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"Im Zweifel für die Freiheit!"

Die Neuauflage von Willy Brandts Autobiographie "Links und frei. Mein Weg 1930 bis 1950" ist als SPD-Klassiker ein eindrucksvolles Dokument deutscher Zeitgeschichte. Brandt schildert die aufregenden Stationen seines Lebenswegs, angefangen vom Lübecker Arbeiterjungen bis hin zur Rückkehr aus dem Exil und seiner Verantwortung in der Nachkriegs-SPD.

Von Norbert Seitz |
    "Wenn ich sagen soll, was mir neben dem Frieden wichtiger sei als alles andere, dann lautet meine Antwort ohne Wenn und Aber: Freiheit: Die Freiheit für viele, nicht für die wenigen. Freiheit des Gewissens und der Meinung. Auch Freiheit von Not und Furcht."

    Willy Brandt zieht Resumé. Im Juni 1987 bringt er in seiner Abschiedsrede als SPD-Vorsitzender sein langes politisches Leben auf den Punkt: Links ja, aber frei!

    Über diese prägende Grundüberzeugung hatte er in den frühen achtziger Jahren in einer bewegenden Autobiografie Zeugnis abgelegt. Der Zeitpunkt der Buchveröffentlichung passte damals ins depressive Stimmungsbild der SPD am Ende der sozialliberalen Ära, wo es darum ging, die Partei von Neuem zu motivieren. Die Botschaft verfehlte ihre Wirkung nicht. Denn Willy Brandt hält darin die aufregenden Stationen seines Lebenswegs als Lübecker Arbeiterjunge und Johanniter fest, der als Zwanzigjähriger in einem Fischkutter die Flucht ins skandinavische Exil antritt. Doch ideologischer Hochmut, auf der richtigen Seite gekämpft zu haben, ist ihm fremd:

    "Mir war durchaus bewusst, dass ich mich als Angehöriger einer Bewegung, die versagt hatte, ins Exil begab. Wir ließen uns nicht ins Ungeheuerliche verstricken, doch im Laufe der Jahre wurde mir immer klarer, dass man auch als deutscher Antinazi keinen Grund hatte, sich auf ein hohes Ross zu setzen."

    Der junge Brandt hatte sich am Ende der Weimarer Republik der SAP, einer linkssozialistischen Abspaltung der SPD angeschlossen. Denn "die passive Mittelmäßigkeit" der Mutterpartei schien ihm kaum mehr erträglich. Er zitiert sein Lübecker Vorbild, den späteren antifaschistischen Widerstandskämpfer Julius Leber:

    "Julius Leber nannte die Lust an der Ohnmacht eine sozialdemokratische Erbsünde. Immobilismus und Phantasielosigkeit waren nicht nur für den letzten Abschnitt der Republik kennzeichnend."

    Brandt schreibt kämpferische Texte und übernimmt Kurierdienste für die Emigrantenorganisationen in Oslo, Paris, im Untergrund in Berlin und in Barcelona während des spanischen Bürgerkriegs.
    Dort durchleidet er die Tiefen eines letztlich sektiererischen Daseins. Er ist entsetzt über die mörderische Rolle sowjetkommunistischer Schergen vor Ort und die Tatenlosigkeit der Westdemokratien, die dem diabolischen Zusammenspiel von Franco, Hitler und Mussolini im Süden Europas keine Interventionsmacht entgegensetzen. Am 5. September 1938 wird Willy Brandt von den Nazibehörden ausgebürgert:

    "Ich kann mich nicht erinnern, dass mich diese Veränderung meines Status sonderlich beeindruckt hätte. Ausbürgern heißt entnazen, hatte Bertolt Brecht gesagt. Immerhin, ich war nun einer von 38.766 Deutschen – zusätzlich zu den all den deutschen Juden, die nicht mal mehr dieser Prozedur unterworfen wurden – die nach Naziwillen in aller Form nicht mehr Deutsche sein sollten."

    Denen, die ihm in der Nachkriegszeit in üblen Verleumdungskampagnen die Jahre der Emigration anlasten sollten, hält er treffend entgegen:

    "Mein Lebensweg wich in der Tat von dem der meisten meiner Landsleute erheblich ab. Das war nicht deren Schuld, aber auch nicht meine Schande. Ich wollte als junger Mann mit dem deutschen Staat, der rechts- und menschen-feindlich war, nichts zu tun haben. Ich war immer der Meinung, dass es sehr unvernünftig gewesen wäre, den zum Dableiben verurteilten Landsleuten Vorwürfe zu machen. Aber noch widersinniger wäre es, nachträglich eine Pflicht zum Ausharren feststellen zu wollen."

    Willy Brandt kehrt nach Kriegsende aus dem skandinavischen Exil in seine "aus vielen Wunden blutende Heimat" zurück. Denn ihn quält die Frage: Was wird aus Deutschland? Aber auch: Was wird mit der Sozialdemokratie, in der man trotz aller Erneuerungsschwüre zunächst immer noch auf sozialistische Art turnt, wandert und singt. Ernüchtert fasst er seine Lehren aus dem Exil zusammen:

    "Ich habe im Exil gelernt, wie unfruchtbar Sektierertum und wie impotent die Rechthaber der vermeintlich reinen Lehre notwendig sein müssen. In Skandinavien habe ich einiges vom Sinn für die Realitäten, von den Werten einer freiheitlichen und sozialen Demokratie und von den Chancen der Weltoffenheit in mich aufgenommen."

    Willy Brandts "Links und frei" ist als SPD-Klassiker ein eindrucksvolles Dokument deutscher Zeitgeschichte. Schon der Titel wurde zum Renner, der seither zahllose Juso-Postillen, Politikerbiografien und Arbeitskreise ziert. Dabei wird gern unterschlagen, dass sich "Links und frei" auf einen emphatischen Freiheitsbegriff bezieht, der mehr ist als ein Bündel lieb gewonnener sozialer Errungenschaften. Daran erinnerte auch Willy Brandt in seiner Abschiedsrede 1987:

    "Deutsche Sozialdemokraten dürfen Kränkungen der Freiheit nie und nimmer hinnehmen: Im Zweifel für die Freiheit! (…) Auf Freiheit pochen – zuerst und zuletzt – für uns Europäer und für das eigene Volk, Freiheit einzuklagen für die Verfolgten und Ohnmächtigen – dies sei meine letzte "Amtshandlung" als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands."

    Willy Brandt: "Links und frei: Mein Weg 1930 – 1950"
    Hoffmann und Campe, 496 Seiten, 24,99 Euro
    ISBN: 978-3-455-50267-1