mein Herz in der Enge", greift die prominente französische Autorin das Thema der Fremdheit und Ungewissheit auf. Ein raffiniertes und zugleich beklemmendes Buch.

Von Katrin Hillgruber | 16.03.2009
    Marie NDiaye zählt zu den eigenwilligsten Stimmen der zeitgenössischen Literatur Frankreichs. Die unter anderem mit dem Prix Femina ausgezeichnete Autorin empfindet das Attribut "kafkaesk" für ihren unterkühlten Stil als Kompliment. Marie NDiaye wurde 1967 in Pithiviers bei Orléans geboren. Die Tochter einer Französin und eines Senegalesen lernte ihren Vater erst mit elf kennen. Sechs Jahre später wurde bei einem Wettbewerb ihr schriftstellerisches Talent entdeckt. Da stand ihr Berufswunsch längst fest.

    "Ich habe seit meiner Kindheit Bücher geschrieben. Das war eine Selbstverständlichkeit. Es war nicht einmal ein Wunsch, sondern eine Gewissheit. Ich war mir sicher, dass ich das später machen würde."

    In Frankreich erscheinen Marie NDiayes Bücher in der renommierten "Edition Minuit", die dem Nouveau Roman verpflichtet ist. Doch diese Strömung gehört für sie längst zur Literaturgeschichte. Viel eher zählt sie Joyce Carol Oates zu ihren Vorbildern, in deren psychologisch dichten Texten unzählige amerikanische Mädchen Gewalt erfuhren.

    Häufig thematisiert Marie NDiaye, eine "Mistress of Suspense", Rituale der Ausschließung, die sich auf höchst beunruhigende, ja schockierende Weise körperlich manifestieren. Diese Kunst erreicht in ihrem mittlerweile achten Roman "Mon cœur à l'étroit", "Mein Herz in der Enge", ihren unheimlichen Gipfel.

    Von einem Tag auf den anderen verstehen die Grundschullehrerin Nadia und ihr Mann Ange, ein Paar mittleren Alters, die Welt nicht mehr. Fünfzehn Jahre lang haben die beiden aufopferungsvoll und voller Idealismus ihren Beruf ausgeübt, haben selbst den Geruch der Schulgänge und Tafeln lieben gelernt. Doch eines Tages beginnen die Schulkinder, die Kollegen und Nachbarn ihren Blicken auszuweichen. Sie greifen sie scheinbar grundlos an.

    Der gutmütige Ange - im Wortsinn ein Engel - trägt eine schwärende Wunde davon und wird immer hinfälliger. Bald wagt er sich nicht mehr aus dem Haus. Nadia hingegen wird von Fremden angepöbelt und von Bekannten ignoriert. "Wir haben es an Demut fehlen lassen", wirft sie sich vor, "wir waren vor lauter guten Absichten blind". Gewalt an den Schulen, insbesondere gegen Lehrer, ist ein anhaltend aktuelles Thema. Hat sich Marie NDiaye, selbst Mutter dreier Kinder, von dieser Diskussion inspirieren lassen?

    "Nein, ich glaube nicht, dass mich dieses Thema beeinflusst hat. Eher hat mich ein gegenteiliges Phänomen inspiriert, eine Geschichte, die meinem Mann und mir passiert ist, als wir noch in der Normandie wohnten, im Westen Frankreichs. Anders als im Buch war dort ein Lehrer wegen Vergewaltigung von Kindern angezeigt worden. Und offenbar hat sich das in meinem Unterbewusstsein gewendet - das heißt, in meinem Buch sind die Lehrer zu Opfern geworden, während es in der Realität umgekehrt war. Ich glaube, dass mir dieser Vorfall die Ursprungsidee geliefert hat."

    Unter dem Vorwand, helfen zu wollen, schleicht sich ein höchst unangenehmer Nachbar in der Wohnung von Ange und Nadia ein und drängt ihnen ekelerregendes Essen auf. Nadia, Mutter eines erwachsenen und ihr längst entfremdeten Sohnes, bemerkt eine bedrohliche Zunahme ihres Leibesumfangs. Parallel dazu hüllt ein undurchdringlicher Nebel die Stadt ein. Bordeaux, die heitere südwestfranzösische Hafenstadt, ist kaum mehr wiederzuerkennen. Sie erinnert an das neblige London in diversen Kriminalfilmen oder Roman Polanskis Meisterwerk "Ekel". Was reizte die Autorin am Schauplatz Bordeaux?

