Dennoch zeichnet er die gesellschaftlichen Erfahrungen seiner Jugend keineswegs als eindimensional. Es hat Brüche gegeben, kleine Enklaven, in denen er Unterschlupf suchte. Skepsis und Trotz reichen jedoch nicht aus, um passiven, gar aktiven Widerstand leisten. Hinck geht dafür mit sich ins Gericht. Die Erkundung der eigenen Geschichte war für ihn ein literarischer Balanceakt: "Woher sollte unsereiner, angesichts der Überlebenden von Theresienstadt und Auschwitz, überhaupt den Mut nehmen, von seiner Jugend zu erzählen? Was sich auch an Zweifeln gemeldet haben mochte, keiner hatte ausgereicht, dem Regime die Mitläufer-/Mithelferschaft aufzukündigen. Durfte man sich mit einer gewissen Altersnostalgie der Erinnerung an die Jugend hingeben, wenn sie mit Brechts Gedicht ‘An die Nachgeborenen’, mit seinem Wort vom ‘Gespräch über Bäume’ zu reden - ‘ein Schweigen über so viele Untaten’ einschließt? Aber andererseits: ist das Verschweigen eines Teils der eigenen Lebensgeschichte ‘historisch’ vertretbar, bedeutet es nicht eine Flucht vor der Zeitzeugenschaft? Und wäre es nicht eine Verfälschung der Widersprüche des Lebens, ja eine büßerische Heuchelei, so zu tun, als habe der Rückblick auf zwölf Jahre der Jugend nur über Anlässe zur Scham zu berichten?"
Walter Hinck erzählt seine Lebensgeschichte gelassen aus heutiger Sicht. Er blickt in abgeklärter Distanz zurück. Er wahrt seinen ruhigen Ton selbst angesichts der Brutalität, deren Zeuge er wurde: Die Schrecken des Krieges setzen sich für Walter Hinck noch nach dem Kriege fort: Er gerät in jugoslawische Kriegsgefangenschaft. Damit beginnt wohl die Zeit des Zweifels und des Umdenkens, die Ursache für seine spätere Gelehrsamkeit.
Zunächst ist die Gefangenschaft vergleichsweise erträglich. Als jedoch der jugoslawische Geheimdienst beginnt, sich für Walter Hinck zu interessieren, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. Hinck schlägt das Angebot des jugoslawischen Geheimdienstes ab, Spitzel zu werden. Daraufhin werden die Erpressungen grausamer: Unter Androhung der Folter legt Hinck ein fingiertes Geständnis als Kriegsverbrecher ab. Er wird in einem Scheinprozeß zu Zwangsarbeit verurteilt, weil er sich nicht zugunsten des jugoslawischen Geheimdienstes festnageln ließ: "Hauser gab mir die Hand und sagte (oh hätte er doch gar nichts gesagt!): ‘Leutnant Hinck, ich freue mich, daß Sie die Fahne der Division so hochgehalten haben.' Ich war perplex. Natürlich war sein Satz metaphorisch gemeint. Aber daß er annehmen konnte, ich hätte mich um der Ehre seiner Division willen in fünfjähriger Gefangenschaft aufrecht gehalten, daß er keinen Abschied vom verbrauchten Vokabular nehmen konnte, daß er sprach als stünden wir hier bei einer Ordensverleihung und nicht vor der Baracke eines Zwangsarbeitslagers. Das brachte mich auf, machte mich zornig. ‘Herr General’, sagte ich, noch die Höflichkeit wahrend, um sie aber gleich fahren zu lassen, ‘ich habe überhaupt keine Fahne hochgehalten.’ Sagte es und machte auf dem Absatz kehrt. Ich habe meine Affekthandlung auch nachher nicht bereut, als man mir Vorwürfe machte. Daß ich eine ‘Geheimdienstverweigerung’ so schwer büßen mußte, hatte mich verbittert, aber mit dieser Konservierung eines Denkens von gestern wollte ich nichts zu tun haben."
