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Im Reich des Donnerdrachens

Bogenschießen ist Bhutans Nationalsport - und weit mehr: Es ist ein Ritual, überkommen aus alten Zeiten, als Pfeil und Bogen noch Kriegswaffen waren und bei magischen Kulthandlungen Dämonen und Geister vertreiben sollten. Bogenschützenturniere sind Volksfeste, zu denen ganze Dörfer aus dem Himalaya-Königreich zusammenströmen.

Von Lottemi Doormann | 29.03.2009
    Auf dem Bha Cho, dem großen Bogenschießplatz in der Hauptstadt Thimphu, wetteifern gerade zwei bhutanische Mannschaften um die meisten Treffer. Ein Pfeil schwirrt durch die Luft, kaum wahrnehmbar, trifft mit dumpfem Schlag die Zielscheibe, unglaubliche 140 Meter weit vom Bogenschützen entfernt.

    Jubelgeschrei ertönt, die Männer im rot karierten Gho, einem kittelähnlichen, Traditionsgewand, singen und tanzen.

    Auf diesem Platz in 2500 Meter Höhe beginnt unsere erste Lektion im Bogenschießen. Hier übergibt uns Bogenmeister Sangay, der einen schwarzen Gho mit weißen Ärmelstulpen trägt, unseren eigenen Bambusbogen. Noch nie habe ich einen Bogen in der Hand gehabt, er kommt mir riesig vor.

    Sangay umwickelt meinen linken Unterarm mit einem dicken Stoffstreifen, um ihn vor der zurückschnellenden Bogensehne zu schützen. Dann zeigt er mir, wie ich den Bogen in der Mitte mit der Faust umgreifen und den Daumen ausrichten muss. Nun lege ich mit der rechten Hand den Pfeil an und ziehe mit voller Kraft an der Sehne.

    Doch da schwirrt nichts durch die Luft, der Pfeil fällt herunter, zu meinen Füßen in den Sand...
    Drei aus unserer Gruppe sind geübte Bogenschützen, zwei haben schon mal im Urlaub trainiert, immerhin fünfen geht es wie mir, sie sind mit Pfeil und Bogen völlig unerfahren. Zum Beispiel die Sozialwissenschaftlerin Claudia, 43 Jahre alt, aus Castrop-Rauxel:

    "Ich bin jetzt ganz schön erschöpft, dafür, dass es nur ein paar Minuten waren, die man da jeweils gestanden hat, fand ich es ganz schön anstrengend. - Und wie ist es dir gelungen, damit umzugehen? - Am Anfang so gut wie gar nicht. Da war ich ganz schön verzweifelt. Aber dann ging es nach und nach. Wenn man ein bisschen den Bogen raus... Aber das Ziel habe ich noch nicht getroffen. Ich werd wohl noch weiter üben müssen."

    Bogenschießen ist Bhutans Nationalsport - und weit mehr: Es ist ein Ritual, überkommen aus alten Zeiten, als Pfeil und Bogen noch Kriegswaffen waren und bei magischen Kulthandlungen Dämonen und Geister vertreiben sollten. Bogenschützenturniere sind Volksfeste, zu denen ganze Dörfer zusammenströmen. Jeder noch so kleine Ort hat einen Schießplatz. Oft ist er kaum mehr als ein Grasfeld, begrenzt von einem Erdwall, vor dem ein bemaltes Holzbrett als Zielscheibe steht. Bei keinem wichtigen Ereignis darf das Bogenschießen fehlen. Diese Rituale wollen wir auf einer zweiwöchigen Reise durch das buddhistische Königreich im Himalaya kennen lernen, indem wir selbst als Bogenschützen an Turnieren teilnehmen. Dafür werden wir an unterschiedlichen Orten in Bhutan trainieren, begleitet von Sangay, seiner Freundin Cherup, seinem Freund Chimi und dem Tourguide Nyendra, einem 32-Jährigen, der in Indien studiert hat.

    Von Thimphu, vielleicht der einzigen Hauptstadt der Welt, in der es keine Ampel gibt und selbst die Tankstelle wie ein Tempel aussieht, schraubt sich die Straße Richtung Osten zum Dochula-Pass hinauf. Dichter Wald bedeckt die Berghänge noch in über 3000 Meter Höhe. Auf dem Pass flattern hunderte Gebetsfahnen in fünf Farben im kalten Wind. 108 buddhistische Chorten, tempelartige Schreine, ziehen sich an einem Hang entlang. Königin Ashi Dorji Wangmo hat sie hier oben aufstellen lassen, nach dem Sieg der bhutanischen Armee 2003 über indische Separatisten, erzählt Nyendra.

