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Im Reich der roten Königin

Ökologie. - Die Umwelt beeinflusst die Gene einer Art - so lautet das grundlegende Prinzip der Evolution. Doch wie genau der Umwelteinfluss das Erbmolekül DNA formt und wie schnell das geht, das ist weitgehend unbekannt. Offenbar gilt auf diesem Feld eine Maxime, die der britische Autor Lewis Carroll in "Alice hinter den Spiegeln" seiner roten Königin in den Mund legte.

Von Michael Lange | 23.02.2012
    In Ökosystemen leben viele Arten zusammen in einem scheinbaren Gleichgewicht. Wenn man jedoch genauer hinschaut, ist nicht die Konstanz sondern die Dynamik das Prinzip der Ökologie. Tiere, Pflanzen und Mikroorganismen verändern sich ständig. Sie reagieren auf ihre Umwelt. Und dabei kommt es zu einer Art Evolutions-Rennen. Um es zu beschreiben wählten Evolutionstheoretiker ein Zitat aus der Literatur. Lewis Carroll lässt in seinem Buch "Alice hinter den Spiegeln" die Schachfigur der roten Königin sagen:

    Hierzulande musst du so schnell rennen, wie du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.

    Auf die Biologie übertragen bedeutet das: Lebewesen müssen sich verändern, um ihre ökologische Nische zu verteidigen, so der Physiker Michael Lässig vom Institut für Theoretische Physik der Universität zu Köln.

    "Es kommt nur darauf an, ob man sich gegen seine Wettbewerber in einem ökologischen Umfeld durchsetzen kann oder nicht. Und häufig ist es so, dass schnelle Evolution erforderlich ist, um im Feld der Mitbewerber mithalten zu können"

    Als Physiker interessiert sich Michael Lässig für die Daten, wie sie die Genforschung in immer größeren Mengen liefert. Ihre Analyse ermögliche es heute, die Evolution in Aktion zu erleben. Es ist eine Art Rennen. Ausgetragen wird es auf der Ebene der Gene. Dieser Wettstreit ist eine wichtige Triebfeder der biologischen Evolution. Michael Lässig erforscht dieses Rennen bei Influenza-Viren. Denn der Grippe-Erreger verändert sein Erbmaterial besonders schnell.

    "Er hat eine Entwicklung mitgemacht in manchen Teilen seines Genoms, die dem entspricht, was eine Fliege in mehreren Millionen Jahren macht. Das heißt: Wir sehen hier Evolution komprimiert auf relativ kurze Zeiträume. Und damit können wir natürlich die Dynamik von solchen Veränderungen sehr gut studieren."

    Die Weltgesundheitsorganisation WHO sammelt seit über 40 Jahren genetische Daten von Influenza-Viren. Die Kölner Physiker haben die Daten aus unterschiedlichen Viren-Jahrgängen verglichen und ermitteln nun die Gesetze der Viren-Evolution. Angetrieben wird sie durch einen Wettkampf der Viren mit dem menschlichen Immunsystem.

    "Die Viren müssen ihre Proteine verändern, so dass sie nach wie vor an die menschlichen Zellen andocken können, und dann diesen Infektionsprozess starten können. Das menschliche Immunsystem entwickelt Mechanismen, das möglichst zu verhindern. Und das ist der konkrete Wettbewerb, der bei diesen Viren stattfindet. Er findet auf molekularer Ebene statt."

    Kämen im nächsten Jahr die gleichen Viren wie im Vorjahr, so hätten sie gegen das menschliche Immunsystem keine Chance. Denn das Immunsystem vieler Menschen ist vorbereitet. Die Viren müssen sich verändern, um Menschen stets aufs Neue infizieren zu können. Konkrete Auswirkungen haben die Ergebnisse der Kölner Forscher bislang nicht. Mit welchen genetischen Tricks Grippeviren den Menschen in Zukunft bedrohen werden, können sie nicht vorhersagen.

    "Es geht ja vielleicht auch nur darum, die Evolution ein paar Monate abschätzen zu können, so dass man weiß, was nächsten Winter vielleicht passiert. Und das ist etwas, was zumindest in Reichweite zu sein scheint."

    Bei Viren lässt sich die Hypothese der Roten Königin besonders gut erforschen, da die Veränderungen extrem schnell ablaufen. Aber auch Pflanzen, Tiere und Menschen verändern ihr genetisches Innenleben in einer Art Wettrennen, wenn auch viel langsamer. Das Prinzip ist immer das gleiche: Schnell laufen, damit man bleibt, wo man ist.