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Im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit

Seit den Anschlägen auf das World Trade Centre und das Pentagon im September 2001 hat sich auch die Europäische Union dem "Kampf gegen den Terror" verschrieben. Die Attentäter der Todesflüge haben dem Terrorismus ein neues Gesicht gegeben – kämpften früher linke oder rechte Terroristen mit den Mitteln gezielter Anschläge um revolutionäre, nationalistische oder separatistische Ziele, so sind es heute islamistische Selbstmordattentäter, die im Namen der Religion möglichst viele Opfer in den Tod reißen wollen.

Von Ruth Reichstein und Thomas Franke |
    Ein britischer Antiterror-Experte ein Jahr nach den Anschlägen von London:

    "Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Terrorismus jemals loswerden. Es hat immer neue Gründe gegeben, um Menschen zu terrorisieren."

    Und ein belgischer Datenschützer über die Folgen der Anschläge von New York, Madrid und London:

    "Nach den Anschlägen hieß es immer wieder von den Politikern: Wir dürfen die Rechte der Bürger nicht beschneiden, sonst gewinnt der Terrorismus gleich doppelt. Heute muss ich feststellen: Man hat die Rechte beschnitten, und der Terror hat doppelt gesiegt."

    MUSIK

    Seit dem 11. September 2001, seit den Anschlägen auf das World Trade Centre und das Pentagon, haben sich nicht nur die USA verändert – auch die Europäische Union hat sich dem "Kampf gegen den Terror" verschrieben. Die Attentäter der Todesflüge haben dem Terrorismus ein neues Gesicht gegeben – kämpften früher linke oder rechte Terroristen mit den Mitteln gezielter Anschläge um revolutionäre, nationalistische oder separatistische Ziele, so sind es heute islamistische Selbstmordattentäter, die im Namen der Religion möglichst viele Opfer in den Tod reißen wollen. Ihr Ziel sind die Vereinigten Staaten – ihr Ziel ist Europa: Seit den Anschlägen von Madrid am 11. März 2004 und London am 7. Juli letzten Jahres haben die nationalen Regierungen neue Sicherheitsgesetze erlassen und die Zusammenarbeit auf europäischer Ebene intensiviert. Innerhalb der EU – und außerhalb.

    "Wir tun, was wir können" – Sicherheitskontrollen am Flughafen Sarajevo

    Der Flugplatz in Sarajevo. In der Eingangstür stehen Menschen Schlange. Sie warten darauf, kontrolliert zu werden.

    Der Wachmann bittet einen untersetzten Mann im grauen Anzug, sein Handgepäck zu öffnen und den Laptop herauszunehmen: Die Sprengstoff- und Drogenkontrolle am Eingang ist reine Routine. Der Mann im Anzug klappt seinen Computer auf. Der Wachmann im dunklen Pullover nimmt ein Stück Papier, reibt damit über die Tastatur. Neben ihm steht ein schwarzes Gerät, das an einen kleinen Autostaubsauger erinnert. Er nimmt das Blatt und schiebt es in einen Schlitz. Das Gerät beginnt zu arbeiten und meldet nach wenigen Sekunden, dass es keine Partikel von Sprengstoff gefunden hat. Der Mann packt seinen Computer wieder ein und geht zum Check in.

    Die Sicherheitskräfte am Flughafen seien besser ausgerüstet als die Grenzpolizei, stellt Sanela Delic fest. Sie ist 29 Jahre alt und hat ihr dunkles Haar zu einem Zopf nach hinten gebunden. Sie arbeitet seit zehn Jahren bei der Grenzpolizei am Flughafen von Sarajevo.

    "Wir haben hier bisher keine Terroristen gefunden. Vielleicht haben sie Angst vor unseren Kontrollen und kommen lieber mit dem Auto nach Bosnien."

    Flughäfen sind Schwerpunkte der Terrorabwehr. So wie Bahnhöfe, U-Bahnstationen oder Hafenanlagen. Der Massenverkehr ist die Achillesferse der mobilen, offenen Gesellschaften. Hier wirken Terroranschläge immer wie ein Fanal der Verwundbarkeit. Denn die Kontrollen können noch so engmaschig, die Sicherheitsmaßnahmen noch so hoch sein: kein Staat und keine Polizeibehörde kann für den absoluten Schutz sorgen.

    "Wir tun, was wir können. (...) Wir können ja niemanden in ein Flugzeug lassen, der aggressiv oder nervös ist. Wenn jemand bei der Kontrolle Schwierigkeiten macht, dann fragen wir zunächst, was sein Problem ist, und warum er das tut. Wenn sich jemand allerdings normal verhält, dann müssen wir ihn durchlassen."

    Die Kriege haben die staatlichen Strukturen auf dem Balkan zerstört, in den Wirren der Nachkriegszeit konnte sich das organisierte Verbrechen etablieren. Der Balkan gilt als Drehscheibe für den internationalen Waffen- und Drogenschmuggel und für den Menschenhandel. Deshalb die intensive Zusammenarbeit der EU mit den bosnischen Behörden, deshalb die immensen Finanzmittel der EU für den Aufbau des bosnischen Sicherheitsapparates.

    Sanela Delic fährt mit der Rolltreppe hinauf in den ersten Stock, den Abflugbereich. Ihren Kollegen ist ein Pass aufgefallen, nun soll er genauer unter die Lupe genommen werden. Der Besitzer muss vor einem Raum warten, der mit technischen Geräten voll gestellt ist. Auf den Geräten kleben schwarz-rot goldene Hoheitszeichen und die Auskunft "Gestiftet von der Bundesrepublik Deutschland".

    "Der Pass ist gut. Vielleicht haben sie das Bild gewechselt."

    Der Polizist schaut sich die Stempel und die Reiseziele im Pass an. Dann öffnet er eine Klappe und legt den aufgeschlagenen Ausweis in eines der Geräte. Auf einem Bildschirm erscheint übergroß das Passbild des Reisenden und der Name. Dann steuert der Polizist bestimmte Punkte im Dokument an und wechselt erneut das Licht. Der Pass erscheint blau auf dem Bildschirm, anschließend farblos. Schlangenlinien sind zu sehen, gestanzte Namen und Codes. Der Pass ist in Ordnung. Wenn Stempel und Reiseziele ihnen verdächtig vorkommen, erkundigen sich die Grenzer, weshalb der Reisende dort war. Als verdächtige Länder gelten unter anderen Afghanistan und Algerien. Sanela Delic geht zur Handgepäckkontrolle. Eine Tasche verschwindet im Röntgengerät. Auch hier sitzt ein Grenzpolizist an einem Bildschirm. Er vergrößert die Ansicht einzelner Gegenstände in der Reisetasche.

