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Im schwarzen Loch

Der Kohlebergbau war lange Zeit der Wirtschaftsmotor Europas, mit der Kohle, diesen zu Stein gewordenen Wäldern, wurden die Dampfkesseln der industriellen Revolution befeuert. Mit dem Bauch auf Stein und der Lunge voller Staub kratzten die Kumpel das schwarze Gold aus dem Berg. Ganze Generationen von Malochern ließen ihre Gesundheit und manchmal auch ihr Leben unter Tage.

Redakteurin am Mikrofon: Britta Fecke |

    In Polen, der Ukraine und Russland fahren die Bergleute noch heute in den Flöz, in Hatfield und Essen stehen die Förderräder still. Kumpel in Europa, in unserer Sendereihe Lebenswelten, in der wir seit Januar den Alltag verschiedener Berufsgruppen in ganz Europa schildern spüren wir heute dem Lebensgefühl der Bergleute nach irgendwo zwischen Streik und Strukturwandel.

    Die Geschichte des Steinkohlebergbaus begann im England des 17. Jahrhunderts, und endete vor knapp 25 Jahren, als Margaret Thatcher der mächtigen Bergarbeiter-Gewerkschaft den Krieg erklärte. Sie hat ihn gewonnen. Am 1. März 1984 verkündetet die eiserne Lady die Schließung von Cortonwood damit begann der Bergarbeiterstreik und das Zechensterben. Auf der Insel herrschte ein Jahr der Ausnahmezustand, es war vielleicht der letzte Klassenkampf im Westen.

    Zur Zeit des Streiks gab es noch 170 Kohlegruben auf der Insel, heute sind es noch 10. Der Süden Yorkshires war Jahrhunderte lang geprägt von der Kohleindustrie und ein Schauplatz des englischen Bergarbeiterstreiks. Seit 1988 ist in der Grafschaft nah bei Wakefield nur noch das nationale Bergwerksmuseum. Karl Teofilovic hat es besucht.



    Colin Reed - Wenn die Mine nur noch ein Museum ist

    Das National Coal Mining Museum im nordenglischen Wakefield: Führer Colin Reed zeigt Besuchern die Maschinen, die man braucht, um in einer Grube Arbeiter nach unten zu befördern und Kohle nach oben zu holen. Colin, 56 Jahre alt, weiß genau, wovon er redet. Denn der leicht füllige Mann mit den kurz geschorenen Haaren und drei Ohrringen im rechten Ohr hat in einer der größten Kohlegruben Yorkshires gearbeitet - in Grimethorpe.

    "Ich war Mechaniker, Ich kümmerte mich um die Maschinen und die Förderbänder. Ich passte auf, dass alles funktionierte, um die Kohle möglichst schnell aus der Grube zu befördern. Außerdem musste ich neue Gerätschaften runterbringen und aufbauen. Das alles gehörte zu meinem Job. Das habe ich 32 Jahre lang gemacht."

    Zum ersten Mal war Colin Reed mit 15 in eine Grube eingefahren, als Lehrling. Er wuchs in Barnsley auf, das Wappen der Stadt zeigt einen Glasbläser und einen Kohlekumpel. Junge Menschen hatten damals keine große Wahl.

    "Als ich aus der Schule kam, konnte man in die Kohlegrube gehen, in die Glasindustrie oder zur Armee. Das war es dann. Es gab zwar eine Menge Jobs, aber keine große Vielfalt."

    Kein Wunder, dass viele in Colins Familie ihren Lebensunterhalt mit Kohle verdienten. Zu Fuß waren es vom Wohnhaus bis zur Grube Grimethorpe gerade mal zehn Minuten. Anfangs arbeitete Colin sogar direkt unter seinem Vater.

    "Mein Vater war Vorarbeiter. Ich war Mechaniker, mein Bruder auch. Mein anderer Bruder war Schweißer und der jüngste arbeitete als Schreiner. Mein Vater hat mich übrigens nie bevorzugt. Ja, und mein Großvater war der Vorarbeiter in der Schmiede. Eine ziemliche Familienangelegenheit das alles."

    Die Arbeit war hart. Staub und Dreck überzogen Colin wie eine zweite Haut und machten sich in der Lunge breit. Außerdem jagten die Luftströme manchmal mit Sturmstärke durch die Gänge. Es war so kalt, dass Colin es fast nicht aushalten konnte. Und mit der Lebensgefahr, die einen Kohlekumpel täglich begleitet, wurde er schon ganz früh konfrontiert.

    "Zum ersten Mal wurde ich verschüttet als Lehrling unten in der Grube. Die Decke stürzte ein – direkt, wo die Kohle abgebaut wurde. Es kann aber nicht so lange gedauert haben, wie ich mir eingebildet habe, denn sie haben mich offenbar schnell rausgeholt. Dann entschied der Ingenieur, dass ich erst mal nicht mehr einfahren soll, um mich zu erholen. Und dann wurde ich noch mal verschüttet, als ich in einem Graben Rohre legte. Das alles passierte innerhalb einer Woche."

    Vielleicht ist Colin Reed auch wegen dieser Erlebnisse ein Mensch geworden, der das Leben so nimmt, wie es kommt. Das war zum Beispiel 1993 so. In diesem Jahr machte seine Grube Grimethorpe dicht. Es war längst billiger geworden, Kohle aus anderen Ländern zu importieren. Auf einmal stand Colin auf der Straße, zusammen mit etwa 6000 Kollegen. Viele von Ihnen haben nie mehr so richtig einen Fuß auf die Erde bekommen. Insgesamt hat Yorkshire durch die Schließung der Kohlgruben etwa 100.000 Arbeitsplätze verloren. Colin gehörte zu denen, die Glück hatten. Weil seine technischen Fähigkeiten auch woanders gebraucht wurden, mussten er, seine Frau und ihre zwei Kinder keine Not leiden.

    "Ich war okay. Ich fing an, auf Montage zu gehen bei der Eisenbahn, dann arbeitete ich in einer Bäckerei, aber die Maschinen waren mir zu klein, das war nix für mich. Also wechselte ich zu einer Fabrik für Golfbälle. Ich habe schwere Maschinen lieber, tut stärker weh, wenn einem die Teile auf den Fuß fallen.""

