Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv


Im Zeichen der Möwe

Wenn man bedenkt, dass Tschechows Stücke an unseren Theatern inzwischen überall und immer wieder, und von allen bedeutenden Regisseuren inszeniert werden, ist es fast verwunderlich, dass die Texte des vorliegenden Bandes erst jetzt ins Deutsche übersetzt worden sind.

Von Karla Hielscher | 27.08.2012
    Ist doch allen Theaterfreunden längst bewusst, dass die Geburt des modernen Theaters bis hin zum absurden mit Tschechows Namen verbunden ist.

    Und ihre Geburtshelfer waren die großen russischen Regisseure und Begründer der modernen Theaterkultur, Nemirowitsch-Dantschenko und Stanislawski. Sie waren es, die mit der Gründung des Moskauer Künstlerischen Theaters 1898 dem Theater den Weg in die Zukunft gewiesen haben. Und erst mit den längst legendären Inszenierungen der Tschechow'schen Stücke auf dieser neuen Bühne, die sogleich als "Theater Tschechows" galt, wurde das grundsätzlich Andere und Neue seiner Stücke offenbar.

    Der Herausgeber Dieter Hoffmeier – Stanislawski-Forscher und emeritierter Professor an der Theaterhochschule "Ernst Busch" – hat für den vorliegenden Band die zwölf Kapitel der Erinnerungen Nemirowitsch-Dantschenkos "Aus vergangener Zeit", die der Zusammenarbeit mit Tschechow gewidmet sind, zum ersten Mal in Deutsch vorgelegt.

    Außerdem enthält das gewissenhaft kommentierte und mit Anmerkungen versehene Buch einen bei uns noch unbekannten Text Stanislawskis über dessen gemeinsame Jahre mit dem großen Dramatiker. Zur Biografie Tschechows bietet das Buch – angesichts der immensen seitdem geleisteten Forschungsarbeit – kaum Neues, die mit ihm verbundene Geschichte der Gründung des Moskauer Künstlerischen Theaters aber ist von höchstem Interesse.

    Besonders die Erinnerungen Nemirowitsch-Dantschenkos, die der erfolgreiche Dramatiker, Schauspielpädagoge und Duzfreund Tschechows in der Sowjetzeit der 30er-Jahre – also als etwa Siebzigjähriger – niederschrieb, bieten ein spannungsreiches Bild des Lebens der Moskauer Künstlerkreise um die Wende zum 20. Jahrhundert, als sich eine neue Kunst Bahn brach.

    Im Juni 1897 kam es zu dem historischen Gespräch zwischen Nemirowitsch-Dantschenko, der die Schauspielklasse der Moskauer Philharmonischen Gesellschaft leitete, wo später so berühmte Theaterleute wie Meyerhold und Olga Knipper lernten, und dem jungen wohlhabenden Kaufmann Stanislawski, der damals mit einem Amateurzirkel von begeisterten Theaterenthusiasten viel beachtete Aufführungen inszenierte.
    Auf einen Brief Nemirowitsch-Dantschenkos reagierte Stanislawski, "als hätte er nur darauf gewartet, dass endlich so etwas passiert", und die beiden von einem neuen, besseren Theater Träumenden trafen sich im berühmten Moskauer Restaurant "Slawischer Basar". Das Gespräch begann um 14 Uhr und endete 18 Stunden später am nächsten Morgen auf Stanislawskis in einem herrlichen Kiefernwald gelegenen Datscha Ljubimowka, in der es neben dem zweistöckigen Haus auch ein kleines Theatergebäude gab.

    Die beiden Theaterbesessenen fassten schnell zueinander Vertrauen, gingen alle Personen ihrer Wirkungskreise, die sie für ihr Projekt gewinnen wollten, durch und legten die Grundzüge für ein literarisch anspruchsvolles künstlerisches Theater fest:

    - Lange, intensive, am Text orientierte Probenarbeit möglichst in Zusammenarbeit mit dem Autor;

    - die bestimmende Rolle des Regisseurs, dessen vereinheitlichender Wille und durchdachtes Regiekonzept den wohl wichtigsten Unterschied zum althergebrachten Theater ausmacht;

    - genaue Regeln für die gemeinsame Arbeit, mit denen die Rechte und Pflichten aller Beteiligten festgelegt wurden.

    Die neue Organisationsform des Theaterkollektivs beruhte auch darauf, dass die Schauspieler Aktionäre ihres eigenen Unternehmens wurden. Natürlich hatte das Projekt noch mit unendlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, obwohl alle Beteiligten von einem mächtigen Schub von Energie und Begeisterung angetrieben wurden. Und ohne das großzügige Mäzenatentum des berühmten Fabrikanten Sawwa Morosow wäre es wohl kaum von Erfolg gekrönt gewesen.

    Den eigentlichen Durchbruch brachte erst der triumphale Erfolg von Tschechows Komödie "Die Möwe". Nach dem peinlichen Reinfall des Stückes in Petersburg 1896 hatte Nemirowitsch-Dantschenko den Autor nur mit größter Überredungskunst dazu bringen können, dem neuen Theater die Aufführung zu erlauben. Er hatte Mühe, Tschechow davon zu überzeugen, dass – wie er in einem Brief an ihn schrieb –

    "… die verborgenen Dramen und Tragödien in jeder einzelnen Figur bei einer klugen, nicht banalen, gewissenhaften Inszenierung auch den Zuschauerraum ergreifen werden".

    Mit dem berauschenden Erfolg dieser Inszenierung, die man dem kranken Tschechow in Jalta in einem Jubeltelegramm mitteilte, war schließlich ein neues Theater geboren.
    Tschechows gesamtes weiteres Theaterschaffen bis zu seinem frühen Tod 1904 mit 44 Jahren war von da an fest mit diesem Theater verbunden, das sich das Bild einer Möwe als Erkennungszeichen erwählte, noch dazu, da er mit der großen Schauspielerin Olga Knipper ein spätes Glück fand.

    Für alle am Theater Interessierten bieten diese Memoiren über das Entstehen und die prägenden ersten Jahre des Moskauer Künstlerischen Theaters spannendes, detailreiches Material. Und gerade die Erfahrung, wie anders und wie unterschiedlich Tschechows Stücke über hundert Jahre später von den verschiedenen Regisseuren aufgefasst und in Szene gesetzt werden, macht deutlich, dass es die Theaterarbeit Nemirowitsch-Dantschenkos und Stanislawskis war, die den Grund gelegt hat für gutes Regietheater und für die echte künstlerische Auseinandersetzung mit Tschechows Dramen.

    Wladimir Iwanowitsch Nemirowitsch-Dantschenko, Konstantin Sergejewitsch Stanislawski: "Tschechow oder die Geburt des modernen Theaters". Herausgegeben, aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Dieter Hoffmeier, Alexander Verlag Berlin/ Köln 2011, 359 Seiten