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Im Schatten seines Vaters

Golo Mann stand zeitlebens unter dem Einfluss seines Vaters, Thomas Mann, der aus seiner Abneigung gegenüber seinem Sohn kaum Hehl machte. Um sich von der Schriftstellerfamilie zu lösen, begann Golo Mann Geschichte zu studieren und wurde ein anerkannter Historiker. Zum hundertsten Geburtstag Manns hat Tilman Lahme eine umfassende und elegant geschriebene Biografie vorgelegt.

Von Martin Ebel | 27.03.2009
    Wenigstens im Tode wollte er der Familie entkommen: Golo Mann liegt zwar auf demselben Friedhof in Kilchberg bei Zürich wie seine Eltern und vier seiner fünf Geschwister, aber ein ganzes Stück weg vom Familiengrab. Das hatte er so bestimmt. Sein ganzes Leben war besonnt und beschattet zugleich von dieser Verwandtschaft; vom übermächtigen Vater, der aus seiner Abneigung gegen den wenig hübschen, linkischen und unsouveränen Sohn lange keinen Hehl machte und ihn im Tagebuch "verlogen, unreinlich und hysterisch" nannte; vom seinerzeit ebenfalls sehr erfolgreichen Onkel Heinrich; von Erika und Klaus, den Älteren der Kinder, die so jung schon so brillant waren und durch das Leben zu tanzen schienen.

    All die schriftstellernden Verwandten versperrten ihm, allein weil sie schon vorher da waren, jenen Weg, den er sonst wohl eingeschlagen hätte: den Weg zur Literatur. Stattdessen wich Golo aus, studierte Geschichte und Philosophie, wurde Historiker und erwarb sich durch solides Wissen und Urteilsfähigkeit doch noch die späte Anerkennung seines Vaters.

    Während die brillanten Geschwister am Leben mehr oder weniger scheiterten, konnte er eine gewisse Alterskarriere verbuchen; wenn er in der Wissenschaft auch nie unangefochten blieb. Seine große Kenntnis historischer Zusammenhänge gab ihm schließlich auch so etwas wie Weisheit - aber eine Weisheit, die nicht froh macht: Das spricht nahezu aus jeder Zeile seines Werkes.

    Auch seine Lebensumstände waren lange nicht geeignet, Frohmut zu erzeugen. Als Golo Mann 1933 aus Deutschland emigrierte, war er 24. Es folgten lange, ärmliche Lehrerjahre in Frankreich und - nach der Flucht über die Pyrenäen - am Claremont College in Kalifornien. Erst 1953 kehrte er endgültig nach Europa zurück. Da war er schon 44. Für eine Universitätskarriere war es zwar noch nicht ganz zu spät. Mehrfach aber wurde eine Berufung auf einen Lehrstuhl politisch hintertrieben; und er selbst war auch nicht ganz unschwierig.

    Die Professur in Stuttgart, die er schließlich 1960 antrat, musste er, labil und depressiv wie er war, aus gesundheitlichen Gründen bald wieder aufgeben. Mit 56 zog er zurück ins Elternhaus nach Kilchberg, wo Erika und die Mutter Katia noch lebten. Er überlebte beide, wurde im Alter eine vielgefragte Persönlichkeit in historischen wie politischen Angelegenheiten und starb 1994 in Leverkusen - die letzten Jahre betreut von seiner Adoptivfamilie.

    Keine Laufbahn, aber ein Werk: Das hat Golo Mann, der heute 100 geworden wäre, vorzuweisen. Ein Werk sui generis: Erzählende Geschichtsschreibung könnte man es nennen. Die Zunft, damals vollständig auf dem Theorie- und Strukturen-Trip, rümpfte die Nase über seine Hauptwerke, den "Wallenstein" und die "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" - gerade, weil sie so gut geschrieben waren und sich so gut verkauften. Die Golo-Mann-Gesamtauflage liegt bei zwei Millionen. Der Autor war gekränkt über die Zurückweisungen, aber stolz auf seine Arbeit; der "Wallenstein", meinte er, sei der "eine Pfeil" gewesen, den jeder in seinem Köcher habe. Und seiner hat getroffen.

