Ich persönlich glaube, dass zumindest hinter den großen Brandanschlägen eine Organisation steht. Denn zeitlich ist alles gut koordiniert und außerdem darf man nicht vergessen, dass bei pro-palästinensischen Demonstrationen auch die Flagge des Hamas immer wieder erscheint, so dass man davon ausgehen muss, dass der Hamas auch hier in Frankreich organisiert ist und militant agiert.
Doch erst seit den Anschlägen auf die großen Synagogen sprechen die Medien, Politiker und Behörden öffentlich über die anti-jüdischen Ausschreitungen in ihrem Land. Und der ehemalige französische Innenminister Daniel Vaillant vertrat lange den Standpunkt, dass es sich bei diesen Ausschreitungen nur um Einzelaktionen randalierender Jugendbanden aus den Vorstädten handle. Serge Hajdenberg hierzu:
Die französische Öffentlichkeit hat lange Zeit fast gar nicht reagiert. Bei einem der Synagogenbrände letztes Jahr hat man uns zum Beispiel erklärt, dass eine weggeworfene Zigarettenkippe den Brand verursacht hätte und dass das alles ganz zufällig passiert wäre. Die Anschläge wurden einfach nicht ernst genommen. Heute kann man nicht mehr so tun, als sähe man nichts und jetzt hat sich unser Staatspräsident auch endlich mal dazu geäußert. Er hat gesagt dass jeder Angriff auf eine Synagoge ein Angriff auf Frankreich ist und jeder Angriff auf einen Juden ein Angriff gegen die Franzosen. Das ist wunderbar - wir hätten das allerdings schon gerne vor zwei Jahren gehört.
Diese Gleichgültigkeit kommt aber nicht von ungefähr, meint Serge Hajdenberg. Er macht dafür die französischen Medien verantwortlich, die in ihrer Berichterstattung über den Nahost-Konflikt sehr propalästinensisch sind und ein extrem negatives Israel-Bild zeichnen. Das bekannteste Beispiel dafür war die französische Tageszeitung Libération , die im Frühjahr 2001 unter der Schlagzeile "Nun töten sie auch noch die Kinder" die israelische Armee zu einer kindermordenden Organisation hochstilisierte. Serge Hajdenberg hierzu
Die französischen Medien sind mehrheitlich pro-palästinensisch und berichten furchtbar einseitig über den Nahost-Konflikt. Und dabei wird nicht ein Mal die Frage gestellt: welches Land würde akzeptieren, dass Männer auf Terrassencafés, in Hotels oder an den Grenzposten sich und andere einfach in die Luft sprengen ?
Doch genau an diesem Punkt scheiden sich die jüdischen Geister in Frankreich. Alfred Grosser sieht das nämlich ein wenig anders. Seiner Meinung nach berichtet die französische Presse im wesentlichen nur israel-kritisch und das vor allem mit Blick auf die Politik des israelischen Premierministers Ariel Scharon. - auch wenn diese Kritik manchmal über die Stränge schlägt. Es sei kein Ausdruck von Antisemitismus - so Alfred Grosser - über einen Staat empört zu sein, der in den besetzten Gebieten drei Millionen Palästinenser wirtschaftlich ruiniert und politisch isoliert.
Ich finde nicht, dass das was mit den "bösen Juden" zu tun hat. Es hat zu tun, was eine Zeitung, wie die Liberation auch schreibt, was in Tschetschenien passiert, was vorher im Namen Frankreichs in Algerien passiert ist, was im Namen Belgiens im Kongo passiert ist und ich finde nicht, dass man sagen soll, Israel soll ausgenommen werden.
Die französisch-jüdische Historikerin Esther Benbassa warnt dagegen vor einer Gleichsetzung von "jüdisch" und "israelisch". Und sie macht dafür die viel zu laut propagierte Solidarität des französischen Zentralrates der Juden mit der israelischen Politik verantwortlich. Denn selbst die vom Zentralrat am 7. April organisierten Demonstrationen gegen die antijüdischen Anschläge wurden zur Demonstrationen für Israel. Das, so meint sie - vermittle auch ein völlig falsches Bild. Denn ihrer Meinung nach stehen höchstens 20 bis 30 Prozent der französischen Juden uneingeschränkt hinter der jetzigen israelischen Politik.