Walter Hinck zog Konsequenzen aus den Erfahrungen des Faschismus, des Krieges und der Gefangenschaft. Er wollte kein Mitmacher mehr sein. Es drängte ihn zu Aufklärung. Das markiert die große Wende in Hincks Leben. Er spricht davon, "wiedergeboren" zu sein. Sein zweites Leben beginnt. "Es schien mir", so Walter Hinck, "daß jetzt die Gedanken der Aufklärung, die Idee der Aufklärung, die Strategien der Aufklärung das einzige waren, was für mich in Frage kam, um Licht zu bringen in dieses Dunkel, das die Vergangenheit im Rückblick mehr oder weniger gewesen ist."
Es beginnt auch Hincks akademische Laufbahn. Hinck begegnet als Göttinger Student Helmuth Plessner, der zu seinem Mentor werden wird. Andere wichtige intellektuelle Begegnungen folgen. Als er bereits Professor ist, wird sein Freund Marcel Reich-Ranicki ihn bitten, Literaturkritiken für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zu schreiben, und auch Walter Jens und Hans Mayer werden zu seinem Freundeskreis zählen. Es häufen sich die Begegnungen, die seine vita zum beispielhaften Leben eines Intellektuellen in diesem Jahrhundert machen. Die wichtigste war die Begegnung mit Bertolt Brecht, über den Hinck promovierte und der immer ein ganz zentraler Bezugspunkt für ihn bleiben sollte: "Und dann stand plötzlich Brecht im Zimmer. Ich war von der Unvermitteltheit seines Erscheinens überrascht, aber dann nicht im geringsten überwältigt. Nichts an ihm gab für einen imponierenden Auftritt etwas her: nicht die bekannte einfache Brecht-Joppe oder das Brillengestell, nicht die wenig tragende Stimme oder das etwas linkische in seinem Gebaren. Was mich aber sofort für ihn einnahm, war ein Anschein von Verlegenheit, den ich eher bei einem schüchternen Lyriker erwartet hätte als bei einem weltbekannten Theaterautor und Regisseur. Brecht vermied jegliche Audienzatmosphäre, ja es schien, als setzte er sich selber herab, um seinem Besucher und Gesprächspartner ein Gefühl von Gleichrangigkeit zu geben."
Das zeitgemäße Ressentiment gegen den politischen Autor Brecht in den fünfziger Jahren machte Hinck nicht mit. "Ich bin in einem sozialistisch kommunistischen Staat zu Zwangsarbeit verurteilt worden", erzählt Walter Hinck, "und bin nachher zu Bertolt Brecht nach Ost-Berlin gegangen. Ich meine, daß das wieder einmal zeigt, daß ich mich nicht festlegen lasse; ich habe mich nicht festlegen lassen auf den Antikommunismus."
Walter Hinck sträubt sich gegen vorschnelle Schlüsse und Pauschalurteile. Auch darin besteht sein aufklärerisches Temperament. Selbst seine einschneidenden Erfahrungen im jugoslawischen Zwangsarbeitslager öffnen keiner politischen Ticket-Mentalität die Tür. Hinck versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen, nicht zuletzt, wo ideologische Voreingenommenheit Urteile verzerrt. Dank seines literaturpolitischen Wirkens konnte mancher Autor von seiner intellektuellen Souveränität profitieren. Als die deutsche Kritik Günter Grass Roman "Ein weites Feld" verriß, verteidigte Hinck den Schriftsteller. "In dem Augenblick, wo ich merkte, daß die ganze Phalanx der deutschen Kritik über diesen Autor herzieht, da ist mir klargeworden: da müssen wir gegensteuern. So läßt sich dieser Autor nicht festlegen; da sind eine ganze Reihe von Widersprüchen, die ich auch sehe und die ich auch nicht akzeptiere bei Günter Grass. Aber statt fand diese absolute Vereinseitigung einer Kritik, die nur noch sozusagen den politischen Autor beurteilt und nicht mehr den Erzähler Günter Grass, der ein großartiger Erzähler ist."