    Dass auch das Leben dieses Mann-Sohnes interessant genug sei, um in einem dicken Buch beschrieben zu werden, meint nun schon der zweite Biograf. 2004 hatte Urs Bitterli die erste Biografie vorgelegt. Tilmann Lahme, ein junger Historiker, legt jetzt nach. Sein "Golo Mann" ist eine vorzügliche Leistung, umfassend dokumentiert und flüssig, ja elegant geschrieben. Anders als sein Vorgänger legt Lahme stärkere Akzente auf das Privatleben, auch auf die Homosexualität Golo Manns. Wie offen dieser damit umging, zeigt sich schon in den Briefen, die vor einigen Jahren veröffentlicht wurden. Lahme greift diese Offenheit auf, ohne voyeuristische Interessen zu bedienen. Seine Neigung überhaupt auszuleben, hat Golo Mann von Manuel Gasser gelernt, dem Feuilletonredaktor der Schweizer "Weltwoche": Sie hatten eine kurze Liebesbeziehung, die sich dann zur lebenslangen Freundschaft wandelte; Gasser führte ihn in die einschlägige Zürcher Clubszene ein.

    Näher zum Kern eines Autors als sein Leben führt meist das Werk. So ist es auch hier. Tilmann Lahme hat zusammen mit dem Freiburger Romanisten Hans-Martin Gauger unter dem etwas merkwürdigen Titel "Man muss über sich selbst schreiben" einen Band mit wenig bekannten, verstreut publizierten oder ganz ungedruckten Texten Golo Manns herausgegeben. Darunter finden sich neben Porträts verschiedener Familienmitglieder, die sich durch große Anschaulichkeit und Fairness auszeichnen, auch eine scharfe Widerlegung von Verleumdungen, die Bertolt Brechts gegen Thomas Mann erhoben hatte, sowie die "Radioreden an deutsche Hörer", die Golo in den letzten Kriegsmonaten für die BBC gehalten hat.

    Der Band präsentiert auch literarische Texte und widerlegt damit die Legende vom literarisch gänzlich abstinenten Historiker. Sein allererster gedruckter Text ist eine Erzählung. "Vom Leben des Studenten Raimund" heißt sie, ein Werk des 18-Jährigen, das 1928 unter dem Pseudonym Michael Ney erschien. Sein Leben lang fürchtete Golo, als Autor der Erzählung erkannt und bloßgestellt zu werden. Tatsächlich ist es ein weitgehend autobiografischer Text; es ist vom drohenden Ich-Verlust die Rede, von Einsamkeit und Isolation, von depressiven Schüben und Homosexualität. Darüber hinaus zeigt sich einer aufmerksamen Lektüre auch das Trauma, der Sohn seines Vaters, dieses Vaters zu sein. Es taucht immer wieder, geradezu alptraumhaft, ein kleiner Mann auf, der ein Stück Papier zerreißt - die literarische Zukunft seines Sohnes.

    Mehr eine Spielerei waren die Gespenstergeschichten, die Golo Mann später schrieb und gelegentlich seinen Besuchern auch vorlas. Wichtiger war ihm die wahre Begebenheit aus der französischen Revolutionszeit, die 1982 für die "FAZ" geschrieben wurde. "Herr und Frau Lavalette" sind ein glänzendes Stück Geschichtserzählung, nah an den Quellen, stilistisch eigenständig, mit Sinn für Tempo und Spannung, also für durchaus unterhaltende Aspekte, und doch durchzogen von tiefer Melancholie. Nicht nur dieser Text beweist, dass Golo Mann ein Autor von Rang war, literarisch zweifellos begabter als sein Bruder Klaus. Es brauchte eine Weile, bis er seinen eigenen Stil, sein eigenes Genre gefunden, ja, erfunden hatte. Dann zeigte er sich darin überaus sicher und souverän.

    Golo Mann: Man muss über sich selbst schreiben
    Erzählungen, Familienporträts, Essays

    S. Fischer, Frankfurt 2009, 280 Seiten, 19,95 Euro

    Tilmann Lahme: Golo Mann
    S. Fischer, Frankfurt 2009, 560 Seiten, 24,95 Euro