    Vor zwei Jahren schlug dann einer seiner Freunde vor, Colin könne im National Coal Mining Museum anfangen. Größte Attraktion: eine still gelegte Kohlegrube. Colins Kollegen sind wie er ehemalige Kohlekumpel. Sie haben im Museum einen Platz gefunden, wo ihre Erfahrungen und Kenntnisse noch etwas wert sind, wo sie dazu beitragen, das industrielle Erbe von Yorkshire zu bewahren.

    ""Ich arbeite wie früher als Mechaniker und setzte Maschinen instand. Außerdem begleite ich Besucher nach unten in den Schacht und erkläre ihnen, wie man Kohle abbaut. Wir fangen im 19. Jahrhundert an und gehen bis in die Gegenwart."

    Im Moment darf Colin aber nicht die 140 Meter in die Tiefe fahren. Der Grund: Mit 25 hatte er bei einem Arbeitsunfall ein Auge verloren. Der Augapfel macht Probleme und der Druckunterschied würde es noch schlimmer machen. Obwohl er vom Leben sozusagen gezeichnet ist, hat Colin seinen Humor nicht verloren. Er ist immer zum Spaßen aufgelegt, und er weigert sich, der Vergangenheit nachzutrauern - wie das manche früheren Kohlekumpel tun. Die tief greifende Wandlung seiner Heimat sieht Colin als unvermeidlich an, wobei natürlich klar ist, dass er erheblich besser wegkam als viele andere.

    Colin kehrt nur ganz, ganz selten an seinen früheren Arbeitsplatz zurück. Dort, wo sich früher die Mine befand, stehen heute Industriehallen und Wohnhäuser. Fast alle Spuren sind verwischt außer einem Denkmal für die toten Bergarbeiter und einigen Hügeln mit Aushubmaterial. Die Gegend ist sauberer und freundlicher geworden. Den Verlust hat Grimethorpe aber immer noch nicht ganz überwunden, denn die Grube gab nicht nur Arbeit, sondern war das Zentrum des Lebens.

    "Die Grubenleitung organisierte jedes Jahr einen großen Festumzug. Dann gab es kleinen Jahrmarkt für die Kinder, und die Blaskappelle der Mine gab für alle ein Konzert. Außerdem hatte Grimethorpe ein eigenes Cricketteam und eine Fußballmannschaft, alles organisiert von der Mine."

    Außerdem gab es da noch das Jugendorchester der Grube Grimethorpe, in dem Colin Anfang der 60er Jahre unter anderem Tenorhorn spielte. An diese Zeit erinnert er sich gerne.

    "Ich war so 13, 14, da waren wir im Fernsehen bei einer Talentshow, die wir gewonnen haben. Danach konnten wir eine Platte aufnehmen. Und wir gaben ein Konzert in der Royal-Albert-Hall in London, wo gleichzeitig auch viele andere Kapellen auftraten. Wir spielten damals 'Eine Kleine Nachtmusik'."

    Heute sagt Colin: Ich hatte ein gutes Leben mit den üblichen Höhen und Tiefen. Im Moment wartet er auf eine Operation, bei der sein zerstörtes Auge durch Glas ersetzt werden soll. Mit seinem Job im National Coal Mining Museum ist Colin richtig glücklich. Denn dort kann er das kann das tun, was er schon immer am liebsten machte, an schweren Maschinen herumschrauben. Am meisten freut es ihn aber, dass er jeden Tag die traditionelle Arbeitsweise und Kameradschaft der Kohlekumpel erleben kann.

    "Die Kameradschaft kam daher, dass sich jeder um jeden kümmerte. Auch wenn man jemanden nicht mochte, man respektierte ihn, weil man ihn vielleicht noch brauchen würde. In einer Notlage würde man sich sofort gegenseitig helfen. Das Wichtigste für Grubenarbeiter ist gesunder Menschenverstand. Erst nachdenken, bevor man etwas tut. Sicherheit geht vor. Mach deinen Job und zwar richtig. Das ist eigentlich alles."


    Der Himmel über den ehemaligen Kohlerevieren des Königsreichs ist schon lange wieder blau, der Kohlenstaub Vergangenheit. Eine Vergangenheit, der noch heute viele Kumpel nachtrauern. Auch wenn über die alten Halden längst Gras gewachsen ist, die Wunden der alten Bergleute sind noch lange nicht verheilt. Knapp 1 Million von ihnen fanden einst Arbeit unter Tage, heute sind es noch knapp 4000.

    Im nordenglischen Yorkshire steht noch eine der letzten großen Kohlegruben. Die Zeche mit dem Spitznamen "The big K" gehört dem größten Grubenbetreiber im Land, der UK Coal. Die Schachtbohrung war Ende der 50er Jahre, 1965 wurde die Anlage in Betrieb genommen. Mehr als 50 Million Tonnen sollen hier noch gefördert werden unter Bedingungen, die erheblich besser sind als noch vor einer Generation in Großbritannien. Die Zukunft ist gar nicht so düster, gestiegene Gaspreise und die Versorgungskrisen der Vergangenheit machen die totgesagte Steinkohle wieder attraktiver. In der Kellingley Colliery finden zur Zeit 600 Bergleute eine Arbeit, die meisten unter Tage, Karl Teofilovic.


    In der Nacht unter Maschinen - Das moderne Bergwerk

    Anruf im Büro von Ian Colley, dem Sicherheitsingenieur der Kohlengrube Kellingley. Kein Grund zur Aufregung, ein Mitarbeiter braucht nur eine Auskunft. Es ist zehn Uhr morgens. Zu diesem Zeitpunkt hat Ian Colley bereits viel von seiner täglichen Routinearbeit erledigt. Dann sitzt der 52-Jährige bereits seit vier Stunden hinter seinem Holzschreibtisch. Wenn er den Blick hebt, schaut er auf die vergilbten Wände voller Papiere mit Sicherheitsvorschriften und großformatigen Plänen der Mine.

    "Ich gehe jeden Morgen in die Krankenstation, um zu erfahren, ob in den letzten 24 Stunden etwas passiert ist. Dann gehe ich in meinem Büro alle Berichte von den Leuten in der Grube durch. Und dann bereite ich das tägliche Treffen mit dem Manager der Grube und den anderen Ingenieuren vor, wo wir über die Probleme reden, die sich aus den Berichten ergeben."

