Schmitz: Zuerst der Imperialismus, später das Kaiserreich waren Mommsens Forschungsschwerpunkt. Für was hat er den Blick mit seinem Blick geöffnet? Oder was wüssten wir ohne Wolfgang Mommsen heute nicht so?
Wehler: Mommsen hatte ursprünglich vor nach der Dissertation, wie einige von uns, sich dann dem Imperialismus zuzuwenden und zwar interessierte uns und auch Schieder, die Vorgeschichte des heutigen Nord-Süd-Gefälles. Das war ja damals schon ganz klar zu erkennen. Er hatte dafür ein Jahr in England verbracht, hat dann aber diese Spur, englischer Imperialismus bis zum Höhepunkt am Ende des ersten Weltkriegs nicht weiterverfolgt, sondern geriet in den Sog der Kontroverse, die Fritz Fischer mit seinem Buch über die Kriegszielpolitik des deutschen Kaiserreiches ausgelöst hat. Da Mommsen die Akten kannte aufgrund seiner Vorbereitung des Weberbuches war er von Anfang an einer der wenigen Sachkenner, der da mitreden konnte. Im Gegensatz zu mancher überzogener These von Fritz Fischer und seinen Schüler, das kann man im Rückblick jetzt ganz klar sagen, behielt Mommsen mit seinem Urteil über die Expansionsbereitschaft des Kaiserreiches, aber auch mit seinem Blick auf das Problem im Vergleich gesehen, nämlich dass in England und in Frankreich und in Russland ganz ähnliche Tendenzen am Werke waren, Recht. Da er durch die Beschäftigung mit Max Weber und die Expansionspolitik des wilhelminischen Reiches eben ganz frühzeitig auf diese Probleme gestoßen war, bewährte er sich da gewissermaßen als Kritiker, der im Prinzip die Stoßrichtung von Fritz Fischers Kritik teilt, aber sie doch in mancher Hinsicht modifizierte.
Schmitz: Müsste man da das Stichwort "Urkatastrophe" einbringen?
Wehler: Ja, deshalb rückte das, was George Kennan, der amerikanische Diplomat und Historiker so bildkräftig als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnet hat, auch für ihn namentlich in den letzten Jahren in den Mittelpunkt. Das war der Erste Weltkrieg, den er als junger Doktorand sozusagen im Brennspiegel von Webers Interessen verfolgt hatte, dann neu analysiert hatte als die Fischer-Kontroverse in der Bundesrepublik ablief und dieses Interesse hat ihn nicht losgelassen. Aus seiner Feder stammt vor zwei Jahren ein Handbuch der Deutschen Geschichte, in dem er sozusagen noch mal die Grundlinien des Krieges, wie er sie sah und die immensen Folgen, denn ohne diesen Ersten Weltkrieg wäre der Zweite nicht gekommen mit seinen Übersteigerungen, ganz klar herausgearbeitet hat.
Schmitz: Sie, Hans-Ulrich Wehler, sind über Jahrzehnte, Sie sagten es, auch mit Wolfgang Mommsen befreundet gewesen. Wie würden Sie seine Persönlichkeit als Wissenschaftler beschreiben und was war er überhaupt für ein Mensch?
Wehler: Das auffällige an Wolfgang Mommsen war zunächst einmal seine Vitalität, seine Vitalität als Intellektueller, aber auch insgesamt seine Persönlichkeit. Er war das genaue Gegenteil eines introvertierten Schreibtischgelehrten, der, wie man früher gerne sagte, im Elfenbeinturm seiner Arbeit nachging, sondern jemand, der jederzeit für eine offene Auseinandersetzung, eine Kontroverse in möglichst pointiert zugespitzter Form, wie wir das an Max Weber gelernt hatten, zu haben war. Das machte ihn in öffentlichen Kontroversen, zum Beispiel als wir uns für die Ostverträge eingesetzt haben oder während des Historikerstreits, als es weniger um eine wissenschaftliche Kontroverse aber um das Selbstverständnis der alten Bundesrepublik ging, zu einem sehr geschätzten Streitgenossen. Ich kann nur sagen, in der Gelehrtenwelt sind solche Figuren wie Wolfgang Mommsen, bei dem man immer genau wusste, wo man dran war, kein Verschweigen, kein frühzeitiger Kompromiss, keine intrigante Formulierung, außerordentlich selten.
Schmitz: Hans-Ulrich Wehler im Gespräch über den verstorbenen Historiker Wolfgang Mommsen.