Es gibt einen Konflikt und dieser Konflikt wird jetzt auf Frankreich projiziert. Und wenn wir so weitermachen wird in Frankreich bald ein Religionskrieg zwischen Juden und Muslims ausbrechen. Noch ist es nicht so weit, aber es kann dazu kommen. Und dann werden die beiden Gemeinden nicht mehr zusammenleben können. Und das wäre eine Katastrophe. Nicht nur, dass das Problem im Nahen Osten unlösbar ist, auch die Diaspora wird sich bekämpfen.
Heute leben in Frankreich ungefähr 6 Millionen arabische Immigranten - zumeist nordafrikanischer Herkunft und siebenhunderttausend Juden. Und die israelische Regierung wirft der französischen Regierung vor, die jüdische Bevölkerung nicht genügend vor dem arabischen Terrorismus zu schützen. In einem Interview kurz nach den Anschlägen Ende März verurteilte der israelische Vize-Außenminister Michael Melchior Frankreich als das "antisemitischste Land Westeuropas". Eine Aussage, die Esther Benbassa nicht sonderlich schätzt, weil sie nur einen weiteren Keil zwischen die jüdische und nicht-jüdische Bevölkerung des Landes treibt. Seit einiger Zeit spürt sie nämlich die zunehmende Empörung der französischen Bevölkerung über diesen Konflikt auf französischem Boden. Denn nach französischem Verständnis fordert der "pacte républicain", der "republikanische Pakt" von jedem Staatsbürger, ganz gleich welcher Herkunft, dass er sich zuerst mit Frankreich identifiziert - bevor er sich etwa als Jude mit Israel oder als Araber mit Palästina solidarisiert.
Was ich viel mehr fürchte ist ein Anti-semismus, der zur Zeit in Frankreich wieder zunimmt und der sagt: so, die beiden da sind nicht zufrieden. Sie demonstrieren dauernd, verstopfen unsere Strassen, verletzen unsere Polizisten, also, liebe Juden und Araber, wenn es Euch hier nicht passt, dann seht zu, dass ihr wieder nach Hause geht!
Soweit Anat Kalman mit ihrem Bericht aus Frankreich. Unser nächster Länderblick führt nach Großbritannien, wo knapp 300.000 Juden leben und antisemitische Übergriffe weniger stark ausgeprägt sind als in Kontinentaleuropa. Aber auch dort haben sie seit April diesen Jahres zugenommen, wie Ruth Rach für uns recherchiert hat:
Die Jüdische Deputiertenkammer in London. Ein gewähltes Gremium, das die Anliegen der jüdischen Gemeinde gegenüber der Regierung vertritt. Mike Whine ist Sprecher der Sicherheitsabteilung. Sie registriert antisemitisch motivierte Übergriffe, organisiert Maßnahmen zum Schutz jüdischer Einrichtungen. Fühlt sich Mike Whine als Jude im heutigen Großbritannien sicher?
Die jüdische Gemeinde besorgter denn je. Auch wenn sie wisse, dass Regierung und Polizei aktiv um ihren Schutz bemüht seien. Bei den ersten Anzeichen vermehrter Nahost-Spannungen tritt ein Sicherheitsplan in Kraft: von der Polizei ausgebildete Freiwillige und Polizisten patrouillieren Synagogen, jüdische Schulen, Gemeindeeinrichtungen. Aber man fühle sich nie ganz sicher.
Als Jude ist man immer auf der Hut, sagt Howard Jacobson, Schriftsteller und Kommentator der liberalen Tageszeitung The Independent. Seine Vorfahren flüchteten vor über 100 Jahren aus Osteuropa nach England. Howard Jacobson ist Mitte 50, in Großbritannien geboren und aufgewachsen. Seine Eltern gaben ihm eine widersprüchliche Botschaft mit: auch wenn er ein echter Brite sei, so müsse er doch stets damit rechnen, als Jude beleidigt zu werden.
Vor ein paar Jahren wurde das Grab seiner Großmutter in Manchester mit Hakenkreuzen und judenfeindlichen Parolen beschmiert. Er wisse nicht, ob die israelische Politik der Grund für antisemitistische Ressentiments sei, oder lediglich ein Vorwand, sagt Howard Jacobson. Noch habe ihn niemand als Juden beschimpft - noch nicht. Aber: Er hat Angst, auch in England.