    Bei Ian Colley erinnert nichts an die Arbeit in einer Kohlegrube: kein schmutziger Overall, keine aufgerissenen Hände, sondern Anzug, Krawatte, elegante silberne Brille, Drei-Tage-Bart und Halbglatze. Was sofort auffällt, sind die wachen Augen und der konzentrierte Blick, der ständig auf den Beschäftigten von Kellingley ruht. Denn bestimmte Gefahren wird es unter der Erde immer geben.

    "Das größte Problem ist nach wie vor zu verhindern, dass die Schachtdecke auf dem Boden landet. Da haben wir eine Menge Fortschritte gemacht. Es gibt neue Stützmethoden, und wir beschäftigen geotechnische Ingenieure, die alle Strukturen genau prüfen, bevor wir anfangen Kohle abzubauen. Heute werden Grubenexplorationen viel genauer geplant, als das vor 20 Jahren der Fall war."

    Kellingley ist eine von nur noch sechs großen Gruben in Großbritannien. Die Mine hat zwei Schachttürme, verkleidet mit grauem Blech: unheimliche Riesen verloren in der Landschaft. Im Hintergrund türmen sich Berge aus schwarz glänzenden Kohlebrocken. Förderbänder laufen kreuz und quer. Ein Teil geht zur Verladestation. Kellingley produziert 2000 Tonnen Kohle im Jahr, der Betrieb läuft rund um die Uhr.

    Wie streng die Sicherheitskontrollen im Bergbau heute sind, wird auch im zentralen Überwachungsraum deutlich. Dort schaut Ian Colley praktisch jeden Tag vorbei. Über Monitore laufen permanent Zahlenkolonnen, die die Wetterverhältnisse unter Tage anzeigen. Die Mitarbeiter an der Oberfläche stehen mit den Leuten in zirka 700 Meter Tiefe in ständiger Funkverbindung.

    Kontrollen und Regeln können aber immer nur so gut sein wie die Leute, die sie umsetzen sollen. Das größte Problem, mit dem Ian und seine Kollegen in der Sicherheitsabteilung zu tun haben, ist Nachlässigkeit.

    "Was ich am liebsten habe, ist: Die Leute sollen wissen, dass ich sie beobachte. Wenn jemand eine Sicherheitsvorschrift verletzt, brülle ich nicht herum, dafür bin ich nicht der Typ. Außerdem ist das gleich wieder vergessen. Die Leute sollen lieber in ihrem Hinterkopf haben: 'Ian weiß, was passiert, er beobachtet uns.' Dann funktioniert das besser."

    Wenn Ian Colley mit weißen Helm und neongelber Sicherheitsjacke über das Gelände von Kellingley läuft, erkennen ihn seine Kollegen schon von Weitem. Zwei, drei Mal pro Woche fährt er hinunter in den Schacht. Ian wird allgemein respektiert, weil er weiß, wovon er redet. Schließlich hat er 30 Jahre seines Lebens mit der Kohle verbracht. In dieser Zeit hat sich vieles verändert.

    "Die Größe der Maschinen und die Menge der produzierten Kohle pro Schicht. Die Sicherheit hat sich dramatisch verbessert. Als ich anfing, brauchte man einen Helm und ein paar Stiefel. Sonst gab es keinerlei Schutzkleidung. Man brachte seinen eigenen Overall mit und musste ihn zu Hause waschen. Außerdem gibt es weniger Staub heute. Die ganze Umweltsituation wird mit viel leistungsstärkeren Methoden überwacht."

    Dass Ian Colley an seinem jetzigen Arbeitsplatz beziehungsweise überhaupt in der Kohleindustrie landete, ist im Grunde Zufall, denn eigentlich hatte er etwas anderes vor.

    "Als ich aus der Schule kam, ging ich auf das Royal College of Music in London und studierte Posaune, um Profi-Musiker zu werden. Ich hatte schon als Teeanger in Bands gespielt. Aber als die Musik plötzlich zum Vollzeit-Job wurde, gefielt es mir nicht mehr so gut. Also kam ich zurück und fing an, in einer Mine zu arbeiten."

    Ian blieb der Musik immer treu, in der Freizeit. Er spielte Posaune in der Yorkshire Imperial Band und war später Dirigent, zuletzt bei der Kippax-Band, einer Kapelle , die ebenfalls ihre Wurzeln in der Kohleindustrie hat.

    Ian wippt weiter mit dem Fuß im Takt der Musik, im Blick eine unscheinbare Öllampe aus Metall . Damit prüfen Kohlekumpel seit über 100 Jahren, ob sich tödliche Gase in der Mine ausbreiten. Ian sagt, eine verlässlichere Methode gibt es bis heute nicht. In Kellingley hat jeder Arbeiter seine eigene Lampe, die in einem besonderen Lager im Regal steht, darunter ein Schild mit den Namen des jeweiligen Besitzers. Übrigens muss in Kellingley kein Kumpel fürchten, seine Lampe demnächst für immer mit nach Hause nehmen zu müssen. Die Zukunft der Mine ist über 2020 hinaus gesichert. Die Nachfrage nach Kohle in Großbritannien steigt sogar wieder. Für Ian Colley eine Genugtuung, nachdem seit Mitte der 80er Jahre mehr als 160 Minen dicht gemacht worden waren.

    "Man hat immer behauptet, dass die Atomkraft die Energiequelle der Zukunft sein würde. Kohle war abgeschrieben. Man sagte, dieser dreckige, gefährliche Beruf würde aussterben. Wir sind aber noch da. Wir haben bewiesen, dass wir eine Zukunft haben."


    Auch im Pott ist keiner mehr "auffem Pütt", fast keiner. Bis 2018 will Deutschland aus dem Kohlebergbau aussteigen, dem Industriezweig, der das Land wie kein anderer geprägt hat, der zwischen Rhein und Ruhr das größte Industrierevier Europas schuf. 150 Jahre lang war das Ruhrgebiet der Wirtschaftsmotor Deutschlands. Hunderttausende Bergarbeiter trieben die Flöze immer tiefer in die Erde und förderten Brennstoff für die ganze Nation zu Tage. 1850 waren es noch 2 Millionen Tonnen, 1910 schon 70. Im Jahr 1940 hatte sich die Menge fast noch mal verdoppelt, 120 Millionen Tonnen Fördermenge in den Kriegstagen. Heute sind die meisten Zechen dicht, und die verbliebenen neun Zechen in NRW und im Saarland verschlingen jährlich 2,6 Milliarden Euro Subventionen.

