Samstag, 04. Mai 2024

Archiv


Im Schatten des Affenbrotbaums

Baobab heißt Affenbrotbaum. Seid Jahrhunderten sitzen die Menschen in Afrika im Schatten des Baobabs und erzählen sich Geschichten. Geschichten, die von Generation zu Generation weitergeben werden. Baobab nennt sich eine Buchreihe, in der Märchen, Erzählungen und Romane für Kinder und Jugendliche aus Afrika, Asien, Lateinamerika und Australien erscheinen – in deutscher Sprache.

Simon Hamm | 24.01.2004
    Baobab hat sich hehre Ziele gesetzt und noch lange nicht jedes Buch, das in fernen Ländern spielt, passt in diese Reihe: Die Bücher sollen weder rassistisch noch sexistisch sein, nicht überheblich die westliche Denkungsart propagieren, nicht die eigene Religion über alle anderen setzen. Strenge Kriterien werden angelegt, denen so mancher Klassiker nicht genügen kann. Europäer oder weiße Amerikaner dürfen den Einheimischen gegenüber keinesfalls so "eurozentristisch - paternalistisch" auftreten, wie Robinson Crusoe dem Freitag begegnet. Und die Schwarzen dürfen nicht liebevoll einem guten Herrn dienen wie Harriet Beecher – Stowe das in Onkel Toms Hütte schildert. Ganz und gar politisch unkorrekt sei Karl May.

    Zwei Bücher sind in jetzt neu herausgekommen in der Baobab Reihe. Bücher, die den strengen Kriterien der Herausgeber genügen, die aber unterschiedlicher dennoch nicht sein könnten. Während es dem einen gelingt, Verständnis zu erwecken für eine fremde Welt und Zuneigung für einen Protagonisten, der doch so ganz anders lebt, lässt das andere, gut gemeint und schlecht geschrieben, die kleinen Leser nur ratlos zurück.

    Letzteres ist der Roman Der Himmel glüht , der seit vielen Jahren in Paris lebenden Kolumbianerin Gloria Cecilia Diaz. Sie schreibt über eine Familie in Kolumbien, über das junge Mädchen Jana, deren viele Geschwister, den strengen Vater, der sich stets mit der Mutter seiner Frau streitet. Dabei will die Großmutter doch nur helfen. Und über die Mutter, die sanft ist und streng zugleich und die sterben wird wenige Monate nach der Geburt des siebten Kindes.

    Gloria Cecilia Diaz erzählt davon, wie die Kinder im Haushalt helfen, kochen und bügeln und von den kleinen Fluchten in die Welt der Phantasie, von Janas Liebe zu den Büchern. Sie beschreibt Janas klugen Freund Ismael, dessen Vater, ein Kommunalpolitiker, erschossen wird, weil er ehrlich und aufrecht ist und sich nicht korrumpieren lassen will.

    An solch traurigen Tagen kann Jana allenfalls Trost finden beim Anblick des glühenden Sonnenunterganges, orange und rot, wutentbrannt und mysteriös, schön und unheimlich zugleich erscheint er ihr.


    Das Buch wird für Kinder ab 10 vorgeschlagen. Ein zehnjähriger Leser wird sich vielleicht fragen, warum ein Lokalpolitiker einfach so niedergeschossen werden kann. Gloria Cecilia Diaz verweigert die Antwort. Die Mutter kann Jana nicht weiterhelfen. Sie sagt nur:

    Die Politik ist ein schmutziges Geschäft…. Alle (wollen) das Sagen haben …und die Menschen (sind) ihnen in Wirklichkeit völlig egal…Und wenn einer gut ist und sich um das Wohl des Volkes kümmert, bringen sie ihn um.

    Die Zehnjährigen haben die Welt nicht so gemacht, wie sie ist und sind gewiss überfordert mit den politischen Verhältnissen in Kolumbien und mit der Aussage, dass, wer Gutes tun wolle, umgebracht werde.

    Sie werden Mitleid haben mit den Kindern, die neben der Schule noch den Haushalt führen, die von den Eltern und der Lehrerin geschlagen werden. Verstehen können sie solche Verhältnisse nicht. Und sicher auch nicht, warum die Menschen, denen es doch nicht gut geht, auch noch auf andere herabsehen:

    Schandflecken…, das ist der Spitzname für eine Familie in unserer Straße. Einer ihrer Söhne ist gelähmt und hat außerdem einen riesigen roten Fleck im Gesicht. Alle Leute nennen sie die "Schandflecken", ich auch. Niemand besucht sie, alle machen einen Bogen um ihr Haus und grüßen tut sie auch keiner. Nur meine Oma grüßt die Mutter, eine große, aufrecht gehende Frau, die ich eigentlich sehr schön finde. Als ich Oma einmal fragte, warum niemand die "Schandflecken leiden kann, antwortete sie…."Frag mir keine Löcher in den Bauch, das geht nur die Erwachsenen etwas an."… Einmal hat mir Carmenza erzählt, die "Schandflecken" - Mutter habe nicht geheiratet und deshalb würden die Leute sie nicht mögen.

    Der Stil von Gloria Cecilia Diaz ist betont einfach und sie ist sichtlich darum bemüht, ihren kleinen Protagonisten die Würde nicht zu nehmen, nach dem Motto: arm und vom Schicksal gebeutelt, aber stolz. "Der Himmel glüht" wird die jungen Leser eher verwirren als aufklären.
    Das zweite gerade erschienene Buch der BAOBAB ist Maria Teresa Andruettos "Stefanos weite Reise". Bereits als Jugendlicher verlässt Stefano sein kleines Dorf in Piemont, geht nach Genua, um von dort nach Argentinien zu fahren. Da will er Arbeit finden und satt werden.