    Nebel wabert über die Dächer der Chorten und verdirbt uns die Sicht auf sieben 7000er-Gipfel.

    Am Wegesrand steht eine einsame Händlerin und bietet chugo an, in Würfel geschnittenen, auf Ketten gezogenen und wochenlang über der Feuerstelle geräucherten Käse, der steinhart ist.

    Nach einer langen Fahrt durchs Gebirge auf der holprigen, vom Monsun aufgeweichten Piste über den Pelela-Pass bremst unser Fahrer. In der Kurve unter uns leuchtet der weiße Chendebji-Chorten; seine vier aufgemalten Augenpaare blicken in alle Himmelsrichtungen. Auf diesen abgeschiedenen Platz, 3400 Meter hoch gelegen, wo die urwaldbedeckten Bergflanken und die Wolken ganz nahe rücken, schleppen Sangay und Chimi unsere Pfeile und Bögen. Sie stellen in 60 Meter Entfernung die hölzernen Zielscheiben
    auf, und die zweite Übungsrunde beginnt.

    Schweigend zeigt mir Bogenmeister Sangay, der nur wenig Englisch spricht, wie ich das Ziel mit dem Zeigefinger anpeilen, die Sehne kräftig nach außen ziehen und blitzschnell loslassen muss. Schon als Zehnjähriger hat Sangay mit dem Bogenschießen angefangen. 2005 gehörte er zum Siegerteam bei den nationalen Meisterschaften. Obwohl er erst 30 ist, strahlt er eine würdevolle Achtsamkeit aus. Und allmählich mache ich Fortschritte. Auch die Könner in der Gruppe helfen weiter.

    " Ja! - Jetzt ist kein Wind mehr, oder? - Genau, die Richtung ist ganz grade. - Prima! - Du musst jetzt ein bisschen tiefer. - Ja. - Ja, tiefer, du hast' n Meter noch was drüber. Aber die Richtung war sauber. Ja! - Gut! Guck mal, er fällt dir auch nicht mehr runter. Ne, runter fällt er mir nicht mehr. "

    Und wie sich Sangay und Chimi freuen, als wir die ersten Treffer landen! Als wäre es ein Punkt für sie. Nur Cherup, Sangays Freundin, hockt abseits am Rand des Feldes. Bhutanische Frauen sind als Bogenschützen traditionell nicht erwünscht. Auch wenn Frauen seit 1984 in dieser Disziplin an den Olympischen Spielen teilnehmen - Schießen bleibt Männersache. Cherup ist das egal. Sie ist 20, hat gerade die Schule hinter sich und wird bald in Indien "Business Management" studieren.

    Wir fahren weiter gen Osten, auf der einzigen Straße, die quer durch das Land führt, zum Distrikt Bumthang in Zentralbhutan. Unterwegs halten wir am Dzong von Trongsa, einer mächtigen Klosterburg, die sich strategisch günstig auf einem Bergrücken erstreckt. Wer immer auf der Straße nach Osten oder Westen will, muss an der Burg vorbei. Nyendra, Sangay und Chimi dürfen den Dzong nur im Gho mit weißem Zeremonienschal betreten, Cherup trägt eine Kira mit buntem Schal, das Traditionsgewand der Frauen.

    Große Gebetsmühlen stehen in verwinkelten Durchgängen der Burg. Jede einzelne enthält eine Milliarde Gebete, sagt Nyendra. Wenn man nur eine Runde dreht, macht das also eine Milliarde Gebete.

    Im Labyrinth der Innenhöfe mit unzähligen Tempeln erblicken wir eine Schar junger Mönche in bordeauxroten Gewändern, die im Gänsemarsch hinter ihrem Lehrmeister her schreiten. Ein paar hundert Mönche leben im Dzong, außerdem hat die Distriktverwaltung hier ihren Sitz. Gerade werden auf den Korridoren die Böden gebohnert. Weil morgen der König käme, heißt es.

    Nichts ist in Bhutan so prächtig wie die etwa 20 Dzongs, die Hochburgen des Buddhismus. Sie sind zugleich Klöster und Regierungssitze. Königspaläste gibt es nicht im Königreich, Seine Majestät wohnt bescheiden etwas außerhalb von Thimphu in einem traditionellen Holzhaus. Erst hundert Jahre alt ist die Monarchie in Bhutan, während der Buddhismus schon im siebten Jahrhundert ins Himalaya-Land kam.