    Gelsenkirchen war einst der größte Steinkohlestandort Europas. Jetzt liegen die Arbeitslosenzahlen in Gelsenkirchen deutlich über dem Landesdurchschnitt. Vor sieben Jahren schloss die Zeche Hugo für immer die Werkstore. Damit stand das Herz im Stadtteil Buer still. Die Adern in der Tiefe der Erde wurden zugekippt, die Wasserpumpen abgeschaltet. Die Halden sind inzwischen begrünt, an den Bergbau erinnern nur noch Bergschäden, Schrebergärten. Doch alles lassen sich die Kumpel nicht nehmen, Friederike Schulz.


    Alles lassen wir uns nicht nehmen – Ehemalige Kumpel retten ihre Zeche

    Von weitem schon ist der Förderturm der alten Zeche zu sehen. Das kirchturmhohe Gerüst von Schacht II ist der einzige Blickfang auf der asphaltierten Brache, so groß wie zehn Fußballfelder. Die graue Schutzfarbe des Gerüstes blättert ab, das Eisen darunter ist rotbraun vom Rost. Das Förderrad steht still. Seit sieben Jahren hat es keine Kohle mehr aus der Tiefe geholt.

    Wie jeden Samstag haben Fred und Markus Groß den Generator mitgebracht. Vater und Sohn, beide in Blaumann und Arbeitsschuhen, schleppen das Gerät über den Platz, werfen den Motor an. Sie wollen heute die versiegelte Tür des Aufenthaltsraums der Kumpel mit der Flex-Säge öffnen und den Innenraum entrümpeln.
    "Fred, willst Du erst die Tür aufmachen, oder wollen wir erst die Schüttung zeigen? Wir müssen Gas geben, es ist halb Drei, weil: Ich will heute die Tür fertig haben und lackiert haben."

    Markus Groß ist Ende 30. Er hat auf Hugo noch den Bergmannsberuf erlernt. Bis 1994 hat er hier gearbeitet, dann war Schluss. Es gab zwar noch reichlich Kohle, doch die lag zu tief in der Erde. Die Förderung wäre zu teuer, hieß es bei der Deutschen Steinkohle AG. Eine Betriebsvereinbarung sollte wenigstens den alten Bergmännern noch ein paar Jahre Arbeit auf Hugo sichern. Deswegen schulte Markus zum Aufzugsmonteur um. Im Jahr 2000 fuhr dann auch sein Vater die letzte Schicht auf Hugo. Die Bergleute standen fortan am verschlossenen Zechentor und sahen zu, wie die Abrissbagger ihren ehemaligen Arbeitsplatz platt machten, erinnert sich Fred Groß.

    "Traurig, das war so, als ob man zum alten Eisen gehört. Aber danach haben die da oben nicht gefragt. Wir machen zu, und dann ist die Sache erledigt, bloß für die Bergleute nicht."

    So einfach aufgeben wollten sie nicht. Gemeinsam mit ein paar anderen gründeten Fred und Markus einen Verein und hinterlegten bei der Stadt 80.000 Euro. Dafür bekamen sie nach jahrelangem Streit die Nutzungsrechte für Schacht II. Seit November vergangenen Jahres arbeiten Vater und Sohn nun wieder auf Hugo, in ihrer Freizeit. Jedes Wochenende verbringen die beiden hier, um die alte Zeche zu restaurieren und Schacht II in ein Bergbaumuseum zu verwandeln.

    "Nicht, dass unsere Vergangenheit einfach vernichtet wird, weil eine Gesellschaft sich auf Kultur aufbaut und unsere Industriekultur gehört einfach dazu, und somit gehört auch Hugo dazu. Auch wenn wir nicht mehr viel erhalten können: Wenigstens das bisschen möchten wir erhalten und zeigen, das ist Hugo, das ist unsere Geschichte, so haben wir mal gelebt."

    Tim Steier wirft die Schleifmaschine an. Der 24-Jährige ist kein Bergmann wie Fred und Markus. Er arbeitet unter der Woche in der Stadtverwaltung. Dennoch hilft er den beiden jedes Wochenende. Schließlich ist sein Vater ein ehemaliger Kumpel.

    "Mein Vater findet das ganz toll, dass ich mich hierfür begeistern kann und hier mitarbeite, aber er hat ein relativ distanziertes Verhältnis zum Bergbau. Er musste halt mit 48 aufhören, ist in Anpassung gegangen und hatte zum Schluss einen Unfall und braucht erstmal Abstand, wobei er auch manchmal Begeisterung fürs Museum zeigt, und vielleicht ist er dann auch irgendwann mal dabei, aber im Moment sieht es eher nicht so aus."

    Umso wichtiger ist es ihm, die Erinnerung an die industrielle Vergangenheit seiner Heimat wach zu halten, sagt Tim. Wenn er nicht gerade auf Hugo den Rost abschmirgelt, organisiert er Grubenfahrten für Touristen oder hält Vorträge über die Industriekultur.

    "Es ist bald hier wie überall in Deutschland. Diese Arbeiterkultur geht so ein bisschen unter. Wenn die letzte Zeche zugemacht hat, dann wird es wahrscheinlich so ein paar Traditionsinseln geben, aber ansonsten wird es hier halt so eine gesichtslose Landschaft werden aus Gewerbepark und Dienstleistungsgeschichten wie überall in Deutschland. Aber wichtig ist halt, dass man ein paar Akzente setzt und darauf hinweist, warum wir hier sind und was unsere Geschichte ist. Deshalb mache ich mit."

    Tim nimmt die Schleifmaschine in die Hand und beginnt, die Tür des Aufenthaltsraums vom Rost zu befreien. Fred und Markus gehen eine Etage höher, sie wollen den Maschinenraum inspizieren. Markus leuchtet mit der Taschenlampe den Weg, Fred folgt ihm auf der Eisentreppe nach oben.

    Der Boden ist mit Taubenkot übersät, die grünen Schaltschränke an den Wänden stehen offen, heraus ragen zerrissene Kabel. Doch die Winde, so hoch wie ein Zehn-Meter-Sprungturm, steht noch. 40 Tonnen wiegt sie.
    "Das Lager müssen wir noch schmieren, wenn er mal wieder läuft."

    "Na das nenn ich Optimismus."

    "Wir wollen ja gucken, ob man das zu Gange kriegt. Wenn sich das nur dreht, wäre das prima. Ne, Markus?"

    "Wird noch Jahre dauern."