Walter Hinck gehört zu den wenigen deutschen Literaturwissenschaftlern, die die Literatur und die Autoren mindestens so lieben, wie die wissenschaftliche Disziplin. Das literarische Leben ist ihm so wichtig wie der Wissenschaftsbetrieb. In seinen Lebenserinnerungen lernt man ihn als einen Intellektuellen dieses Jahrhunderts kennen, der ohne jede Eitelkeit, ohne jeden Narzißmus von sich erzählt. Er hütet sich vor altväterlichen Prophetien, will auch uns Nachgeborene zu unserem eigenen Recht kommen lassen. Ein angenehmer, manchmal beschaulicher Tonfall, der jedoch nichts an der Spannung, mit der ich seine Memoiren gelesen habe, ändert.
Walter Hinck erzählt seine Lebensgeschichte gelassen aus heutiger Sicht. Er blickt in abgeklärter Distanz zurück. Er wahrt seinen ruhigen Ton selbst angesichts der Brutalität, deren Zeuge er wurde: Die Schrecken des Krieges setzen sich für Walter Hinck noch nach dem Kriege fort: Er gerät in jugoslawische Kriegsgefangenschaft. Damit beginnt wohl die Zeit des Zweifels und des Umdenkens, die Ursache für seine spätere Gelehrsamkeit.
Zunächst ist die Gefangenschaft vergleichsweise erträglich. Als jedoch der jugoslawische Geheimdienst beginnt, sich für Walter Hinck zu interessieren, spitzen sich die Ereignisse dramatisch zu. Hinck schlägt das Angebot des jugoslawischen Geheimdienstes ab, Spitzel zu werden. Daraufhin werden die Erpressungen grausamer: Unter Androhung der Folter legt Hinck ein fingiertes Geständnis als Kriegsverbrecher ab. Er wird in einem Scheinprozeß zu Zwangsarbeit verurteilt, weil er sich nicht zugunsten des jugoslawischen Geheimdienstes festnageln ließ: "Hauser gab mir die Hand und sagte (oh hätte er doch gar nichts gesagt!): ‘Leutnant Hinck, ich freue mich, daß Sie die Fahne der Division so hochgehalten haben.' Ich war perplex. Natürlich war sein Satz metaphorisch gemeint. Aber daß er annehmen konnte, ich hätte mich um der Ehre seiner Division willen in fünfjähriger Gefangenschaft aufrecht gehalten, daß er keinen Abschied vom verbrauchten Vokabular nehmen konnte, daß er sprach als stünden wir hier bei einer Ordensverleihung und nicht vor der Baracke eines Zwangsarbeitslagers. Das brachte mich auf, machte mich zornig. ‘Herr General’, sagte ich, noch die Höflichkeit wahrend, um sie aber gleich fahren zu lassen, ‘ich habe überhaupt keine Fahne hochgehalten.’ Sagte es und machte auf dem Absatz kehrt. Ich habe meine Affekthandlung auch nachher nicht bereut, als man mir Vorwürfe machte. Daß ich eine ‘Geheimdienstverweigerung’ so schwer büßen mußte, hatte mich verbittert, aber mit dieser Konservierung eines Denkens von gestern wollte ich nichts zu tun haben."
Walter Hinck zog Konsequenzen aus den Erfahrungen des Faschismus, des Krieges und der Gefangenschaft. Er wollte kein Mitmacher mehr sein. Es drängte ihn zu Aufklärung. Das markiert die große Wende in Hincks Leben. Er spricht davon, "wiedergeboren" zu sein. Sein zweites Leben beginnt. "Es schien mir", so Walter Hinck, "daß jetzt die Gedanken der Aufklärung, die Idee der Aufklärung, die Strategien der Aufklärung das einzige waren, was für mich in Frage kam, um Licht zu bringen in dieses Dunkel, das die Vergangenheit im Rückblick mehr oder weniger gewesen ist."