    "Man kann in die Tasche hineinschauen, sehen Sie? Mein Kollege verändert auf dem Monitor die Farbe und sieht, dass da Batterien drin sind oder etwas anderes, ein Rekorder oder so etwas."

    [etwas piepst]

    "Das sind Batterien, dann ist da ein Handy drin, zwei Kugelschreiber, Bücher. Die Leute, die hier arbeiten, erkennen sofort, was da zu sehen ist. Die Arbeit ist immer dieselbe. Es darf aber auch nichts passieren, das wäre schlimm. Ich hoffe, dass nie etwas passiert. Ich mag den Job trotzdem. Er ist nicht schlecht, aber schwierig. Wir haben zu viel zu tun und lange Arbeitszeiten."

    Die Maschine aus Istanbul ist gelandet. Sanela Delic muss ins Erdgeschoss zur Einreisekontrolle. Im Abflugbereich werden die nächsten Passagiere abgefertigt. Boarding für die Maschine nach Budapest.

    ****
    Seit dem 11. September 2001 hat es diverse Versuche gegeben das Ereignis zu erklären. Hans-Magnus Enzensberger hat mit seinem Essay Schreckens Männer – Versuch über den radikalen Verlierer, einen provozierenden Beitrag zu dieser Debatte geleistet.

    Literatur:
    "Es existiert nur noch eine einzige gewaltbereite Bewegung, die in der Lage ist, global vorzugehen. Das ist der Islamismus. Obwohl diese ummah in sich vielfach gespalten und durch nationale und soziale Konflikt zerrüttet ist, stellt die Ideologie des Islamismus insofern ein ideales Mittel zur Mobilisierung radikaler Verlierer dar, als es ihr gelingt, religiöse, politische und soziale Beweggründe zu amalgamieren. (…) Oft wird übersehen, dass der moderne Terrorismus eine europäische Erfindung aus dem neunzehnten Jahrhundert ist. Seine wichtigsten Ahnen stammen aus dem zaristischen Russland, doch auch in Westeuropa kann er auf eine lange Tradition zurückblicken. Inspirierend hat in neuerer Zeit besonders der linksradikale Terror aus den sechziger und siebziger Jahren gewirkt. Die Islamisten haben ihm zahlreiche Symbole und Techniken zu verdanken. Der Stil ihrer Verlautbarungen, der Gebrauch von Videoaufzeichnungen, die emblematische Bedeutung der Kalaschnikow, sogar Mimik, Körpersprache und Kostüm. Das alles zeigt, wie viel sie von diesen westlichen Vorbildern gelernt haben."

    Die Europäische Union steht – was den Kampf gegen den Terrorismus betrifft – eng an der Seite der USA. Trotz der Aufforderungen des Europäischen Parlaments, das Gefangenenlager für Terroristen Guantanamo auf Kuba zu schließen, unterstützen die EU-Mitgliedsstaaten die Amerikaner – mit durchaus zweifelhaften Methoden, wie der Beauftragte des Europarates. Dick Marty, unlängst anmerkte: Seinem Bericht zufolge wussten mindestens 14 europäische Länder von geheimen CIA-Flügen mit Terrorverdächtigen an Bord. Spektakuläre Entführungen, geheime Verhörzentren, dubiose Informationsbeschaffung von Bank- und Überweisungsdaten:

    Diese Methoden sind in die Kritik von Menschenrechtsorganisationen und Datenschützern geraten. Der Europarat forderte kürzlich, die Grundrechte besser zu schützen.

    Und doch sind sich im Kern alle einig: Der Schutz gegen Terrorattentate muss verstärkt werden. Nach und nach verabschiedeten die nationalen Parlamente neue Sicherheitsgesetze, die darauf abzielen, mögliche Terroristen schneller ausfindig zu machen, zum Beispiel mit Hilfe der Rasterfahndung.

    Auch auf europäischer Ebene wurde die Zusammenarbeit verstärkt. Nach den Anschlägen von Madrid ernannte der Europäische Rat Gijs de Vries zum "Mister Terror". Der Niederländer koordiniert seitdem die Terrorbekämpfung in Europa und berät die Mitgliedsstaaten bei neuen Gesetzen. Die EU setzt vor allem auf umfangreichere Informationen und einen besseren Austausch zwischen den verschiedenen Behörden. So werden auch die europäischen Datenbanken von Europol, der Justizbehörde Eurojust und des Schengener Informationsystems SIS in Straßburg vernetzt.

    Im Herzen der EU-Terrorabwehr – Ein Besuch bei SIS in Straßburg

    Grüne Felder, ein paar Einfamilienhäuser. Kinder fahren mit Fahrrädern auf und ab. Die asphaltierte Strasse endet gleich hinter dem Haus mit der Nummer 18. Danach gibt es nur noch einen holprigen Feldweg, der sich nach ein paar Metern in der Wiese verliert.

    In der Idylle des Straßburger Vororts Neudorf steht ein riesiger Bunker. In dem Haus mit der Nummer 18 verbirgt sich der Zentralcomputer des Schengener Informationssystems, kurz SIS. SIS speichert alle Daten von Kriminellen und ihren Straftaten in den Staaten des Schengener Abkommens.

    "Sie haben einen ersten Maschendrahtzaun, dann einen zweiten. Anschließend kommt eine sog. ökologische Barriere mit einigen Sträuchern, in denen Stacheldrahtzaun versteckt ist. Das soll zum Beispiel verhindern, dass Autos den Zaun durchbrechen. Spätestens diese natürliche Barriere sollte Eindringlinge stoppen. Dahinter kommen noch Kameras und Lichtschranken."
    Der Direktor des SIS, Bernhard Kirch, eilt über den schmalen Asphaltweg zwischen dem Wachhäuschen und der eigentlichen Eingangstür zum Herzen der europäischen Datenbank. Stolz zeigt er den Besuchern die Sicherheitsmaßnahmen, lässt seinen Blick über das eingezäunte Gelände schweifen.