    Vater und Sohn sehen sich in der Maschinenhalle um. Fred streicht sich nachdenklich über seinen struppigen braunen Schnurrbart. Auch wenn es noch Jahre dauert, bis sie hier ein Museum eingerichtet haben, lohnt sich die Mühe, meint er. Markus pflichtet ihm bei.

    "Einmal Bergmann, immer Bergmann. War ja mein Großvater, mein Vater, meine Generation und jetzt mein Sohn. Das sind vier Generationen, und das ist das Schöne dabei."

    "Ich hab es geliebt. Würde man mich heute fragen: Hör mal, wir machen da eine Zeche auf, da könntest du bis 65 arbeite, Ich glaube, ich würde sofort wieder zur Zeche wechseln, weil: Mir fehlt das einfach."

    Nach dem Rundgang im Maschinenraum nimmt Markus den Besen, fegt den ehemaligen Aufenthaltsraum der Kumpel. Tim kratzt mit einer Schaufel den Schmutz vom Zufahrtsweg. Fred streicht die Tür.

    Gegen Abend glänzen die Fliesen im Aufenthaltsraum. Die alte Eisentür des Förderturms leuchtet karmesinrot. Die drei packen das Arbeitsgerät zusammen und steigen ins Auto. Geschafft für heute. Morgen ist der Maschinenraum dran.


    Auch heute holen deutschlandweit noch rund 38.000 Kumpel Steinkohle aus sehr tiefen Stollen: Das kostet Bund und Länder jährlich 2,6 Milliarden Euro. Seit 1996 sind die Subventionen zwar auf die Hälfte zusammengeschmolzen, sie sind aber immer noch so hoch wie in den 80er Jahren, nur dass damals noch fast 200.000 Menschen, also über fünfmal so viele, im Bergbau arbeiteten. Eine Tonne Steinkohle aus dem Ruhrgebiet kostet derzeit rund 160 Euro, aus dem Ausland lässt sie sich für 60 Euro beschaffen. Die schlechte Kohlendioxidbilanz der Kohle und der Emissionshandel lassen diesen fossilen Energieträger in der Zukunft noch teurerer werden.

    400.000 Arbeitsplätze verschwanden in den 80er und 90er Jahren im Ruhrgebiet. Doch Zechensterben und Arbeitsplatzabbau sollen endlich das Vokabular der Vergangenheit werden, Technologiezentren und Dienstleistung sind die Zukunft. Der Strukturwandel wird besonders deutlich, wenn in Waschkauen renommierte Orchester spielen und in den Steigerstube der alten Zechen High-Tech-Firmen residieren. In der Zeche Zollverein in Essen wurden in den 50er Jahren bis zu drei Millionen Tonnen wurden gefördert. 1986 war Schicht am Schacht. Jetzt steht der markante Förderturm im unter Denkmalschutz, die Zeche gehört zum Weltkulturerbe der UNESCO. Auf dem übrigen Gelände, so groß wie ein eigener Stadtteil, haben sich mittelständische Unternehmen eingerichtet. In diesem Jahr feiert das Zukunftszentrum Zollverein sein zehnjähriges Bestehen. Die Erfolgsbilanz: 70 Unternehmen, die 400 Arbeitsplätze geschaffen haben. Friederike Schulz berichtet.


    Von der Steinkohle zum Designer-Park - Zeche Zollverein

    Seit Monaten ist der alte Backsteinbau auf dem Zechengelände in Essen-Katernberg eine Baustelle. Auf dem Boden in der ehemaligen Maschinenhalle liegen Ziegelsteine auf dem Boden. Ein Bauarbeiter rührt Mörtel an, sein Kollege stapelt die Ziegelsteine, den Spachtel in der Hand. Daneben steht Werner Dieker und klopft sich den Staub von der braunen Anzughose. Der Aufsichtsratsvorsitzende kommt jeden Tag hier vorbei und erkundigt sich nach den Fortschritten. Im August sollen hier die neuen Büros eingeweiht werden. Denn die Räume in den acht bereits renovierten Zechengebäuden sind seit Jahren vermietet. 70 Unternehmen haben dort ihren Sitz, rund 400 Arbeitsplätze sind in den zehn Jahren seit der Gründung entstanden. Fast täglich rufen Leute an, die fragen, ob nicht bald mal ein Büro frei wird. Deswegen renovieren wir jetzt den Prüfstand, sagt der 75-Jährige.

    "Voller Stolz können wir sagen: Die Interessenten sind da, zu 60 Prozent kann man fast schon sagen, ist der jetzt schon vermietet, obwohl wir erst im September die Vermietung beginnen können. Wir wollen mehr Existenzgründer, wir wollen mehr Arbeitsplätze schaffen können."

    Werner Dieker ist in Essen-Katernberg geboren, das Haus seiner Eltern steht direkt neben der Zeche. Ende der 40er Jahre beginnt er auf Zollverein eine Bergmannslehre, arbeitet 16 Jahre unter Tage, bis er in die Chemiebranche wechselt. Als das Bergwerk 1986 dicht macht, kämpft er im Stadtrat für den Erhalt der Gebäude.

    "Da war in Katernberg tiefe Trauer. Es gingen nur im Bergbau 1700 Arbeitsplätze verloren. Katernberg als Stadtteil hatte Sorge, dass man absackt. Die Menschen waren bestürzt 1986."

    Damals dachte ich, ohne Kohle gibt es für Essen-Katernberg keine Zukunft. Heute habe ich für Nostalgie gar keine Zeit mehr, sagt der 75-Jährige und geht die Treppe hinunter in die Eingangshalle.

    "Der Schmerz ist vorbei. '86 war die Zechenstillegung, man muss in die Zukunft schauen, die Globalisierung geht ihren Gang, ich habe da keine Schmerzen mehr."

    Am Fuß der Treppe wartet Geschäftsführer Dirk Otto, den Regenschirm in der Hand. Er kennt das alte Zechengelände seit Anfang der 90er Jahre. Damals arbeitet er bei der Essener Wirtschaftsförderung und lernt bei einem Termin auf dem Zechengelände Werner Dieker kennen. Schnell sind die beiden sich einig: Die alten Industriebauten sind wie geschaffen für ein Gewerbezentrum. Sie gewinnen die Unterstützung der Landespolitik und überzeugen die Investoren, 1997 ziehen die ersten Firmen ein, drei Jahre später schreibt das Zukunftszentrum schwarze Zahlen.