Nicht jeder kann seine Besorgnis nachvollziehen. Es gibt mehr anti-israelische Gefühle, meint Dawn aus Südlondon. Aber das dürfe man nicht mit Antisemitismus gleichsetzen. Wesentlich besorgniserregender sind ihrer Meinung nach die vermehrten anti-muslimischen Ressentiments.
Großbritannien ist multikulturell und relativ tolerant, so Colin, dessen Eltern aus Nigeria einwanderten. Intolerante Strömungen seien wahrscheinlich importiert worden.
Aline - ihre Eltern kommen aus der Karibik - hat den Begriff Antisemitismus noch nie gehört. Mit diesem Wort könne sie gar nichts anfangen. Der junge Sam - seine Mutter stammt aus Deutschland - hat keine Ahnung. Ihm sei nichts aufgefallen.
Martin, Sams Vater, ein Engländer, stimmt überein. Er denke nie darüber nach, ob jemand jüdischer Abstammung sei. Lediglich Asfa, eine junge indische Muslime, die Westlondon lebt, ist besorgt. In ihrer Wohngegend leben viele Muslime aus Nordafrika. An ihren Fenstern hängen Poster, auf denen Zionismus mit Nazismus und Rassismus gleichgesetzt werde. Das findet sie bedenklich. Asfa ist bestürzt über die Tragik im Nahen Osten: sie wisse nicht mehr, wo sie stehe.
Anthony Julius, britischer Jude, prominenter Anwalt, und Autor eines Buches über die Geschichte des britischen Antisemitismus, warnt allerdings davor, den Teufel an die Wand zu malen.
Die Feindseligkeiten gegen britische Juden seien nicht größer als vor 10 Jahren. Es bestehe kein Grund zur Panik.
Großbritannien sei von vielen kontinentaleuropäischen Juden als Zufluchtsort betrachtet und enorm bewundert worden, so Antony Julius. In ihren Augen verkörperte die britische Gesellschaft Werte wie Anstand, Fairness, Toleranz.
Dessen ungeachtet gebe es auch in Großbritannien weiterhin antisemitische Strömungen, betont Antony Julius. Das habe er am eigenen Leib erlebt. Julius spricht von einem verdeckten Antisemitismus, der sich in Klischees äußere, in falscher Bewunderung für - Zitat - 'jüdischen Fleiß, Intellekt und Geschäftssinn.' Und in sozialer Ausgrenzung: vor 20 Jahren habe keines der großen Londoner Anwaltsbüros Juden eingestellt. An seiner Schule wurde nur eine bestimmte Zahl von Juden zugelassen. Als würde die englische Gesellschaft sagen: Integration, ja. Aber nur bis hierher und nicht weiter.
Kritiker haben unterdessen eine neue Form von Antisemitismus ausgemacht. Sie komme nicht etwa aus der rechtsextremen, neofaschistischen Ecke, sondern sei vor allem in der Presse und den linksliberalen Medien salonfähig geworden, wobei Palästinenser stets als Opfer und Israelis als Täter dargestellt würden. Das sei ein schockierender Rückgriff auf das uralte Vorurteil von den Juden als der Quelle alles Bösen. Es sei durchaus zulässig, Israel oder die Politik von Ministerpräsident Sharon zu kritisieren. Es sei nicht zulässig, Israels Existenzrecht zu hinterfragen . Kein Jude könne sich erlauben, diesen letzten Ort der Zuflucht zu verlieren. Jonathan Sachs, Oberrabbiner für Großbritannien und das Commonwealth, versucht unterdessen, die jüdische Gemeinde zu beruhigen. Auch wenn seine Besorgnis gewachsen ist - von einer massiven Welle des Antisemitismus in Großbritannien könne nicht die Rede sein. Großbritannien sei weiterhin ein sehr tolerantes Land.
Jonathan Sachs möchte die Beziehungen zwischen der jüdischen und der muslimischen Gemeinde in Großbritannien weiter ausbauen, und so die Basis für eine friedliche Koexistenz schaffen, die auch im Nahen Osten wünschenswert sei.