    "Sie dürfen nicht über die Wiese laufen", ruft er den Besuchern zu: "Die ist uns heilig!" Regeln sind bei ihm einzuhalten. Kirch war früher Polizist, Hauptkommissar. Länger als zehn Jahren sorgt er nun dafür, dass SIS funktioniert.

    Der Bunker in Strassburg unterliegt der Sicherheitsstufe 1 – genauso wie etwa das französische Verteidigungsministerium in Paris. Die Außenwände sind besonders dick, erklärt Bernard Kirch, während er mit schnellen Schritten durch die Gänge seines Reiches eilt.

    "Sollte hier eine Bombe der Amerikaner fallen, die sieben Meter dicken Beton durchschlagen kann, dann leisten wir keinen Widerstand. Aber eine kleine, handgebaute Bombe, wie sie die Hamas auf Israel schmeißt, sollten unsere Wände aushalten."

    Drinnen grauer Linoleumboden, schwere Türen aus Metall, an den Wänden hängen eine Europakarte und ein Portrait des französischen Präsidenten Jacques Chirac.
    Bernard Kirch macht die Tür zu seinem Büro auf: Fotos von Düsenjägern an der Wand, auf einer Tafel ist das Schaubild von einem Computernetzwerk gezeichnet.

    Kirch greift in seinen großen schwarzen Rucksack und legt ein mehrere hundert Seiten dickes Werk auf den Tisch. Das Abkommen von Schengen, auf dessen Grundlage auch SIS eingerichtet wurde. Für ihn so eine Art Bibel.

    "Da haben wir alles, was für uns wichtig ist. Da wird das Sicherheits-System beschrieben, und da steht auch drin, welche Daten in das System aufgenommen werden sollen."

    SIS verwaltet 16 Millionen Daten. Der Großteil: 1,5 Millionen Einträge sind Fahrzeuge. 1,2 Millionen Datensätze betreffen Personen. Der Umfang ist in den vergangenen Jahren stark gewachsen – 2002 waren es noch 10 Millionen Daten.
    All diese Informationen kommen von den Polizisten der Mitgliedsstaaten und werden über Straßburg an die meisten Polizeidienststellen im Schengener Raum verteilt – das sind zurzeit fast alle Länder der EU. Einige, darunter auch die neuen Mitgliedsstaaten sind aber noch nicht vollständig an das System angeschlossen.

    Großbritannien gehört auch nicht dazu. Die Briten haben technische Schwierigkeiten und verzögern den Beitritt schon seit mehreren Jahren. Außerdem möchten sich die Briten nicht in die Karten schauen lassen und sich vertraglich auf offenen Informationsaustausch verpflichten. Doch Bernard Kirch ist vorsichtig mit voreiligen Schlüssen:

    "Der Beitritt Großbritanniens hätte sicherlich Vorteile. Das System hilft schließlich den Polizisten bei ihren Ermittlungen. Aber man kann natürlich nicht beweisen, dass SIS die Attentate von London verhindert hätte."

    Transparenz und Effizienz: Das Schengener Abkommen hat Europa sicherheitspolitisch weiter gebracht, sagt Kirch: Jeder Polizist – egal ob in Madrid oder Rotterdam – verfüge über dieselben Informationen.

    "Die Polizei in Frankreich gibt Informationen über eine Person ins System ein, die angeblich in einem gewalttätigen Milieu verkehrt. Wir nennen das so, um nicht ganz deutlich von Terroristen zu sprechen. Aber natürlich gehören Terroristen zu dieser Personengruppe. Diese Person wird diskret beobachtet. Drei Monate später wird sie vielleicht in Deutschland von der Polizei kontrolliert. Sie wird identifiziert, und auch die deutschen Polizisten sammeln alle Informationen, die sie bekommen können. Diese Infos gehen dann an die französische Polizei. Dazu gehören zum Beispiel Informationen zum Auto und die Handy-Nummern. Die französische Polizei kann dann zahlreiche Maßnahmen ergreifen - zum Beispiel die Telefone abhören. Die Person könnte zum Beispiel Mitglied einer Terrororganisation sein, und darüber würde die Polizei natürlich gerne mehr wissen."

    Das Herz der EU-Terrorabwehr ist der unterirdische Computerraum von SIS. Ein hoher Raum, in der Mitte ein Holzverschlag, darin Computer: große, schwarze Kästen, die Kühlschränken gleichen. In den Holzverschlag darf nur, wer sich mit einer speziellen, elektronischen Sicherheitsmarke ausweisen kann. Bernard Kirch gehört natürlich dazu, aber wenn Besucher dabei sind, bleibt die Tür geschlossen. "Zu sensibel", sagt er und lächelt entschuldigend. "Oft sind Informationen über gewöhnliche Kriminelle genauso wertvoll für den Anti-Terror-Kampf", sagt Kirch:

    "Man sieht sehr gut, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der klassischen Kriminalität und dem Terrorismus – das eine ernährt das andere – zum Beispiel Gewaltverbrechen, um den Terror zu finanzieren."

    Bernard Kirch geht langsam durch den Raum, nickt seinen Angestellten zu, die ihn mit einem respektvollen "Bonjour Patron", also "Guten Tag, Chef" begrüßen. Zwei Techniker ziehen lange Kabel unter den Bodenplatten ein. Bernard Kirch entschuldigt sich wieder: Solche Bauarbeiten seien hier die absolute Ausnahme. Keiner soll denken, SIS sei eine Baustelle.

    In einigen Monaten soll die zweite Generation des Schengener Informationssystems starten. Dann werden unter anderem die biometrischen Merkmale der gesuchten Personen gespeichert. Außerdem sollen die verschiedenen, europäischen Datenbanken besser vernetzt werden:

    "Zurzeit hat Europol nur über die nationalen Kriminalämter Zugang zu SIS. Es ist jedoch vorgesehen, dass Europol in den nächsten Monaten einen direkten Zugang zu unseren Daten bekommt. Das war eine spanische Initiative – nach den Anschlägen in Madrid, um besser gegen den Terrorismus vorgehen zu können."