    "Wir haben uns in London ein Beispiel angeschaut, das London Business Village. Und das war genau so. Es waren alte Industriehallen, gebaut 1830, mehrfach umgenutzt. Und zum Schluss halt als Gründerzentrum genutzt, wo man gesehen hat, dass diese Mischung aus unterschiedlichen Branchen sich halt gegenseitig befruchten kann, dass man gegenseitig auch Akquise betreiben kann für bestimmte Projekte. Diese Idee haben wir mitgenommen und haben versucht aus diesen ganzen Ideen unseren eigenen, Essener, Ansatz zu entwickeln."

    Dirk Otto spannt den Regenschirm auf. "Damit unser Aufsichtsrat nicht nass wird", sagt er, öffnet die Eingangstür und nimmt den zwei Köpfe kleineren Werner Dieker mit unter den Schirm. Draußen gießt es in Strömen, die beiden Männer beginnen ihren täglichen Rundgang übers Firmengelände.

    Dirk Otto öffnet die Tür zum Werkstattgebäude und klappt den Schirm zusammen. An der Werkbank steht Reiner Barzel in grauer Schürze und Arbeitsschuhen, den Lötkolben in der Hand, vor ihm ein Türrahmen aus silberfarbenem Metall. Seine Fünf-Mann-Firma stellt Sicherheitstüren- und Fenster für Kunden aus ganz Deutschland her. Das Geschäft läuft gut, Reiner Barzel kommt mit der Produktion kaum hinterher. Deswegen braucht er ein Netzwerk von Partnerfirmen aus anderen Branchen, die bei der Montage helfen oder die Internetseite aktualisieren. Ein kurzes Gespräch mit den Installateuren oder den Webdesignern im Nachbargebäude, schon sind die Aufträge vergeben.

    "Es fängt an beim Auto-Leihen, oder man sagt: Mensch, ich brauche mal Deinen Mitarbeiter, dass man nicht zu einer Leihfirma geht, sondern hier kennt man die Stärken, dass jemand eine Montage für uns macht. Denn in der Zeit können wir vielleicht nicht 10 Türen produzieren, sondern 30."

    Reiner Barzel legt den Lötkolben beiseite und geht zum Schreibtisch, holt einen Stapel Bewerbungsmappen, zeigt sie dem Geschäftsführer. "Die müssen wir mal gemeinsam durchsehen", sagt er. Denn neben der Arbeit in der Werkstatt betreut er das "Atelier auf Zeit", ein Stipendium für ausländische Künstler, die für ein halbes Jahr das Atelier im alten Stellwerk nutzen dürfen. "Für mich ist das Zukunftszentrum mittlerweile viel mehr als nur ein Arbeitsplatz", sagt Reiner Barzel, der vor zwei Jahren mit seiner Frau eine Wohnung direkt neben der alten Zeche bezogen hat.

    "Früher war Essen-Katernberg ein Dreckloch. Jetzt ist es ein Stadtteil, der sich entwickelt, wo man etwas gestalten kann."

    Werner Dieker nickt. "Wenn das so weiter geht, kann ich beruhigt in Rente gehen", meint der Aufsichtsratsvorsitzende." Komm, ich muss weiter", sagt er zum Geschäftsführer. Der spannt den Regenschirm auf und begleitet den Aufsichtsratsvorsitzenden zu seinem Wagen. "KvK" steht auf dem Namensschild des reservierten Parkplatzes , der "König von Katernberg".


    Die Stollen im Donbass, dem Industrierevier der Ukraine, sind bis zu 1500 Meter tief, viel tiefer als im Ruhrgebiet. Auch die Sicherheitsstandards sind erheblich niedriger als in Westeuropa. Seit der Unabhängigkeit 1991 haben mehr als 4000 Kumpel ihren Beruf mit dem Leben bezahlt. Im Durchschnitt stirbt jeden Tag ein Bergmann in einem der maroden Stollen - im täglichen Krieg gegen die Kohle.

    Während die Fördermenge in den vergangenen Jahren um die Hälfte sank, stieg die Zahl der erschlagenen, erstickten und verbrannten Bergleute um das Fünffache. Doch wer nicht unter Tage überlebt, überlebt auch nicht über Tage. Schließt die Zeche, erschwindet die Stadt, wer entlassen wird, hat so gut wie keine Chance auf einen anderen Job. In der Not schlagen die Kumpel in wilden Minen weiter die Kohle aus dem Schacht. Diese wilden Minen werden dann oft von der örtlichen Mafia übernommen. In der Ukraine gibt es nach Schätzungen rund 6000 illegale Bergwerke, in denen rund 60.000 Menschen arbeiten, unter ihnen auch Kinder. Wer noch in einer staatlichen Grube arbeitet hat es dagegen fast noch gut getroffen, Florian Kellermann:


    Die Angst fährt mit - Ein Bergmann im Donbass

    Halina Bodnaruk beugt sich aus dem Küchenfenster und sieht ihrem Mann nach. Aus dem siebten Stock des Plattenbaus winkt sie ihm zu und sagt: "Auf Wiedersehen." Mehr zu sich selbst, denn er dreht sein Gesicht nur noch einmal kurz ihr nach oben.

    35 Jahre geht das schon so, Tag für Tag, sagt Halina - und sie hat allmählich genug.

    "Wenn er auf Schicht geht, vor allem nachts, dann habe ich immer ein schlechtes Gefühl. Das ist schließlich ein gefährlicher Stollen, wo oft etwas passiert. Natürlich sind die Nachtschichten eigentlich nicht gefährlicher, aber sie kommen mir noch unheimlicher vor. Die Nacht ist doch zum Ausruhen da, und er arbeitet. So viele Jahre geht das schon, das ist wirklich nicht gut. Wir versuchen seit langem, ihn zu überreden, auch seine Mutter und seine Tochter. Immer wieder hat er uns versprochen, zum Jahresende aufzuhören."

    Halina schenkt sich eine Tasse Tee ein, es ist Mittag, Genau kann sie nicht sagen, warum ihr Mann Ivan, der heute die Spätschicht hat, so hartnäckig ist. Das Skotschinskyj-Bergwerk, in dem er arbeitet, birgt viele Risiken. In Donezk, der Millionenstadt im Osten der Ukraine, ist das kein Geheimnis.