    "Seit ich diese Stadt zum ersten Mal gesehen habe, empfand ich sie sowohl als sehr schön, als auch als sehr kalt. Es ist beinahe eine Gletscherstadt, finde ich, eine mineralische Stadt, in der es nur sehr wenige Bäume gibt. Es ist eine Stadt ganz aus Stein. Ich habe mich aber auch deshalb für Bordeaux entschieden, weil ich in der Nähe wohnte. Hätte ich in Lyon gewohnt, hätte ich Lyon verwendet, hätte ich in Lille gewohnt, dann eben Lille. Es ist aber so, dass die Stadt Bordeaux sich für meine Zwecke recht gut eignete. Das, was an dem Nebel literarisch ist, ist seine Übertreibung. Aber es gibt dort tatsächlich Nebel wegen der Garonne, die durch die Stadt fließt. Dieses Phänomen - ich möchte jetzt nichts Falsches sagen - hat mit der Temperatur des Flusses zu tun. Die Garonne ist wärmer als die Luft, so dass Dampf entsteht, Nebel."

    Mit dem zunehmenden Nebel verschwimmen alle möglichen Erklärungen. Unter dem dünnen Firnis der Zivilisation brechen Zorn und Ohnmacht durch. Dabei muss sich der Leser ganz auf Nadias Wahrnehmung verlassen, also auf die Wahrnehmung einer der beiden Ausgegrenzten oder Gemobbten. Mimetisch ist die latente Bedrohung mitzuerleben, die Einkreisung der Ich-Erzählerin, die sich zu wehren sucht, ihren Empfindungen aber nicht mehr trauen kann.

    Die feindselige Außenwelt spiegelt sich in Nadias körperlichen Missempfindungen. Doch die Frau, die zunächst als Opfer erscheint, wandelt sich unmerklich, je mehr sie von ihrem undurchsichtigen Vorleben preisgibt. Dabei schwingt stets ein Hauch von afrikanischem Ahnenkult mit. "Mein Herz in der Enge" ist der erste Roman, den Marie NDiaye im Präsens und in der Ich-Form schrieb.

    "Das diente dazu, den Leser niemals aus Nadias Perspektive zu entlassen. Man soll vollständig in ihrem Denken aufgehen und nicht genau wissen, ob das, was sie sagt und denkt, der Realität entspricht, ob es wahr ist. Man soll das Gehörte bezweifeln können. Denn wenn man die Geschehnisse in der dritten Person beschreibt, ist der Leser gezwungen, dem zu glauben. So aber bleibt immer ein Zweifel. Ich finde die Ich-Form schwieriger, da man sich nie vom Standpunkt der Erzählerin entfernen kann. Als Autorin kann man dadurch keine eigene Sichtweise haben und sich auch kein Urteil über die Erzählerin erlauben. Das ist in der Tat schwieriger."

    Das Motiv der Fremdheit hat für Marie NDiayes Werk zentrale Bedeutung. Sieht sie dafür autobiografische Gründe?

    "Ja, das nehme ich an, denn ich lebte als Mischlingskind zu einer Zeit in Frankreich, als das noch recht selten war. Gleichzeitig war ich durch und durch Französin. Ich hatte wohl schon sehr früh das Gefühl - nicht von Fremdheit, aber doch einer gewissen Differenz gegenüber meinem Land und meiner Sprache, ja meiner Kultur. Darunter habe ich aber nie gelitten, es war vielmehr eine Konstante. Es war einfach so."

    Am Ende von "Mein Herz in der Enge" ist nichts, wie es zu Anfang schien. Die Auflösung von Nadias Paranoia erschreckt nicht weniger als diese selbst. Gut möglich übrigens, dass sich Marie NDiayes kunstvolle Alpträume demnächst in deutschen Kulissen abspielen: Die Schriftstellerin ist mit ihrer Familie vor knapp zwei Jahren nach Berlin gezogen und arbeitet an einem neuen Stoff.

    Marie NDiaye: Mein Herz in der Enge
    Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 285 Seiten, 22,80 Euro