    Bernard Kirch bleibt nicht gerne lange im Serverraum, zumindest nicht mit Besuchern. Er lotst sie dann gerne an den Kaffeeautomaten vor der Sicherheitsschleuse. Kirch nimmt den Café mit Zucker und Milch. Er fasst noch einmal zusammen:

    "Man muss einen Unterschied machen zwischen Europol und SIS. Europol ist eine Organisation, die keine operationellen Kompetenzen hat. Das höchste der Gefühle ist, dass Europol die Arbeit der Polizei koordiniert. Aber Europol darf sich nicht aktiv, on the ground, in die Ermittlungen einmischen. SIS dagegen ist ein System, das den Polizisten in Europa direkt hilft. Europol ist ein Zentrum zur Vorbeugung und Analyse. Man könnte fast sagen, es ist ein Think Tank."

    Es wurde nicht genug investiert, sagen viele: Das europäische Sicherheitsnetz habe Lücken, weil immer noch nicht alle mitziehen und dem europäischen Datenaustausch misstrauisch gegenüberstehen, weil sie um ihre nationale Souveränität fürchten. Es sei bereits viel zu viel getan worden, sagen andere: Im Kampf gegen den Terror seien die Gesetze so weit verschärft worden, dass Grundrechte und bürgerliche Freiheiten erheblich eingeschränkt seien.

    ***
    Hans Magnus Enzensberger kommt zu dem Ergebnis: Der Terror hat die Gesellschaften infiziert.

    Literatur:
    Ein Indiz für die Wirkung, die ein paar Dutzend lebender Bomben erzielen können, sind die täglichen Kontrollen, an die sich die Welt gewöhnt hat. Etwa 1,7 Milliarden Flugpassagiere müssen Jahr für Jahr Visitationen über sich ergehen lassen, die nicht nur lästig, sondern auch demütigend sind. Zu bedauern ist übrigens auch das Sicherheitspersonal, das angewiesen ist, mit ernster Miene tonnenweise Nagelscheren zu konfiszieren.

    Das ist allerdings der geringste der Zivilisationsverluste, die der Terror zur Folge hat. Er kann ein allgemeines Klima der Angst erzeugen und panische Gegenreaktionen auslösen. Er steigert Macht und Einfluss der politischen Polizei, der Geheimdienste, der Rüstungsindustrie und der privaten Sicherheitsanbieter, fördert die Verabschiedung immer repressiverer Gesetze, vergiftet das politische Klima und führt zum Verlust historisch erkämpfter Freiheitsrechte. Es bedarf keiner Verschwörungstheorien, um einzusehen, dass es Leute gibt, denen diese Folgen des Terrors durchaus willkommen sind. Es geht nichts über einen Außenfeind, auf dessen Existenz die Apparate der Überwachung und der Repression sich berufen können. (…) Die gefährlichste aller Auswirkungen des Terrors ist die Infektion am Gegner.


    Der Terror hat doppelt gesiegt – Mit einem Datenschützer durch Brüssel

    Die Brüsseler U-Bahn-Station Porte de Namur. Fahrgäste eilen die Treppe nach oben oder schlendern in der unterirdischen Galerie in Richtung Ausgang. Links werden Sandwichs und Döner verkauft, rechts Zeitungen, Glückwunschkarten und Taschenbücher.

    In dem kleinen Laden steht Dan van Raemdonck unschlüssig vor den Tageszeitungen. Er weiß nicht so recht, ob er lieber den seriösen "Le Soir" oder das belgische Boulevardblatt "Dernière Heure" kaufen soll. Schließlich entscheidet sich der 41 Jahre alte Belgier für die seriöse Zeitung.

    In der Mitte der unterirdischen Galerie bleibt er stehen, deutet mit der rechten Hand zur Decke:

    "Überall sind Kameras – nicht nur hier in der U-Bahn, sondern auch in den Strassen. Für mich ist das eine echte soziale Kontrolle. Der Staat schafft es nicht, für die Sicherheit der Menschen zu sorgen. Die Regierung sagt immer, die Kameras sollen Kriminelle und Terroristen abschrecken. Aber das funktioniert nicht. Ganz gleich, ob es die Anschläge von London sind oder der Mord an einem Jugendlichen hier am Zentralbahnhof: Überall gab es Kameras und trotzdem konnten die Verbrechen nicht verhindert werden. Die Kameras helfen höchstens, die Schuldigen schneller zu finden. "

    Dan van Raemdonck ist Professor für Sprachwissenschaft an der Freien Universität Brüssel. Er ist einer der wenigen in Belgien, die sich gegen die Eingriffe in die Privatsphäre wehren. Als Vorsitzender der Liga für Menschenrechte kämpft er gegen übertriebene Sicherheitsmassnahmen, die auf Kosten der individuellen Freiheitsrechte gehen. Ob in London oder in Brüssel – überall werde der Bürger von den elektronischen Augen des großen Bruders verfolgt, sagt Dan und dreht einer Kamera den Rücken zu. Unter dem Vorzeichen der Terrorbekämpfung werde sukzessive der perfekte Überwachungsstaat geschaffen.

    "Ich glaube ganz fest, dass man den Terrorismus dazu benutzt, um die Sicherheitsschrauben fester anzuziehen. Ich bin davon überzeugt, dass der Staat diese Argumente vorschiebt, um die soziale Kontrolle zu erhöhen. Natürlich werden die Bürger so beruhigt. Aber die Leute sind doch nur besorgt, weil die Politiker und die Medien eine Stimmung der Angst erzeugen."

    In seiner schwarz-roten Plastik-Tasche, die Raemdonck locker über der Schulter trägt, hat Dan einige Gesetzestexte mitgebracht, die den Trend zum Überwachungsstaat belegen sollen. Denn mit den allgegenwärtigen Videokameras sei es ja nicht getan.

    "Da ist zum Beispiel das Screening-Gesetz. Am Anfang war das ein sehr diskriminierendes Gesetz: Die muslimische Gemeinschaft in Belgien sollte einen Vorstand wählen. Um zu verhindern, dass in diesem Gremium Extremisten sitzen, hat die Regierung gesagt: Die Staatssicherheit wird die Lebensläufe der Kandidaten durchleuchten. Und weil man das nicht nur für die Muslime einführen konnte, hat man es eben für alle eingeführt. Das heißt: Wenn Sie einen bestimmten Job wollen, dann müssen sie erst beweisen, dass sie kein Sicherheitsrisiko sind."