    Die Überfahrt endet in einer Katastrophe, das Schiff sinkt, etliche seiner Freunde ertrinken. Auch in der neuen Heimat ist die Arbeit hart, dafür aber hat er zum ersten Mal in seinem Leben genug zu essen. Er kann kaum glauben, dass die Kühe auf den Weiden freien Auslauf haben und die Felder bis zum Horizont reichen. Er kauft sich ein Saxophon und findet einen gütigen Lehrer. Zuerst ist er Farmarbeiter, als achtzehnjähriger zieht er als Musiker mit einem Zirkus übers Land, macht seine ersten sexuellen Erfahrungen.

    Maria Teresa Andruetto schreibt aus drei Perspektiven: zum einen aus der der wissenden Erzählerin, zum anderen aus der des Ich-Erzählers Stefano und zusätzlich fügt sie noch einen kursiv gesetzten Text ein. Nach und nach wird klar, dass Stefano hier seiner späteren Frau aus seiner Kindheit und Jugend erzählt. Während Erzähler und Ich-Erzähler chronologisch vorgehen, springt Stefano, wenn er zu seiner Frau spricht hin und her zwischen früher Kindheit und späten Erfahrungen. Das macht den Roman spannend und gibt ihm zudem einen großen Reiz. Immer wieder horcht der Leser auf und denkt nach.

    Im vollgestopften Schaufenster liegt ein Musikinstrument…Der Trödler, ein kahlköpfiger Mann mit dunklen Ringen unter den Augen, nennt Stefano den Preis des Instruments. - "Das hat mir ein Neger verkauft", erzählt er. "Der war kohlrabenschwarz. So einen habe ich hier noch nie gesehen." - "Und wie kriegt man da einen Ton heraus?" fragt Stefano. - "Reinblasen, einfach reinblasen."
    - Einmal sagte meine Mutter zu mir: Es ist Zeit, dass du dem alten Antonio das Essen bringst . Ich lief schon um die Hausecke, als sie mir nachrief: Pass auf, Stefanino, wenn du es selber ist, gibt sie uns keine Kleider mehr…Kurz bevor ich in die Hauptstraße abbog, hob ich den Deckel von Teller und sah etwas, was der blinde Antonio nicht sehen konnte: Das Eigelb starrte mich an wie ein Auge. Ich aß es auf.
    - (… ) Ich erinnere mich noch genau, es war ein Nachmittag im Herbst, als ich im Schaufenster des Trödelladens zwischen dem ganzen Kram ein Saxophon entdeckte. "Sie müssen reinblasen", erklärte mir der Trödler, als ich ihn fragte, wie es gespielt wird.


    Mit Stefanos weite(r) Reise ist natürlich nicht nur die Reise nach Argentinien gemeint. Stefanos weite Reise ist auch ein Entwicklungsroman. Maria Teresa Andruetto kann sich gut einfühlen in ihren jungen Protagonisten. Sie lässt die Leser nicht ratlos zurück, denn sie lernen Stefano und das, was ihn bewegt, immer besser kennen. Dieser glänzend geschriebene Roman ist ein Beispiel dafür, wie man jungen Lesern eine andere Zeit, eine andere Welt nahe bringen kann. Und dabei darf dem Trödler sogar noch das politisch unkorrekte Wort "Neger" über die Lippen kommen.

    Die Baobab Reihe will nicht nur Vorurteile über Menschen in anderen Kontinenten abbauen, sondern auch solche über Migranten. In der Baobab – Büchern kommt garantiert keine junge Muslima vor, die ein Kopftuch trägt und einen gestrengen Vater hat – das könnte ja den Islam herabsetzten. Und die Ausländerkinder, die nach Europa kommen, radebrechen nicht in der fremden, neuen Sprache, denn dann schriebe man ja von oben herab.

    Auch dürften Romane und Erzählungen kein Mitleid mit den Migrantenkindern hervorrufen, denn dass zementiere nur das Machtgefälle, das zwischen Einheimischen und Zugewanderten herrscht und führe zu Bevormundung und Verkennung der Fähigkeiten der Einwanderer. Negativbeispiel wäre ein armer Kurdenjunge, der in der Schweiz Medizin studiert und auch noch glücklich darüber ist, dass er später einmal in sein Heimatland zurückkehren und seinem Volk helfen kann. Mit einer solchen Darstellung werde die Anerkennung der Migranten als gleichwertige Menschen eher behindert als gefördert.

    Die Baobab–Reihe wendet sich an Eltern, die ihren Kindern politisch korrekte Bücher kaufen wollen. Ob aber ein Kind überhaupt noch Lust hat zu lesen, wenn es weiß, das Buch, das es jetzt zur Hand nimmt, ist garantiert weder ethnozentristisch, noch paternalistisch, weder rassistisch noch sexistisch? Vielleicht möchte es ja einfach nur ein spannendes Buch lesen.

    Gloria Cecilia Diaz: Der Himmel glüht
    Aus dem kolumbianischen Spanisch von Ilse Layer. Atlantis Verlag Baobab. 112 S. EUR 14,-

    Maria Teresa Andruetto: Stefanos weite Reise
    Aus dem argentinischen Spanisch von Jochen Weber. Atlantis Verlag Baobab. 95 S. EUR 14,-