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Im Paradies der Paradeiser

Über 3200 Sorten Paradeiser, wie in Österreich die Tomaten genannt werden, züchtet Erich Stekovics. In seinem Heimatort Frauenkirchen im österreichischen Burgenland lädt er Touristen und Tomatenliebhaber zur Verkostung auf seine Felder ein.

Von Stefan May | 04.10.2009
    "Willkommen im Paradies der Paradeiser" prangt auf einem bunten Plakat über der Eingangstür zum Hof der Familie Stekovics. Der hat drinnen weiß getünchte Mauern, zwischen dessen steinernen Arkaden bündelweise Knoblauchzöpfe im Wind baumeln. Nussbäume spenden natürlichen Schatten und der Hausherr serviert den Neuankömmlingen zur Einstimmung auf das, was in den nächsten dreieinhalb Stunden kommt - Tomatenfrizzante, der aus Paradeisern und Lavendel gekocht wird.

    Erich Stekovics hat sich die Kulturtechnik von seinem Vater in dessen landwirtschaftlichen Nebenbetrieb abgeschaut. 2002 begann er mit der Saatgutvermehrung: 70 Sorten waren es vorerst. Ein Jahr später kultivierte er bereits 1265 verschiedene Tomatensorten. Damals wurde die Öffentlichkeit aufmerksam auf ihn. Wie kann es zu so einer Liebe zu dem roten Gemüse kommen, das streng genommen gar kein Gemüse, sondern Obst ist, wurde er gefragt.

    "Es ist immer so, wie jede Liebe entsteht: Man beißt hinein und spürt es einfach."

    Inzwischen baut Stekovics 3200 verschiedene Tomatensorten an, im Fünfjahresrhythmus jeweils 600 andere. Es ist kurz vor vier am Nachmittag, dem Beginn der Führung durch das Paradeiser-Paradies, der Zeit des besten Lichts für die Präsentation der Früchte. Urlauber aus Deutschland und der Schweiz, Österreicher aus verschiedenen Bundesländern, haben sich eingefunden.

    Alsbald setzt sich ein Konvoi aus einem Dutzend Autos, wie ein kleiner burgenländischer Hochzeitszug, über einen engen Feldweg in Bewegung, hinaus auf das Feld, die Plantage, wo derzeit 600 Tomatensorten reifen. Ein wenig scheu schälen sich die Insassen aus den Wagen und mustern die weite strubbelige 400 Meter lange grüne Fläche, die sich vorerst nur als wirres Blätterwerk darstellt, aus dem gelbe Strohhalme lugen.

    "Ich möchte einfach sie durch einen landwirtschaftlichen Betrieb führen, wo sie die Möglichkeit haben, von vielen Sorten auch zu essen, greifen sie einfach selbst dann hinein, nehmen sie sich eine heraus, eine vollreife, und wenn sie aufgeplatzt ist, dann nehmen sie sie nicht, denn dann schmeckt sie nicht so gut."

    Da steht er vor seinem Feld: ein stämmiger Jungbauer in rotem Shirt und kurzer Hose, tief braungebrannt von der Feldarbeit und mit freundlich-burgenländischem Akzent. 80 Kilometer in der einen Richtung sieht man den Schneeberg, in der anderen Richtung die kleine ungarische Tiefebene. Durchschnittlich ein Grad weniger als in Nizza hat es hier. Bei 300 Sonnentagen und sanftem Wind, der von der Puszta herweht, sind die Voraussetzungen ideal für das Gedeihen der Stekovicsschen Spezialitäten.

    "Der Mensch, der so ein bisschen durch den Lebenswind gegangen ist - er darf natürlich nicht zu stürmisch sein, dass man daran zerbricht, - aber ein Mensch, der einfach nur unter der Glocke groß geworden ist, kann nicht viel erzählen. Und das ist nicht so interessant. Und auch die Früchte, die einfach dieser Bewegung des Windes ausgesetzt sind, haben wirklich einen intensiven Geschmack. 90 Prozent der Paradeiser, die sie heute zu kaufen bekommen, wachsen weder auf Stroh, wachsen weder auf Erde, sondern nur mehr auf Nährstofflösungen. Das heißt 60 Kilogramm pro Quadratmeter. Und wir reden hier von einem Kilogramm pro Quadratmeter."

    Der Stekovics-Betrieb ist heute der einzige in Österreich, der noch Tomaten im Freien züchtet. Alle anderen verwenden Folien- und Glashäuser; wie dieser burgenländische Bauer überhaupt gerne gegen den Strom schwimmt. Lehrbüchern misstraut er, jenen, in denen steht, Paradeiser würden viel Wasser brauchen und müssten "ausgegeizt", also regelmäßig ausgeschnitten werden. Seine Devise lautet: Niemals gießen und einfach wachsen lassen, unten auf der Erde, nahe am trockenen Weizenstroh, wo es bis zu 60 Grad Wärme bekommt. Das mögen die Paradeiser, wie wir merken, als wir das Feld betreten. Erich Stekovits hebt das buschige Grün an und zeigt auf die rote Fruchtpracht darunter:

    "Schauen Sie her, da schauen Sie her. Ich zeig es Ihnen einmal so, schaun Sie her: So kann das sein, wenn sie es nicht ausgeizen. Sie können ruhig essen. Ich bin der lebende Beweis dafür, dass Paradeiser nicht anschlagen."

    "Ganz mild, ganz frühreif, robust, reichst-tragend, die trägt und trägt. Und wenn ich sie ihnen jetzt aufschneide, leider stehe ich im verkehrten Licht, dann werden sie erst sehen, wie schön die innen ist: Green Moldavian."