    Van Raemdonck fährt sich durch die dunklen Haare. Das alles mache ihn wütend, sagt er – und bleibt doch ruhig und besonnen. Das Screening-Gesetz sei nur ein Beispiel für immer weiter gefasste Rechte der Staatsorgane. Die Polizei habe in den letzten Jahren so weit reichende Kompetenzen bekommen, dass sie bei Ermittlungen schon falsche Identitäten benutzen und andere Mittel anwenden dürfte, die sehr an Geheimdienstmethoden erinnerten, beschwert sich der Professor. Doch offensichtlich sei das Bewusstsein für die Risiken und Nebenwirkungen der Sicherheitsgesetze nicht sehr ausgeprägt

    "Wenn sie die Leute nach den Kameras fragen, dann werden sie sagen, dass sie das nicht stört und dass sie nichts zu verbergen haben. Und ich scherze dann: Ich habe etwas zu verbergen. Ich habe keine Lust, dass alle wissen, wie ich lebe, wie ich mich bewege. Vielleicht bin ich mit einer Person zusammen und ich will nicht, dass andere das wissen."

    Dan van Raemdonck nickt freundlich dem Sandwich-Verkäufer neben der Rolltreppe. Von dem, was ihn beschäftige und umtreibe, habe der Verkäufer wohl kaum eine Ahnung – die wenigsten seien darüber informiert, was der Staat schon alles über jeden einzelnen wüsste. Ganze Stadtteile würden mittlerweile lückenlos überwacht – besonders die so genannten Problembezirke wie das afrikanische Viertel Matongé, in dem vor allem Einwanderer aus dem Kongo leben, der ehemaligen belgischen Kolonie.

    Er sei nicht gegen Kontrolle und Sicherheit, sagt Raemdonck. Aber die müssten demokratisch organisiert werden und im Verhältnis stehen zum tatsächlichen Risiko.

    "Die Wahrscheinlichkeit, dass hier ein Attentat verübt wird, ist sicherlich geringer als im Irak. Ich will ein gewisses Risiko ja gar nicht abstreiten. Aber die Reaktion ist völlig übertrieben. Als die Anschläge von New York und Madrid passierten, versprachen die Politiker immer wieder: Wir dürfen die Rechte der Bürger nicht beschneiden, sonst gewinnt der Terrorismus gleich doppelt. Heute muss ich feststellen: Man hat die Rechte beschnitten und der Terror hat doppelt gesiegt."

    Es sei gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet Brüssel in den letzten Jahren so aufgerüstet hat, sagt Raemdonck.

    "Brüssel muss auch den Amerikanern beweisen, dass die Stadt etwas für die Sicherheit der Amerikaner tut. Denn wir haben hier nicht nur die Institutionen der EU, sondern auch einige internationale Organisationen wie die NATO. Belgien versucht zu zeigen, dass die Regierung auf die Terrorgefahr reagiert."

    Diese Politik der kleinen Schritte, die doch zu großen Veränderungen führt, erinnert Raemdonck an die Fabel vom Frosch. Er hat sie vor ein paar Monaten gelesen und findet sie so zutreffend, dass er sie immer wieder erzählt.

    "Wenn sie einen Frosch in einen Topf mit kaltem Wasser setzen, dann fühlt sich der Frosch wohl. Dann erhitzen sie das Wasser langsam und der Frosch tut nichts und irgendwann kocht der Frosch. Wenn sie den Frosch aber in kochendes Wasser setzen, dann versucht er sofort, sich zu retten und heraus zu springen. Aber im ersten Fall reagiert der Frosch eben nicht. Mit den Überwachungsmaßnahmen ist es das gleiche: Sie werden nach und nach angehoben und die Leute gewöhnen sich an die Kontrolle. Sie finden das normal."

    Mehr noch: Die meisten Belgier sind mit den Anti-Terror-Maßnahmen der Regierung völlig einverstanden. Trotzdem denkt Raemdonck nicht daran, seinen Widerstand aufzugeben und seine Kampagne einzustellen. Er will das Bewusstsein für die Kehrseite der umfassenden Sicherheit wecken – die absolute Kontrolle. Ehe er in die U-Bahn einsteigt, deutet er noch einmal auf eine Kamera, die gerade in einem Schwenk den Bahnsteig abtastet.

    "Wenn eine rechtsextreme Partei an die Macht kommt und einen Polizeistaat einführen will, dann muss sie nicht mehr viele Gesetze erlassen. Das meiste gibt es schon."

    Literatur:
    Die reinste Form des Terrors ist das Selbstmordattentat. Auf den radikalen Verlierer übt sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus; denn sie erlaubt es ihm, seine Größenphantasien ebenso auszuagieren wie seinen Selbsthass. Feigheit ist übrigens das letzte, was ihm vorgeworfen werden kann. Der Mut, der ihn auszeichnet, ist der Mut der Verzweiflung. Sein Triumph besteht darin, dass man ihn weder bekämpfen noch bestrafen kann, denn das besorgt er selbst. Dass er nicht nur andere auslöscht, sondern sich selber, ist seine letzte Befriedigung, ein Wunsch, den das Geständnis-Video der Al Qaida nach dem Madrider Anschlag vom März 2004 mit aller Deutlichkeit ausdrückt: "Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod, und deshalb werden wir siegen." Auch diese Gemütsregung ist in Europa nicht unbekannt; einer der Generäle Francos hat sich im Oktober 1936 in Salamanca ähnlich ausgedrückt: "Viva la muerte! Abajo la inteligencia!"
    Für seine Auftraggeber stellt der Selbstmordattentäter eine Waffe dar, die unschlagbar ist, weil sie von keinem Aufklärungssatelliten erfasst und praktisch überall eingesetzt werden kann.


    Man weiß nie, wozu ein Mensch fähig ist – Die Antiterrorarbeit des bosnischen Kriminalamts

    Sarajevo, Neustadt. Inmitten schäbiger Plattenbauten ein großer Markt mit Buden und Kiosken. Dazwischen das Hotel Banana City. In einem jener Zimmer wurde in diesem Frühjahr offenbar der Albtraum der europäischen Sicherheitsexperten geplant: Ein Selbstmordattentat. Doch der Plan schlug fehl – die Fahnder waren schneller. Die Spur führte zu Maximus: 19 Jahre, schwedischer Pass, gebürtiger Serbe mit guten Kontakten in die islamistische Terrroszene. In seiner Wohnung stellten sie einen Sprengstoffgürtel und ein Bekennervideo sicher. Die Ermittler gehen davon aus, dass die Männer einen Anschlag auf eine der westeuropäischen Botschaften in Bosnien planten.