    Draußen vor der Klosterburg verrät mir Chimi, dass auch er früher Mönch war. Cherup übersetzt.

    Er ist ein Bauernsohn mit neun Geschwistern. Mit zehn Jahren schickten ihn seine Eltern als Mönch in einen Dzong. In Bhutan ist es üblich, dass Familien eins ihrer Kinder für eine Erziehung im Kloster auswählen. Chimi blieb, bis er 17 war. Dann wollte er Musiker werden, aber die Eltern waren zu arm, um ihn zu unterstützen. Da ging er zu Königin Ashi und bat sie um Hilfe.

    Die Königin engagierte ihn, damit er für sie musiziere, wenn sie im Lande unterwegs ist. Heute ist Chimi 41, er ist verheiratet, hat zwei Kinder und einen festen Job am Flughafen von Paro. Außerdem hat er sieben Musikalben aufgenommen.

    Weil die Königin ihm geholfen hat, ist er jetzt glücklich mit seinem Leben.

    Das klingt märchenhaft, ist aber nicht ungewöhnlich. Wer in Bhutan ein Problem hat, kann im Dzong von Thimphu auch zum König in die Sprechstunde gehen, sagt Nyendra:

    "Wenn ich Hilfe brauche, gehe ich zuerst zu einem Sekretär mit einem Gesuch, und dann kann ich den König sehen. Jeder, der wirklich soziale Probleme hat, zum Beispiel Land braucht, weil er viele Kinder hat, kann zum König gehen und um Land bitten. Das wird nachgeprüft, und wenn ich nicht gelogen habe, gibt es eine gute Lösung für meine Probleme."

    Wir lassen die Trongsa-Burg hinter uns und fahren über den 3400 Meter hohen Yutongla-Pass weiter zu den vier großen Tälern von Bumthang. Diesmal soll das Bogenschießen bei einem zweitägigen Trekking im Chamkar-Tal stattfinden. Für den Transport hat Nyendra Verstärkung bestellt. Himalaya-Pferde tragen unser Gepäck und die Bögen, ein halbwüchsiger Junge trottet mit einem Sack voller Köcher hinterher.
    Wir wandern durch eine bäuerliche Gegend, zwischen rötlichen Buchweizenfeldern und Schuppen aus geflochtenem Bambus. Am Wegesrand hockt eine Frau auf dem Boden und webt einen viele Meter langen dreifarbigen Zeremonienschal, während ein junges Mädchen mit den Garnrollen hin- und hergeht. 70 Prozent der 700.000 Bhutaner sind Bauern, die das, was sie zum Leben brauchen, selbst anbauen und herstellen.

    Am Nachmittag erreichen wir das Camp und werden schon erwartet. In der Mitte des Platzes ist ein großes Zelt aufgebaut, vor dem sich Familien mit Kind und Kegel niedergelassen haben. Tische und Bänke stehen bereit, Bäuerinnen zeigen schüchtern auf Thermoskannen mit heißem Wasser für Tee und Nescafé. Hier, mitten in der Natur, hat Nyendra ein Turnierfest für uns organisiert.

    Zwei bhutanische Bogenschützenteams haben schon angefangen zu schießen, während vor dem Festzelt Bäuerinnen in Kira-Tracht im Kreis tanzen und die immergleiche meditative Melodie singen.

    Dann sind wir gefordert. Chimi stellt drei Mannschaften aus je vier Bhutanern und drei Deutschen zusammen, die gegeneinander antreten sollen. Jeder hat zwei Pfeile, nach jeder Runde werden die Einschläge in den Kreisen der Zielscheibe begutachtet und nach einem komplizierten Punktesystem gezählt.

    Immer mehr Zuschauer lassen sich neben dem Schießfeld nieder. Zum karierten Gho tragen sie Kniestrümpfe mit Turnschuhen oder Gummistiefeln, sie feuern lauthals die Schützen an oder stören sie, lachen über Fehlschüsse und springen jubelnd auf, wenn ein Pfeil trifft, egal, von welcher Mannschaft. Jeder Treffer wird von den bhutanischen Schützen betanzt und besungen, wie es das Ritual verlangt, mit einem Freudenlied, das mit einem "Ho-ho-ho" endet.