Es beginnt auch Hincks akademische Laufbahn. Hinck begegnet als Göttinger Student Helmuth Plessner, der zu seinem Mentor werden wird. Andere wichtige intellektuelle Begegnungen folgen. Als er bereits Professor ist, wird sein Freund Marcel Reich-Ranicki ihn bitten, Literaturkritiken für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" zu schreiben, und auch Walter Jens und Hans Mayer werden zu seinem Freundeskreis zählen. Es häufen sich die Begegnungen, die seine vita zum beispielhaften Leben eines Intellektuellen in diesem Jahrhundert machen. Die wichtigste war die Begegnung mit Bertolt Brecht, über den Hinck promovierte und der immer ein ganz zentraler Bezugspunkt für ihn bleiben sollte: "Und dann stand plötzlich Brecht im Zimmer. Ich war von der Unvermitteltheit seines Erscheinens überrascht, aber dann nicht im geringsten überwältigt. Nichts an ihm gab für einen imponierenden Auftritt etwas her: nicht die bekannte einfache Brecht-Joppe oder das Brillengestell, nicht die wenig tragende Stimme oder das etwas linkische in seinem Gebaren. Was mich aber sofort für ihn einnahm, war ein Anschein von Verlegenheit, den ich eher bei einem schüchternen Lyriker erwartet hätte als bei einem weltbekannten Theaterautor und Regisseur. Brecht vermied jegliche Audienzatmosphäre, ja es schien, als setzte er sich selber herab, um seinem Besucher und Gesprächspartner ein Gefühl von Gleichrangigkeit zu geben."
Das zeitgemäße Ressentiment gegen den politischen Autor Brecht in den fünfziger Jahren machte Hinck nicht mit. "Ich bin in einem sozialistisch kommunistischen Staat zu Zwangsarbeit verurteilt worden", erzählt Walter Hinck, "und bin nachher zu Bertolt Brecht nach Ost-Berlin gegangen. Ich meine, daß das wieder einmal zeigt, daß ich mich nicht festlegen lasse; ich habe mich nicht festlegen lassen auf den Antikommunismus."
Walter Hinck sträubt sich gegen vorschnelle Schlüsse und Pauschalurteile. Auch darin besteht sein aufklärerisches Temperament. Selbst seine einschneidenden Erfahrungen im jugoslawischen Zwangsarbeitslager öffnen keiner politischen Ticket-Mentalität die Tür. Hinck versucht, Gerechtigkeit walten zu lassen, nicht zuletzt, wo ideologische Voreingenommenheit Urteile verzerrt. Dank seines literaturpolitischen Wirkens konnte mancher Autor von seiner intellektuellen Souveränität profitieren. Als die deutsche Kritik Günter Grass Roman "Ein weites Feld" verriß, verteidigte Hinck den Schriftsteller. "In dem Augenblick, wo ich merkte, daß die ganze Phalanx der deutschen Kritik über diesen Autor herzieht, da ist mir klargeworden: da müssen wir gegensteuern. So läßt sich dieser Autor nicht festlegen; da sind eine ganze Reihe von Widersprüchen, die ich auch sehe und die ich auch nicht akzeptiere bei Günter Grass. Aber statt fand diese absolute Vereinseitigung einer Kritik, die nur noch sozusagen den politischen Autor beurteilt und nicht mehr den Erzähler Günter Grass, der ein großartiger Erzähler ist."
Walter Hinck gehört zu den wenigen deutschen Literaturwissenschaftlern, die die Literatur und die Autoren mindestens so lieben, wie die wissenschaftliche Disziplin. Das literarische Leben ist ihm so wichtig wie der Wissenschaftsbetrieb. In seinen Lebenserinnerungen lernt man ihn als einen Intellektuellen dieses Jahrhunderts kennen, der ohne jede Eitelkeit, ohne jeden Narzißmus von sich erzählt. Er hütet sich vor altväterlichen Prophetien, will auch uns Nachgeborene zu unserem eigenen Recht kommen lassen. Ein angenehmer, manchmal beschaulicher Tonfall, der jedoch nichts an der Spannung, mit der ich seine Memoiren gelesen habe, ändert.