    Nicht weit von Banana-City mit seinem Markttreiben entfernt steht Amir Hadzimahmutovic auf dem Rasen vor seinem Büro und telefoniert. In seiner großen und fleischigen Hand wirkt das orangefarbene Mobiltelefon wie ein Spielzeug. Amir Hadzimahmutovic ist der Chef der Terrorabteilung von SIPA, einer Art bosnischem Bundeskriminalamt. Amir Hadzimahmutovic ist dafür zuständig, Selbstmordattentäter dingfest zu machen.

    "Da haben wir präventiv gehandelt und nicht zugelassen, dass irgendwas passiert. Wir hatten da Hinweise von verschiedenen Stellen. Das ist der Schlüssel: Gute Informationen zu sammeln, und dabei mit allen Behörden gut zusammen zu arbeiten."

    Die Kooperation bindet nicht nur die bosnische Bundespolizei ein - die einzelnen Polizeitruppen der bosnischen Bundesländer und die Polizei in den Kantonen; mit dabei sind auch die EU-Polizeimission, die EU-Militärmission und die NATO. SIPA, das bosnische Bundeskriminalamt. Ein zweistöckiger Bau im Grünen. Die Behörde befindet sich noch im Aufbau, das Amt existiert erst seit 2003. Wie viele Leute in Hadzimahmutovics Antiterror-Abteilung arbeiten, sagt er nicht. Seiner Ansicht nach zu wenig. Immerhin werden derzeit weitere 25 Polizisten aus allen Landesteilen und Abteilungen zu einer Anti-Terror-Einheit ausgebildet.

    "Das ist hier wie in einem Sanatorium. Früher, als ich noch bei der Kriminalpolizei war, da hab ich in der Innenstadt gearbeitet. Da war es schrecklich laut und gar nicht schön. Das hier ist eine schöne Abwechslung. Schauen Sie, da hinten ist sogar ein Grillplatz. Da grillen wir manchmal. Wir bleiben hier, bis das neue Gebäude fertig ist. Solange erholen wir uns. Es ist schön, wenn die Vögel zwitschern."

    Die Idylle trügt. Bosnien ist Teil der so genannten Balkanroute, auf der unter anderem Waffen, Drogen und Menschen geschmuggelt werden. Längst gibt es Verbindungen zwischen den internationalen Verbrechersyndikaten und islamistischen Terrorzellen. Denn auch sie müssen Grenzen überqueren, Waffen kaufen, Geld und falsche Papiere besorgen. Bosnien ist zu einer Drehscheibe der Organisierten Kriminalität geworden. 167 Männer und Frauen einer EU-Polizeimission versuchen, die Bosnier auf EU-Standard zu bringen. So wurde die Struktur von SIPA maßgeblich von Europol beeinflusst. Hadzimahmutovic bleibt stehen.

    "Wir haben uns organisatorisch den EU-Behörden angepasst. Und über das bosnische Interpol arbeiten wir auch mit außereuropäischen Ländern gut zusammen. Es ist übrigens kein großer Unterschied, ob wir mit den USA arbeiten oder mit der EU. Wenn jemand ein Problem hat, dann kommt er zu uns, und wir arbeiten gemeinsam an einer Lösung."

    So war das auch, als Abu Hamza in diesem Frühjahr von sich reden machte. Abu Hamza ist einer jener 700 ehemaligen Gotteskrieger, die im Bosnien-Krieg an der Seite der Bosniak kämpften, nach dem Krieg in Bosnien blieben, heute misstrauisch von den Sicherheitsbehörden beobachtet werden. Und die waren alarmiert, als Abu Hamza, vom Moderator bedrängt, in einer Sendung des bosnischen Fernsehens mit ungesetzlichen Maßnahmen drohte, falls den ehemaligen Mudjaheddin die bosnische Staatsbürgerschaft aberkannt werde. Zwar relativierte Abu Hamza seine Ankündigung später und beteuerte, nur alle Mittel ausschöpfen zu wollen, die das demokratische System bereithalte. Aber er hatte bereits den Terrorverdacht auf sich gezogen.

    "Wir nehmen die Ankündigung von Abu Hamza ernst und ermitteln gerade, was da dran ist. Sobald jemand etwas angekündigt hat, muss das untersucht und die Person beobachtet werden. Das machen wir bei Abu Hamza genauso wie bei anderen Leuten."

    Training für die Kollegen – Ein nordirischer Polizist in Sarajevo

    David Hamilton wartet vor dem Fahrstuhl des neunstöckigen Hauptquartiers der EU-Polizeimission im Westen Sarajewos: Er ist einer der 167 hochrangigen Polizisten, die den Bosniern helfen, eine leistungsfähige Polizeiführung zu bilden und organisierte Kriminalität und Korruption zu verhindern. Weiter sollen die europäischen Beamten die Arbeit der Polizeistreifen verbessern und Unabhängigkeit und Verantwortungsbewusstsein fördern. Und sie sorgen dafür, dass die bosnische Polizei mit der EU zusammenarbeiten kann.

    Hamilton ist Kriminalrat und war jahrelang in Nordirland im Einsatz, später im Irak. Seit Mai letzten Jahres berät er die Bosnier beim Aufbau ihres Kriminalamts SIPA.

    "Wegen der internationalen Präsenz entsteht in der Öffentlichkeit oft der Eindruck, die Situation sei hier schlechter als in Wirklichkeit. Es gibt Terrorgruppen, die ihr Netzwerk über ganz Europa spannen. Bosnien steht durch die starke internationale Präsenz mehr im Rampenlicht als andere Staaten. Das Land liegt gewissermaßen unter einem Mikroskop. Aber meiner Ansicht nach ist Bosnien in Bezug auf Terrorismus nicht besser oder schlechter als die meisten seiner europäischen Partner."

    Das macht das Land in vielerlei Hinsicht zu einem Testgelände für eine gemeinsame EU-Sicherheitspolitik. Hamilton geht forsch über den Flur. Er sei ein klassischer Cop, sagt der Nordire. Und er hat eine lange Berufserfahrung.

    "Wenn man sich den Kampf der IRA in Nordirland anschaut, dann war das ein sehr gezielter Kampf gegen die Regierung und die Exekutivorgane wie die britische Armee und die Polizei. Der Kampf der heutigen Terroristen ist anders. (...) Der Terrorismus von heute ist technischer als der der IRA früher (...)."