    Stekovics zieht ein Messer aus der Tasche, trennt eine Frucht ab, schneidet Scheiben herunter wie von einem Brotlaib und reicht sie an die Umstehenden, als wären es hauchdünne Blätter eines Carpaccio. Untypisch grün sind sie, saftig und mit ungewohnt kräftigem Eigengeschmack.

    Auf den schmalen Wegen zwischen den Beeten begegnen wir vielen anderen Sorten: der russischen Reisetomate, dem widerstandsfähigen Ochsenherz, der Dattelwein mit birnen- und dattelförmigen Früchten auf demselben Stock, der rosafarbenen schlesischen Himbeere und der Black Plumb, aus der sich Sugo, Süßspeisen und Kompotte zubereiten lassen. Und wir machen Bekanntschaft mit der Paul Robson:

    "Die ist benannt worden nach einem afroamerikanischen Musiker, der in Moskau ein Konzert gegeben hat in den 70er-Jahren. Und nachdem das Konzert so gut gelungen war, hat man ihm eine ganz eine alte Paradeis-Sorte gewidmet. Nachdem er sich auch noch dazu bekannt hat, dass er kommunistisch war, hat man ihm diese wunderbare Sorte [gewidmet]. Da schaun Sie her: Paul Robson. Gibt vermutlich keine bessere Salatparadeis."

    "Die Paradeis ist eine Hohlparadeis. Wenn man bei ihr draufschlägt, klingt sie ganz hohl, wird auch Paprikaparadeis genannt. Innen drinnen versteckt sich eine kleine Erdbeere, die ist dann irrsinnig schön rot, wenn sie reif ist, natürlich. Sieht fast aus wie ein Juwelengehäuse. Mit diesen Kammern, die da drinnen sind, lässt sie sich natürlich für jedes kalte Buffet verwenden. Sie füllen eine Kammer zum Beispiel mit einem rosa Liptaueraufstrich, hier ein Eiaufstrich, hier einen Knoblauchaufstrich - in verschiedenen Farben. Sie können das dann im Buffet mitessen, das heißt, Sie stellen das hin, schaut irrsinnig schön aus. Und stellen Sie sich vor, Sie machen jemandem so einen Paradeisersalat, keiner würde vermuten, dass es sich hier um Paradeiser handelt, aber es sind Paradeiser."

    Dann kniet sich der landwirtschaftliche Reiseführer nieder, schneidet eine Tomate entzwei und hält sie wie eine aufgeklappte Taschenuhr in die Höhe:

    "Die sogenannte Marillenparadeis, ich schneide sie Ihnen einmal auseinander, damit Sie sehen, wie toll die ist. Bitte schön der Herr."

    "Danke schön."

    Schon lange haben die etwa 20 Gäste die anfängliche Zurückhaltung abgelegt, greifen da und dort unter die Blätter und fischen Tomaten heraus. Das Gefühl beim Suchen nach den roten, gelben und grünen Früchten ähnelt dem kindlichen Kribbeln einer Ostereiersuche. Auch Schnaps lässt sich aus den Allroundfrüchten fabrizieren:

    "Entstehen tun aus 1600 Kilogramm Paradeiser zehn Liter Schnaps. Aber schmeckt super. Dann fragen mich die Leute: Für was verwenden? Ich sage immer: Wie ein Parfum. Dann bist du in einem Preissegment drinnen, wo du sagst, wer kauft dir das ab? Das waren 50 Flaschen zu 0,2. Dann habe ich mir gedacht, die verkaufe ich nie. Dann ist ein deutscher Reisebus gekommen mit lauter Bayern. Da hat einer von den Männern angefangen zu kaufen, und er war weg."

    Wir kommen noch an Stekovics' Lieblingssorte, dem gelben Johannisbeerparadeiser vorbei, unter dessen auf der Erde sich entlang schlängelnden bis zu 14 Meter langem Stock bis zu 6000 Früchte reifen. Und plötzlich steht die kleine Prozession nach ihrem Streifzug über das Feld wieder am Ausgangspunkt. Einer aus der kleinen Gruppe ist Karl Pokorny, von Beruf Offizier des österreichischen Bundesheeres. Er wohnt auf der anderen Seite des Sees, in der Landeshauptstadt Eisenstadt.

    "Der Stekovics-Name ist in Eisenstadt, im Nordburgenland, eigentlich als Nobelmarke bekannt. Aber ich habe eigentlich nicht gewusst, aus welcher Region und wie diese Produkte am Feld wachsen und wie das entsteht. Und ich war beeindruckt eigentlich von der Philosophie, wie diese Paradeiser und Paprikas im Seewinkel wachsen. Und das hat mich eigentlich total überzeugt: Die Idee, die dahinter ist, auf den Ursprung zurückzugehen und mit wenig Technologie, mit dem natürlichen Know-how, das von den Großeltern und von den Eltern übergeben wurde, wie man eigentlich sorgsam auch mit der Natur umgehen kann."

    Wieder zurück wäscht sich die Gruppe im Hof erst mal die Hände, bevor es zu einer abschließenden Verkostung anderer Produkte ins Haus geht: eine Gurke namens Umurke, Chili-Honig, getrocknete Tomaten in Distelöl, Erdbeermarmelade von der Sorte Mitzi Schindler und Walnüsse, die gebraten und mit Knoblauch und Chili zu einer Paste verarbeitet werden - eine verblüffende Vielfalt dessen, was die weite Ebene des Seewinkels an Schmackhaftem hervorzubringen im Stande ist.
    Erich Stekovics züchtet 3200 Sorten Tomaten im österreichischen Burgenland.
    Unterwegs auf den Tomatenfelder (Stefan May)