    Das größte Problem ist das explosive Methan-Gas, seine Konzentration ist im Skotschinskyj-Bergwerk oft gefährlich hoch. Die Sicherheitsvorkehrungen seien inzwischen optimal, behauptet der Direktor des staatlichen Unternehmens, nicht mehr so wie vor neun Jahren, als 63 Kumpel bei einer Explosion ums Leben kamen. Aber trotzdem gibt es kein Jahr ohne Todesopfer und einige Dutzend Verletzte.

    "Ich frage Ivan immer, wenn er heimkommt, ob etwas passiert ist. Aber als wirklich einmal ein größerer Unfall war, da hat er es mir verheimlicht. Er weiß, dass ich dann weine und in Panik gerate. Später haben mir andere von dem Unglück erzählt. Die Tragödie von 1998, daran erinnere ich mich. Auch aus unserem Haus gab es Todesopfer, drei junge Kerle, um die 20 Jahre alt. Damals ist die ganze Stadt zur Trauerfeier gekommen."

    Als Hauptgrund dafür, dass er mit seinen 58 Jahren noch arbeitet, nennt Ivan das Geld. Dabei braucht die Familie die umgerechnet 400 Euro pro Monat nicht unbedingt. Denn Ivan bekommt schon eine Rente von 300 Euro. Das ist sicher kein Vermögen, auch nicht in der Ukraine, aber doch viel mehr als ein normaler Arbeiter erhält. Die Tochter und der Sohn verdienen schon selber.

    Es ist eine schwer zu bestimmende Unzufriedenheit, die das Ehepaar Bodnaruk nicht zur Ruhe kommen lässt. Das Gefühl, trotz aller Privilegien für Bergleute zu kurz gekommen zu sein.

    "Das ist alles, was wir bekommen haben in 35 Jahren Arbeit: eine Drei-Zimmer-Wohnung – umsonst, noch von der Sowjetunion. Aber ich einem anderen Land hätten wir uns doch nach dieser langen Zeit viel mehr kaufen können, ein ganzes Bergwerk! Früher sind wir auch in den Urlaub gefahren, ans Schwarze Meer. Aber auf eigene Kosten, die Betriebsserienscheine haben doch nur die Funktionäre bekommen. Heute ist es noch schlechter. Jeder kann fahren, wohin er will. Aber das Geld fehlt."

    Ivan Bodnaruk ist inzwischen in der Umkleidekabine des Bergwerks angekommen, eine halbe Stunde war er mit dem Bus unterwegs. In den Fenstern fehlen die Glasscheiben, die Öffnungen sind notdürftig mit Plastikplanen ausgespannt. Es riecht nach Schweiß, Männer in Badeschlappen und abgeschnittenen Gummistiefeln sind unterwegs in Richtung Dusche.

    Ivan ist stolz auf seinen Beruf, auch ein Grund dafür, dass er noch nicht in Rente gegangen ist.

    "Die Kohle, die wir fördern, ist sehr hochwertig. Es dauert nur elf Stunden, bis sie zu Koks verarbeitet wird. Das ist ein Spitzenwert. Außerdem enthält sie sehr wenig Schwefel. Für die Stahlherstellung ist keine andere so gut geeignet. Ich denke schon, dass unsere Kohle Zukunft hat. Die Vorkommen reichen noch 300 Jahre, und das Gas aus Russland wird doch immer teurer. Kürzlich ist der Energieminister im Radio aufgetreten. Er will Geld in den Bergbau investieren und neue Bergwerke eröffnen."

    Die Minuten vor dem Arbeitsbeginn, die Bergleute stellen sich noch einmal in die Frühlingssonne. Viele rauchen ihre letzte Zigarette für die nächsten acht Stunden. Manche nehmen Schnupftabak mit nach unten, um den Nikotinmangel auszugleichen.

    Ivan raucht nicht. Er ist auch der einzige, der ohne Hemd, mit bloßem, braungebrannten Oberkörper dasteht. Im Stollen erwartet ihn eine Temperatur von 30 Grad. In der Hand trägt Ivan ein Methan-Messgerät. Wenn der Methangehalt in der Luft über ein Prozent steigt, schlägt es Alarm.

    In der Aufzugshalle brennen nur zwei von fünf Lampen, die beiden Feuerlöscher scheinen noch aus der Sowjetzeit zu stammen. "Achtung, ein Unternehmen mit erhöhtem Risiko", steht groß an der Wand. Die gelben, rostigen Gitter öffnen sich, und Ivan steigt in den Fahrstuhl.

    "Angst habe ich eigentlich keine. Ich passe immer sehr gut auf und weise die Jüngeren an. Wie man so sagt: Es sollte eigentlich nichts passieren. Beim Runterfahren denke ich nur daran, wie wir heute mit der Arbeit möglichst schnell vorankommen. Aber die anderen unterhalten sich da über alles Mögliche, über Politik oder Fußball oder natürlich auch Frauen."

    Um elf Uhr abends sitzt die Familie wieder gemeinsam am Küchentisch, Halina und Tochter Anastasia sind wach geblieben. Gesprächsthema ist die Fußball-Europameisterschaft, die in fünf Jahren auch nach Donezk kommen wird. Die U-Bahn soll endlich gebaut werden, ein neues Stadion für 250 Millionen Euro. Bis dahin wird Ivan seine Bergarbeitermontur wohl endlich an den Nagel gehängt haben, meint Halina.


    Zu Zeiten der Sowjetunion verdienten die Bergleute mehr als andere Arbeiter. So wurden die teuersten Pralinen Bergarbeiter- Pralinees genannt, weil sie sich nur Bergleute leisten konnten. Die Kumpel bekamen schneller Wohnungen als
    andere und leichter Urlaubsscheine für die Sommerfrische auf der
    Krim. Außerdem wurden sie mit Auszeichnungen und Medaillen überhäuft.

    Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist alles vorbei. Die schlimmste Zeit war die Mitte der 90er Jahre, als die Bergleute nur noch Lebensmittelscheine statt einer Lohntüte mit nach Hause brachten. Seitdem machten allein im Donbass über 100 Zechen dicht. Heute wird nur noch in 160 Zechen Kohle gefördert. In der Ukraine gibt es noch 400.000 Bergleute. In jedem Jahr werden die staatlichen Subventionen für den Bergbau weiter reduziert. Die noch verblieben Zechen sind nicht mehr zahlungsfähig und stehen vor dem Bankrott, da denken viele Kumpel gerne an die Sowjetzeit zurück, Florian Kellermann.