    Hamilton geht auf einen der drei Flure zu, die vom Treppenhaus abzweigen. Er nimmt seinen Mitarbeiterpass und hält ihn gegen ein Magnetfeld neben dem Türrahmen. Der Bereich sei extra gesichert, sagt er. Dann steuert er einen kleinen Raum an: ein Tisch in der Mitte, vier Stühle. Sein Büro möchte er nicht zeigen. Terrorbekämpfung und Öffentlichkeit schließen einander aus.

    In Nordirland sei es eher wie in einem Krieg gewesen, erzählt er. Und die IRA agierte regional. Der internationale Terrorismus hingegen ist vernetzt und agiert über Landesgrenzen hinweg. Er richtet sich auch nicht mehr gegen einzelne, konkrete Opfer, sondern schlägt völlig willkürlich zu. Der Terror islamistischer Selbstmordattentäter macht auch vor Muslimen nicht halt.
    "Wir haben gelernt, dass wir bessere Technik gegen sie einsetzen müssen, das wir viel mehr geheimdienstlich arbeiten müssen und dass wir die Erkenntnisse unter den beteiligten Ländern und internationalen Partner besser austauschen müssen."

    Der Austausch von Informationen funktioniert allerdings noch nicht reibungslos, sagt Hamilton. Und das nicht nur, weil Institutionen und einzelne ihre Erkenntnisse für sich behalten wollen; nationale Gesetze machen die Weitergabe von Informationen manchmal schlicht unmöglich.

    "Terroristen sind heute schwer zu enttarnen. Sie arbeiten in kleinen Zellen, unabhängig voneinander und ohne erkennbare Befehlsketten oder Hierarchien. Ihre Kommunikationswege sind sehr schlank. Das ganze ist ein technischer Krieg, in dem man die Informationen nur durch den Einsatz von Technik finden kann. Zum Beispiel durch das Abfangen im Internet oder von Textbotschaften. Denn irgendwie müssen auch Terroristen miteinander kommunizieren."

    "(...) Wenn ich zu Ihnen nach Hause käme, dann würde ich ja auch Sachen finden, die mit Journalismus zu tun haben, denn das ist Ihr Beruf (...). Ich werde da auch Dinge finden, die mit Ihren Hobbys zu tun haben. Ich bin mir sicher, dass ich Dinge finden werde, die mir etwas über Ihre Beziehung zu anderen Menschen sagen. Ich werde bei Ihnen Adressen finden und Telefonnummern. Genau das bewahren Menschen bei sich zu Hause auf. Und nur weil jemand Terrorist ist, heißt das nicht, dass er nichts aufbewahrt."

    Hamilton lächelt breit, fährt sich mit der Hand über die ergrauten Stoppelhaare.

    "Es gibt Leute, die kommen an potentielle Terroristen heran, und das hat sich über Jahre bewährt (...). Über diese Leute kann man Vertrauen schaffen. Das ist jetzt sehr idealistisch. Wir versuchen seit Jahren, potentielle Attentäter davon zu überzeugen, dass sie ihre Ziele nicht durch Terrorakte erreichen. (...) Terrorismus bringt nichts. Das einzige, was Terror schaffen kann, ist ein kurzes Spektakel, aber das ist auch alles. Mehr haben Terroristen noch nie erreicht."

    Hamilton schaut zur Uhr. Er hat es eilig – die nächste Besprechung steht an. Seine Einsätze in Nordirland, Irak und hier in Bosnien haben ihn geprägt.

    "Ich bin mir nicht sicher, ob wir den Terrorismus jemals loswerden. Es hat immer wieder Gründe gegeben, um Menschen zu terrorisieren."

    Literatur:
    Das Projekt der radikalen Verlierer besteht darin, wie derzeit im Irak oder in Afghanistan, den Selbstmord einer ganzen Zivilisation zu organisieren. Dass es ihnen gelingen könnte, ihren Todeskult grenzenlos zu verallgemeinern und zu verewigen, ist nicht wahrscheinlich. Ihre Anschläge stellen ein permanentes Hintergrundrisiko dar, wie der alltägliche Unfalltod auf den Straßen, an den wir uns gewöhnt haben. Damit wird eine Weltgemeinschaft, die (…) fortwährend neue Verlierer produziert, leben müssen.

    Dass Terror etwas ist, mit dem man leben muss, diese Schlussfolgerung von Hans-Magnus Enzensberger ist unter denen, die sich mit Terror beschäftigen unstrittig. Das heißt aber nicht den Kampf gegen den Terror aufzugeben. Das Herz der europäischen Terrorbekämpfung, der Zentralcomputer des Schengener Informationssystems SIS, befindet sich in Straßburg. Der Puls schlägt in Den Haag: bei den europäischen Polizeibehörden Europol.

    Nicht gut, aber schon besser – Ein Besuch bei Europol

    Endlose Gänge. Kahle Wände, eine Bürotür an der nächsten. Es herrscht eine kühle, sachliche Atmosphäre – keine Pflanzen, keine Bilder. Die Ästhetik des Nützlichen. Bürokratischer Minimalismus. Terroristenjagd in Europa – das ist Bildschirmarbeit und Telefondienst.

    Die deutsche Kriminalbeamtin hängt den ganzen Tag am Hörer, immer in Kontakt mit ihren Kollegen beim Bundeskriminalamt in Wiesbaden. Der Austausch, das Netzwerk – das ist am wichtigsten, sagt die junge Frau mit langen blonden Haaren. Interviews vor laufenden Kameras und Rekordern sind den Mitarbeitern hier verboten. "Vorschrift ist Vorschrift", sagt die Beamtin.
    Deutschland sitzt in dem langen Gang direkt neben Italien und gegenüber von Griechenland. Die Dänen, Franzosen, Briten und Ungarn sind nur ein paar Schritte entfernt.
    "Die Nähe ist die Stärke von Europol", sagt der Mann, bei dem alle Informationen über Verdächtige in Europa zusammenlaufen. Max-Peter Ratzel. Ein Deutscher.

