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"Immerhin ist die Welt, wie Ihr sie vorfindet, von uns auf Euch überkommen"

Ophélie Latil gehört zur Bewegung der "empörten Bürger" in Frankreich: jung, hochqualifiziert und ohne Hoffnung auf einen angemessenen Job. Der 57 Jahre alte österreichische Gesellschaftskritiker Karl-Markus Gauß ist bereit, die Gründe für diese Situation der Jugend auch in seiner Generation zu suchen.

02.08.2011
    Liebe Ophélie,

    Sie fragen, ob ich verstehen kann, dass Sie sich, dass sich überall in Europa Abertausende aus Ihrer Generation empören. Ich kann es verstehen, ich frage mich sogar, warum sich die Jugend Europas so lange nicht empört hat.

    Wie es geschehen konnte, dass sie so lange hingenommen hat, was man ihr vorgesetzt und über sie verhängt hat: Universitäten, an denen zu studieren kein geistiges Vergnügen ist, sondern ein täglicher Kampf um den Platz im Hörsaal, im Seminar - und ein täglicher, die Solidarität zerstörender Kampf des einzelnen Studenten gegen den anderen. Eine Bildungspolitik, die nicht kritische Bildung, sondern spezifische Ausbildung zum höchsten Ziel hat, also den einzelnen mit ganz bestimmten Fertigkeiten und Fähigkeiten ausstatten möchte - und ihn dann erst recht im Stich lässt, denn mit dem, was er gelernt, wofür er sein Diplom erworben hat, kann er im Arbeitsleben gar nicht wirklich Fuß fassen...
    Was es bedeutet, wenn eine ganze Generation nur mit befristeten Arbeitsverträgen ausgestattet wird und auf Abruf bereit stehen muss, schlecht bezahlte Arbeit zu tun, das hat Folgen bis in die private, intime Sphäre jedes einzelnen, aber auch für die Kultur von uns allen, nicht nur von Euch Jungen, sondern auch von deren Eltern und der Gesellschaft selbst.

    Es ist bemerkenswert, dass innerhalb des reichsten Gemeinwesens, das es auf europäischem Boden je gegeben hat, der Europäischen Union, Verhältnisse entstanden sind, die in manchem jenen in armen, despotisch regierten Ländern anderer Kontinente ähneln. Die Revolten in Ägypten oder Tunesien sind ja von den Jungen ausgegangen und haben sich gerade an dem unhaltbaren Zustand entzündet, dass diese, wie gut ausgebildet sie immer sein mögen, nie in die Lage versetzt wurden, ein selbstständiges Leben zu führen. Wer mit 30 noch in der Wohnung der Eltern leben muss, weil er sich eine eigene nicht leisten kann, dessen Freiheit ist extrem eingeschränkt - und sei es jene, sich den Sexualpartner nach Hause nehmen zu können, nach dem ihm sein Begehr steht.

    Das ist empörend, und es ist gut, dass sich jetzt so viele dagegen empören. Damit die Empörung was nutze, muss man allerdings versuchen, dahinter zu kommen, wie jene unhaltbare Situation entstanden ist und auch, wer von ihr profitiert. Diese Auseinandersetzung muss natürlich auch mit meiner Generation geführt werden, denn immerhin ist die Welt, wie Ihr sie vorfindet, von uns auf Euch überkommen.

    Liebe Ophélie, wundern Sie sich nicht, aber viele aus meiner Generation waren damals glücklich davon überzeugt, gerade mitten dabei zu sein - bei der menschengemäßen Umgestaltung der sozialen Verhältnisse.

    Es grüßt Sie herzlich

    Ihr Karl-Markus Gauß

    Serie "Liebe Ophélie - lieber Karl-Markus". Jugendprotest in Europa. Ein Briefwechsel.

    Zu hören wochentäglich vom 1. bis 10. August 2011 im Deutschlandfunk in der Sendung "Europa heute" ab 9:10 Uhr und die Wiederholung um 14:35 Uhr in "Campus & Karriere".