Ruth Rach mit ihrem Report aus Großbritannien. Abschließend noch ein Lagebild aus Dänemark. Erstmals seit dem Ende des 2. Weltkrieges würden dort die dänischen Juden als Gruppe wahrgenommen, würde ihr Dasein öffentlich diskutiert, berichtet Marc-Christoph Wagner, der sich vor Ort u.a. mit Jacques Bloom, dem Vorsitzenden der Jüdischen Glaubensgemeinschaft in Dänemark zur Problematik unterhielt:
Der Nahost-Konflikt hat dazu geführt, dass die Juden in Dänemark ein Thema geworden sind. Und das bedeutet zweierlei. Das bedeutet, dass man plötzlich über Juden in Dänemark öffentlich spricht. Und auf einmal gibt es Debatten zwischen solchen die sagen: ach, die Juden sind genauso gut, wie alle anderen, und solchen die meinen: nein, das sind alles Zionisten und solche, die die Politik Sharons unterstützen. Das ist die eine Seite. Die andere ist: Die Juden haben - gerade aufgrund des Drucks, dem sie in den vergangenen Monaten seitens moslemischer, vor allem palästinensischer Gruppen ausgesetzt waren - begonnen, sich verstärkt als Juden zu begreifen. Viele fühlen sich mit einem Mal bedroht und meinen, sich irgendwie rechtfertigen zu müssen.
Nahezu täglich, so der Vorsitzende der jüdischen Glaubensgemeinschaft weiter, werde er gefragt, ob er nicht ein paar Sicherheitsleute schicke - allein, weil eine jüdische Familie einen Geburtstag mit einigen Gästen feiern wolle. Jedes Mal, wenn der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern neuerlich eskaliere, sei es nur eine Frage der Zeit, bis die Welle der Gewalt auch Dänemark erreiche. Fremd im eigenen Land - dieses Gefühl habe unter den dänischen Juden in den vergangenen Monaten stetig zugenommen. Und dies nicht, weil der durchschnittliche Däne seine Haltung gegenüber den jüdischen Bürgern geändert, sondern, weil man den Konflikt über die Zuwanderung gewissermaßen importiert habe. Immer lauter wird daher auch die Forderung nach Konsequenzen: Dass nun Schluss sein müsse mit der üblichen Toleranz, ist mittlerweile nicht länger allein aus der Ecke der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei zu vernehmen. Auch in der an sich liberalen Presselandlandschaft Dänemarks zieht diese Grundhaltung immer weitere Kreise. Beispiel: Ulrik Høj, Kolumnist der dänischen Wochenzeitung Weekendavisen:
Wer zieht denn heute durch die Straßen? Sind es die sogenannten Rechten? Sind es die 20, 50, vielleicht 80 dänischen Nazis? Nein, es ist der extremistische Teil der moslemischen Zuwanderer. Besonders nach dem 11. September ist eine gesteigerte Aggressivität unter den 180.000 Moslems in Dänemark zu beobachten: Sie sind es, die die dänischen Juden bedrohen; Sie stehen mit Videokameras vor der Synagoge; sie stehen hinter den Laufzetteln, auf denen zum Mord an Juden aufgefordert wird; Sie sind es auch, die sich demonstrativ vor einem jüdischen Haus aufstellen und die Namen der Bewohner notieren; und sie stehen hinter all den anonymen Anrufen. Kurzum: Sie haben ein Klima der Angst erzeugt, das es seit den dreißiger Jahren nicht mehr gegeben hat - Sie ganz allein.
Jahrelang hätten sich die dänischen Juden für eine tolerante Ausländerpolitik engagiert, stets die Partei der Flüchtlinge und Asylsuchenden ergriffen. Mit einem Mal aber sei man nicht allein mit Stigmatisierung und gewalttätigen Übergriffen konfrontiert, sondern könne sich - Ironie der Geschichte - vor Einnahme seitens der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei und anderer fremdenfeindlicher Gruppen kaum retten. Bei solchen Freunden aber brauche man keine Feinde, meint der ebenso bekannte wie scharfzüngige Publizist, Georg Metz. So weit lägen Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus nämlich auch in Dänemark nicht auseinander:
In Dänemark gehört es nicht zum guten Ton, Antisemit zu sein. Aber: Die Ressentiments, die die Dänische Volkspartei bedient, entsprechen in etwa den antisemitischen Strömungen der dreißiger Jahre. Es gibt so viele Parallelen, das ist ganz ungeheuerlich. Die Angst vor dem Fremden, das hat überlebt - inhaltlich anders, aber in gleicher Form.