    "Wenn ich jemanden sage, am Kudamm passiert was, dann wissen relativ viele, dass das in Berlin ist, aber nicht alle. Das hört sich lächerlich an, aber das ist in einer solch multinational zusammengesetzten Taskforce added values: Das ist halt der Mehrwert, wenn Sie Leute zusammenbringen mit Fachverstand, und die Leute sind im wahrsten Sinne des Wortes unter einem Dach, die arbeiten in einem großen Büro. Da kann man mal schnell hingehen und seinen Kollegen fragen: Weißt Du was davon? Wohin könnte das passen? Da hat der ein Puzzlestück und der hat ein Puzzlestück."

    Max-Peter Ratzel ist der Chef der europäischen Terroristenjäger. Der 57-Jährige sitzt hinter seinem großen, massiven Schreibtisch aus Eichenholz und lehnt sich in seinem Sessel zurück. Er ist ein ernster Mann. Der Beamte, der bis vor einem Jahr im Bundeskriminalamt gearbeitet hat, nimmt seine Aufgabe als oberster Polizist in Europa nicht auf die leichte Schulter.

    Deshalb sind Besuche bei seiner Anti-Terror-Taskforce auch streng untersagt – selbst Europol-Angestellte, die keinen besonderen Ausweis haben, dürfen nicht in den Hochsichertrakt im Seitenflügel: Zu sensibel sind die Daten, die dort über die Bildschirme laufen. Nur soviel verrät Ratzel: In dem Großraumbüro sitzen Beamte aus allen Mitgliedsstaaten zusammen – und zwar Polizisten, Grenzschützer, Beamte der Küstenwache und Mitarbeiter der Geheimdienste. Eine verschwiegene Truppe.

    Als vor einem Jahr die Anschläge in London passierten, da arbeitete der Betrieb plötzlich auf Hochtouren. Ein Schichtdienst wurde eingerichtet, 24 Stunden rund um die Uhr, erzählt Ratzel und faltet die Hände auf der Schreibtischplatte.
    Ein Europol-Beamter flog sofort nach den Anschlägen nach London, um die Polizei vor Ort zu unterstützen und Verbindung nach Den Haag zu halten.

    "Wir konnten die Kollegen auch unterstützen, indem wir relevante Informationen an die 24 Mitgliedsstaaten verteilt haben, sodass London von dem Informationstransfer selbst verschont blieb. Der dritte Schritt: Wir haben auch Internetrecherchen durchgeführt und die ersten Bekennungen analysiert und die Analysen auch direkt an London zurück gespiegelt."

    Genauer will Hans-Peter Ratzel nicht werden. Schließlich sollen die Strategien der Terrorjäger geheim bleiben. Nur vage deutet er im Behörden-Jargon an, worum es geht:

    "Wenn sich bestimmte Fallkonstruktionen ergeben, bestimmte Personen in einer bestimmten Art und Weise zusammen finden und an bestimmten Plätzen bestimmte Handlungen begehen, dann sind das Indikatoren für Anschläge. Oder sie können sagen: Wir haben herausgearbeitet, dass sich Terroristen in bestimmter Art und Weise rekrutieren und Sie können drei Muster ausarbeiten. Dann können die jeweiligen Staaten in ihrer Verantwortung diesen Mustern nachgehen und können gucken, ob sie solche Leute rausfiltern können."

    Europol ist in Europa allgegenwärtig – auch, wenn die Öffentlichkeit davon in der Regel nichts mitbekommt. Wer kontrolliert die Kontrolleure? Wer überwacht die Überwacher? Ratzel wehrt sich gegen die Vorwürfe, keiner wisse, woher Europol seine Infos bekommt und wohin sie weiter gegeben werden. In jeder Instanz sind Sicherheitsschleusen eingebaut worden. Eine unabhängige Datenschutzgruppe überwacht die Arbeit der Terrorjäger. Außerdem dürfen die Beamten von Europol z.Bl. nicht eigenständig ermitteln oder in die laufenden Aktionen von Mitgliedsstaaten eingreifen.
    Sie können nur dann aktiv werden, wenn nationale Polizeibehörden darum bitten. Aber die Anfragen häufen sich - derzeit unterstützt Europol über 20 laufende Anti-Terror-Verfahren in ganz Europa. Max-Peter Ratzel sagt das nicht ohne Stolz und streicht sich über die kurz geschnittenen schwarzen Haare. Die Europäer seien im gemeinsamen Kampf gegen den Terror bereits ziemlich weit gekommen.

    "Wenn wir die letzten fünf Jahre zurückschauen, kann ich mit gutem Gewissen sagen: Wir haben alle unsere Lektion gelernt. Wenn man zum 9. 11. zurückschaut, dann hat man doch weitgehend in Europa gemeint, dass sei eine amerikanische Situation. Die dann folgenden Anschläge in Istanbul, Casablanca, Djerba, haben uns eines Besseren belehrt. Man sah die Gefahr näher nach Europa kommen. Mit den Anschlägen von Madrid wurde es dann ganz offenkundig, dass Europa auch ein Ziel ist. Und mit den Anschlägen von London haben wir gezeigt, dass die Maßnahmen, die nach Madrid entwickelt worden sind, alle die richtigen waren."

    Und doch muss vieles noch besser werden, meint Ratzel, ohne zu sagen, was er damit genau meint. Er sei Beamter, kein Politiker. Er will keine Ratschläge erteilen. Schon gar nicht öffentlich. Die Politik müsse Stellung beziehen und die Defizite benennen.
    Davon gibt es eine ganze Menge: Immer wieder setzen die Mitgliedsstaaten die europäischen Vorgaben nicht schnell genug um, hinken mit ihren nationalen Gesetzen hinterher.

    Ratzel hat sich noch ein Glas Wasser eingegossen. Es ist ruhig in dem Büro. Die Sekretärin hat kein einziges Telefonat zu ihm durchgestellt. Hier hat alles seine Ordnung. Der Terror ist weit weg. Und Ratzel lässt ihn auch nicht an sich herankommen.
    "Persönliches Gefährdungspotential ist bei uns Teil der beruflichen Gefährdung, mit der wir jeden Tag leben müssen. Davon lasse ich mich im Moment nicht beeinträchtigen."

    Das waren Gesichter Europas an diesem Samstag. Im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit: Europa und der Kampf gegen den Terror. Eine Sendung von Ruth Reichstein und Thomas Franke. Redaktion Thilo Kößler.

    Literatur: Hans Magnus Enzensberger, "Schreckensmänner. Versuch über den radikalen Verlierer". Edition Suhrkamp 2005.