    Schön war die Zeit - Unter Tage unter Stalin

    Es ist elf Uhr morgens, fünf Männer sitzen an einem langen Tisch, trinken Wodka und essen Fischkonserven: eine kleine Feier im Versammlungsraum der Gewerkschaft. Denn zu Besuch ist Wladimir Iljitsch, nicht Lenin natürlich, sondern Wladimir Iljitsch Taran. Der 62-Jährige ist hier unvergessen, er war lange Jahre Vorsitzender des Arbeiterrates. Und in den 90er Jahren, als die Demokratie kam und die Regierung zehn Monate mit den Gehältern im Rückstand war, da war er ganz vorne mit dabei bei den Streiks im Bergwerk Trudowskaja.

    Aber an diese Zeit denkt Wladimir Iljitsch nicht so gern zurück. Seine schönsten Jahre, das waren die 70er, als das Bergwerk Trudowskaja ein Vorzeigeunternehmen der Sowjetunion war und er die ersten seiner drei Ehren- und zwei Heldenmedaillen bekam.

    "Wir waren immer Freunde und haben zusammengehalten, bei aller Arbeitsdisziplin. Sonst hätten wir das in den Aufbaujahren nach dem Krieg auch gar nicht ausgehalten. Damals waren es nicht 30, sondern 35 Grad im Stollen. Und wir haben sechs Tage die Woche gearbeitet. Aber kein Problem, wir haben unsere Familien ernährt und Kinder erzogen. Später dann haben wir sogar einen Weltrekord aufgestellt: Eine Million Tonnen Kohle haben wir in einem Jahr gefördert."

    Nicht weitersagen, Wladimir Iljitsch zieht verschmitzt den linken Mundwinkel hoch: Auch die ukrainischen Bergleute hätten gerne mal 100 Gramm Klaren getrunken , nach der Arbeit, versteht sich. 100 Gramm nur? Daran können die Gewerkschaftskollegen nicht so ganz glauben.

    Der Wodka scheint Wladimir Iljitsch nichts auszumachen. Er spaziert lockeren Schrittes über das Betriebsgelände, das gerade für die Feiern zum 9. Mai herausgeputzt wird, dem Tag des Kriegsendes. Die Mülleimer haben einen grünen Anstrich bekommen, die Treppenabsätze einen himmelblauen Rand.

    Ein alter Bekannter spricht Wladimir Iljitsch an. Der Mann rückt vornehm seinen Hut zurecht. Wladimir ist immer noch einer, dem man Probleme anvertraut, in diesem Fall das Problem von einigen Dutzend Rentnern, die keine Telefonverbindung mehr haben.

    "Eine schlimme Sache: Was, wenn einer von ihnen den Krankenwagen rufen muss? Da haben irgendwelche Unholde die Telefonleitung aus dem Boden gerissen, nur um das Altmetall zu verkaufen und ein paar Kopeken zu verdienen. Das sind Schurken, Arbeitslose, was weiß ich. In einer normalen Gesellschaft sollte es solche Leute eigentlich nicht geben."

    Kaum fassbar für Wladimir Iljitsch, dass so etwas in der Siedlung der Bergarbeiter vorkommt. Schuld daran ist seiner Ansicht nach die neue Zeit, der Kapitalismus, die mangelnde Fürsorge des Staates. Besonders unruhig machen den 62-Jährigen Gerüchte, die in Donezk kursieren. Es heißt, der Trudowskaja-Stollen stehe auf der Abschussliste und werde in den nächsten Jahren geschlossen. Dass es hier einmal einen zweifachen Helden der sozialistischen Arbeit gab, das interessiert in Kiew niemanden.

    "Unser Bergwerk hat den Titel 'Betrieb der kommunistischen Arbeit' bekommen, als eines der ersten in der Sowjetunion, am 28. August 1960. Schauen Sie sich doch mal um: Kein einziger Zigarettenstummel liegt hier auf dem Boden, alles ist sauber und ordentlich. Darf man so ein Unternehmen zerstören? Nein, sage ich, es gehört im Gegenteil gefördert."

    Und dafür will Wladimir Iljitsch auch als Rentner noch kämpfen. Er hat sich in das Parlament des Stadtbezirks wählen lassen. Natürlich ist er Mitglied der Partei der Regionen, die in Donezk ihren stärksten Rückhalt hat und zu der auch Ministerpräsident Viktor Janukowytsch gehört.

    Aber so richtig wohl fühlt der Rentner sich nicht unter den Parteikollegen.

    "Ich hab den Leuten doch versprochen, mich einzusetzen, dass alle fließendes Wasser und Strom in den Wohnungen haben und dass keine illegalen Müllkippen geduldet werden. Und was passiert bei Abstimmungen? Ich soll den Arm immer dann heben, wenn die Partei es mir vorschreibt. Nein, danke, nicht mit mir. Auch unsere Abgeordneten: 'Wählt uns', haben sie uns gebeten, und seitdem hören und sehen wir nichts mehr von ihnen."

    Wladimir Iljitsch muss nicht alleine vom Bergwerk nach Hause fahren in das einstöckige Backsteingebäude, wo er uns seine Frau drei Kinder großgezogen haben. Ein Genosse von der Gewerkschaft bringt ihn mit dem Auto. Donezk, das sieht man hier, ist durch einen losen Verbund von Arbeitersiedlungen entstanden, die um die Bergwerke gebaut wurden. Zwischen den Siedlungen liegt kilometerweit Brachland.

    Es geht über eine holprige Straße, vorbei an den Terekony. Diese rötlichen Kegel, bis zu 150 Meter hoch, sind aus dem Abraum entstanden, der zusammen mit der Kohle gefördert wurde. In anderen Ländern wird dieser Abfall auf der Erde verteilt, mit Humus bedeckt und bepflanzt. In Donezk trägt der Wind den Staub von den Hügeln in alle Himmelsrichtungen.

    "Hier war einmal das Bergwerk Nummer sieben. Als es geschlossen wurde, war das nicht so schlimm. Alle sind bei uns im Trudowskaja untergekommen. Man spürt es nur an der Straße: Seit das Bergwerk dicht ist, wird der Asphalt nicht mehr ausgebessert. Aber wenn auch das Trudowskaja geschlossen wird, dann gibt es eine Katastrophe, denn dann stehen die Arbeiter wirklich auf der Straße."