    Wir schießen den ganzen Nachmittag lang. Es ist ein Spiel ohne Verbissenheit. Dabei werden die Regeln durchaus ernst genommen. Doch bevor ein Team die sieben Punkte zum Sieg erringt, wird es stockdunkel. So gewinnt am Ende keiner. Am wichtigsten war unserer Gruppe sowieso die Erfahrung:

    "Dass wir mittendrin waren, mit den Bhutanern zusammen, und haben zusammen ein Spiel gemacht. Und haben zusammen gelacht. Und für die war es ein Fest und für uns auch. Es war so zwanglos, wir hatten einfach Spaß miteinander. Und die Frauen haben mich auch aufgefordert, mit zu tanzen. Und dann haben wir miteinander eine Runde getanzt, und das war einfach schön, über Blickkontakt und Körpersprache einfach mitgemacht. Es ging gar nicht so ums Gelingen, obwohl man den andern immer veräppelt hat, die andere Gruppe, ja, sich gefreut hat, wenn er gewonnen hat, aber es war einfach nur witzig. Es war total schön. Ja, und dann hatten sie ja auch noch Tee und was zu trinken und Kekse. Und auch im richtigen Moment, als einem kalt wurde. Und sie haben auch mit zugejubelt und waren oben gesessen, um zuzuschauen. War schön! Wirklich so ein Sonntagsvergnügen, wir alle zusammen. Keine touristische Attraktion, wo wir da sitzen und die machen dort was, sondern wir machen das zusammen. Gut, dass wir wirklich allein hier waren, mit zehn Mann."

    Es ist kalt geworden. Vorm Festzelt brennt ein großes Feuer, um das neben den Frauen nun auch die Männer, bhutanische und deutsche Schützen, tanzen. Nach dem Abendessen - wie immer gibt es Suppe, roten Reis mit Yakfleisch und Chili-Gemüse - spielt Chimi auf der Dranyen, einem langen, bauchigen Saiteninstrument, das er den ganzen Weg bis zum Camp getragen hat.

    Dann sitzen wir am Feuer, trinken heimischen Whisky, mit heißem Wasser verdünnt, und sprechen über "Gross National Happiness", das Bruttonationalglück, das der beliebte Vierte König, Jigme Singye Wangchuk, schon in den 1980er Jahren als Gegenentwurf zum Bruttosozialprodukt verkündete.

    Es sei der buddhistische Weg zu besseren Lebensbedingungen für alle, sagt Nyendra. In der neuen Verfassung stehe, dass 60 Prozent des Landes für immer Wald bleiben müssen. Bildung und Gesundheitsversorgung seien in Bhutan kostenlos und elektrischer Strom sehr billig.

    "Wenn wir auf die Erfahrungen der reichen westlichen Länder schauen, verstehen wir, dass das ökonomische Auskommen nicht der einzige Indikator dafür ist, was uns glücklich macht. Wir brauchen auch viele andere Dinge. Wir brauchen eine intakte Umwelt. Ich liebe den Wald, die Natur. Wenn ich in Indien bin und habe keinen Wald, fühle ich mich unglücklich, selbst wenn ich Geld habe. So geht es mir auch mit der Kultur. Und mit einer guten politischen Verwaltung. In Indien ist so viel Instabilität. Es ist ein reiches Land an Ressourcen, aber ein armes Land wegen schlechtem politischen Management. Wir wollen eine gute politische Verwaltung. Unsere Leute in der Regierung und unsere Majestät sind sehr gut. Und laut Umfragen sind 97 Prozent der Bhutaner sehr glückliche Leute."


    Und Nyendra fügt noch hinzu:

    "How to make Germans happy."

    Wie man Deutsche glücklich macht? Vielleicht mit viel Singen am Feuer...

    Wir werden noch ein halbes Dutzend Mal Bogen schießen, beim Campen in den Bergen, im Tal der Schwarzhalskraniche und am Fuße eines Klosters, nahe einem rauschenden Fluss. Dann sind wir bereit für das Finale in Paro, 65 Kilometer von Thimphu entfernt. Der Wettkampf auf einem wundervollen Platz vor einem weißen Chorten beginnt mit einem feierlichen Ritual. Wir müssen unsere Schirmmützen abnehmen.

    Chimi spricht auf Dzongkha magische Sätze, die von den bhutanischen Schützen wiederholt werden. Dann stoßen sie vogelartige Schreie aus und Chimi schüttet für die Götter etwas Bier auf den Boden.

    Viele Stunden geht das Spiel hin und her, begleitet von Tänzen und Musik.

    Und am Ende ist es kein Bhutaner, sondern eine Deutsche, die mit den meisten Treffern zur Königin des Turniers wird. Der letzte Freudentanz von Chimi, Sangay und den anderen gilt Karin, einer geübten Bogenschützin aus Aschaffenburg.