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ImPulsTanz-Festival
Mikrokosmos einer Schwulensauna

"John" ist eine Uraufführung von Lloyd Newson und dem "DV8 Physical Theatre" beim ImPulsTanz-Festival in Wien. Im Fokus steht eine Schwulensauna, in die Hauptdarsteller John gerät und in der er nach echten Kontakten sucht, meist aber nur schnellen Sex findet. Newson versteht es auch wieder, Text und Körpersprache miteinander zu verbinden.

Von Elisabeth Nehring | 06.08.2014
    Die Tastatur-Buchstaben S, E, X liegen einzeln auf einer rosa Tischdecke.
    Mehr als 50 Männer hat der Regisseur interviewt und mit ihnen über Leben, Liebe und Sex gesprochen. Johns Geschichte ist also eine unter vielen, aber eine extreme. (picture alliance / dpa / Foto: Tuomas Marttila)
    "I'm going fucking kill myself"
    Nein, John hat es im Leben nicht leicht gehabt. Als Sohn einer suizid-gefährdeten Mutter und eines gewalttätigen Vaters, der Tochter und Babysitter vergewaltigt und seine Söhne grün und blau schlägt, ist Johns schwieriges Leben vorprogrammiert. Drogensucht und Kleinkriminalität, Brandstiftung und Knast, frühe Vaterschaft und sterbende Freundinnen - sein Weg ist steinig.
    Leben, Liebe und Sex
    Vielleicht hat DV8-Direktor Lloyd Newson gerade deshalb diesen John aus dem rauen Norden Englands ausgewählt. Mehr als 50 Männer hat der Regisseur interviewt und mit ihnen über Leben, Liebe und Sex gesprochen. Johns Geschichte ist also eine unter vielen, aber eine extreme und sie wird - in Kombination mit szenischer Darstellung - von der Hauptfigur in einem langen, bewegten Monolog preisgegeben. Die Drehbühne mit einer Holzkonstruktion aus Wänden zeigt ständig wechselnd Wohnzimmer, Flure, Nischen und Fassaden - höchst genau choreografierte Verschiebungen der Innen- und Außenperspektive des Geschehens.
    Der deutsche Schauspieler und Tänzer Hannes Langolf spielt diesen John aus der britischen Arbeiterklasse - mit perfektem nordenglischen Akzent, aber vor allem mit einer ganz eigenen Bewegungssprache. Ständig befindet sich dieser Körper, wie das Leben, in Schieflage; die Schultern sind leicht hochgezogen, der Bauch etwas vorgereckt. Die Hilflosigkeit angesichts der Unwillen des eigenen Lebens ist John in den kantigen Körper eingeschrieben.
    Direktor Lloyd Newson hat bereits in seinen letzten Produktionen Text und Körpersprache meisterhaft miteinander verbunden. Auch in "John" lässt er Bewegung und Tanz wieder auf die verbale Sprache los: Während die Hauptfigur - und im weiteren Verlauf des Abends auch andere Protagonisten - erzählen, übersetzen sie zugleich die Message noch einmal in körperlichen Ausdruck. Mal ist das - wie in den Szenen aus Johns Kindheit - illustrativ, zunehmend aber auch metaphorisch.
    Sexuelle Präferenzen und laxer Umgang mit HIV
    Der zweite Teil des Stücks konzentriert sich ganz auf den Mikrokosmos einer Schwulensauna, in die John gerät und in der er nach echten Kontakten sucht, meist aber nur schnellen Sex findet. Während die Männer, mit Handtüchern bekleidet, von ihren Anmachtricks, sexuellen Präferenzen und dem ziemlich laxen Umgang mit HIV erzählen, gleiten sie aneinander vorbei, gehen fließend zu Boden oder verschachteln sich ineinander.
    Mitunter hat das einen komischen Effekt, aber vor allem öffnet und erweitert die Bewegung das, was die Sprache eigentlich festschreiben will, in einen assoziativen Raum. Dabei begeistert die Präzision der neun Darsteller, die nicht nur gleichermaßen tanzen und spielen können, sondern auch auf komplexeste Weise das gesprochene Wort und die getanzte Bewegung auf der Bühne zu einer Synthese verschmelzen lassen. Eine großartige künstlerische Leistung!
    "John" setzt auf Empathie
    Llyod Newson macht im wahrsten Sinne des Wortes "physical theatre" - oder, wie er es selbst inzwischen nennt - "verbatim theatre" (wortwörtliches Theater) - ein Theater, in dem gesprochenes Wort und Bewegung des Körpers gleichberechtigt sind - auch, oder gerade weil sie auf verschiedene Ebenen des Ausdrucks zielen. Zum ersten Mal hat der Regisseur allerdings diese Technik für das ganz stringente Erzählen einer Geschichte benutzt - und dem Stück damit Reibungsfläche genommen. Die provokante Vorgängerproduktion "Can we talk about this?", für die Newson die Aussagen moderater und radikaler Muslime zu Textteppichen verwob, ließ viele gegensätzliche Stimmen aufeinanderprallen und sorgte damit für erhitze Debatten nach der Vorstellung; "John" dagegen setzt eher auf Empathie – denn anders als von diesem Leben berührt kann man dieses Stück kaum verlassen.