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Im Vorhof der Hölle

In der Oper "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" von Berthold Brecht und Kurt Weill entsteht in der Wüste eine Stadt. Bordelle, Casinos, Bars der Vergnügungshölle auf Erden ziehen den Werktätigen aller Länder das Geld aus der Tasche. Nur eines ist verboten - kein Geld zu haben.

Von Frieder Reininghaus | 25.01.2012
    Die Bühnenwerke, die das internationale Renommee von Bertolt Brecht und Kurt Weill begründeten, haben längst die Altersgruppe 80plus erreicht. Die Botschaften, die der Librettist seinem Text einschrieb, vernimmt auch das Publikum des Jahres 2012 sehr wohl. Allein, ihm fehlt nicht nur der Glaube, sondern bereits die Bereitschaft, "die zunehmende Notwendigkeit von Änderungen größten Ausmaßes" auch nur in Erwägung zu ziehen.

    Genau, das denken auch die Zuschauer (oder zumindest die etwas kritisch gestimmten unter ihnen), wenn sie den Oldtimer auf der Bühne sehen. Der fängt an zu qualmen. Aus ihm steigen die drei steckbrieflich gesuchten Profiteure der "goldenen" 20er-Jahre. Mit ihren wohltönenden Opernsängerstimmen beschließen sie die Spontangründung einer Vergnügungshölle auf Erden.

    Der Titel der Oper, die 1930 im Leipziger Stadttheater uraufgeführt und zu einem der Muster epischen Theaters wurde, verweist mit seinem Anklang an Tropenholz auf neue, zumindest exotische Welten. Aber der Dreiakter sucht nicht die Aura eines auch nur halbwegs konkreten Ortes zu nutzen. Nein: Hier geht es um menschliche Begierden und Nicht-Beziehungen in einem aufgeheizten Aggregatzustand der Menschheit, in dem die Kälte der Maschinenwelten und der Städte die Emotionen ebenso aufwühlten wie die Fragen der Solidarität beziehungsweise der Massenmobilisierung.

    In einer Zeit und an einem Ort, da der Laufkundschaft von flimmernden Wänden herunter suggeriert wird, die Stadt gehöre ihr - sie müsse halt nur die Wiener Linien benutzen -, kann der "Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny" nicht anders denn als historisches Stück erscheinen, als "Klassiker". Zu dessen Erhebung in die Zonen der Erhabenheit tragen an der Wiener Staatsoper eben die Kehlen der stimmlich gut geschulten, darstellerisch aber offensichtlich aufs Rampenstehtheater verpflichteten Protagonisten bei – Christopher Ventris als raumgreifend bärenstarker Holzfäller Jim Mahoney oder die klang- und formschöne Elisabeth Kulman als jung-dynamische Unternehmerin mit den strategisch richtigen Einfällen zum rechten Zeitpunkt. Von ihrer Gründungsinitiative singt sie.

    Um die Erhebung "Mahagonnys" in die Höhen des "Klassischen" macht sich zuvorderst der Dirigent Ingo Metzmacher verdient – mit Verve und Erfolg. Kurt Weill ist in musikalischer Hinsicht im Parnass angekommen, steht zur Rechten von Mahler oder zur Linken von Richard Strauss. Wie Metzmacher die Härte und Unerbittlichkeit des Schlusschorals von der Kälte der menschlichen Beziehungen zelebriert, ist große Klasse.

    Jérôme Deschamps wollte mit seiner Inszenierung, wie er im Programmheft erklärte, eine "spielerische Lektion" erteilen. Er zeigte die Szenenfolge, unterbrochen vom Auf- und Zuzug einer Brecht-Gardine, vor den Einblendungen schön-unscharfer Stadtbilder in schlichter Linearität. Jedenfalls völlig ohne subtextuale Anspielungen auf den Verwesungsgrad des Brecht-Textes.

    So wird einem heutigen Staatsopernpublikum nochmals im Ernst erzählt, dass "Mangel an Geld" das "größte Verbrechen" sei, wo doch jedes Kind weiß, dass mit diesem Mangel derzeit Milliarden verdient werden. Die bildschöne Lektion des Monsieur Deschamps ist angekommen. Sie historisiert die Brechtsche Drohung mit Sozialismus nach der Art der Hundehalter, die zu Passanten bezüglich ihrer Töle sagen: "Er will doch nur spielen".