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In Äthiopien begann der Krieg schon 1935

Der Initiator der Berliner Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", Karl Rössel, beklagt, dass unsere Geschichtsschreibung eurozentrisch sei und man in Europa vergesse, dass Millionen Soldaten aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg gekämpft hätten.

Karl Rössel im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske | 31.08.2009
    Doris Schäfer-Noske: Ende vergangener Woche hat es in Berlin Streit um die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg" gegeben. Wir haben darüber berichtet. Eigentlich sollte die Ausstellung in der Berliner Werkstatt der Kulturen gezeigt werden. Die Leiterin dort sagte die Schau aber ab, denn sie störte sich an einem kleinen Teil der Ausstellung. Die Schau zeigt, wie Menschen aus Afrika und Asien als Soldaten mithalfen, Deutschland vom Faschismus zu befreien, auf manchen Tafeln wurde aber auch die Rolle der Kollaborateure thematisiert. Nun stellte sich die Frage, welches Motiv hinter der Absage steckte. Hatte man etwa Angst vor Protesten von muslimischer Seite, weil es auch um arabische Kollaborateure ging? Die Ausstellung ist jedenfalls nun umgezogen. Morgen wird sie in den Uferhallen im Berliner Stadtteil Wedding eröffnet, und wir wollen uns heute mit den Inhalten der Ausstellung auseinandersetzen, die das Ergebnis eines jahrelangen Forschungsprojektes ist. Frage an Karl Rössel vom Kölner Verein "recherche international", der für die Ausstellung verantwortlich ist: Herr Rössel, was vergessen wir denn, wenn wir uns aus europäischer Sicht an den Zweiten Weltkrieg erinnern?

    Karl Rössel: Ich würde es so formulieren, dass wir die zweite Hälfte der Geschichte des Zweiten Weltkriegs vergessen. Wir reden zwar von Weltkrieg, aber wir betrachten in der Regel nur Europa, die USA, Japan, vielleicht noch die Sowjetunion. Aber wir vergessen, dass Millionen Soldaten aus Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben, um die Welt vom deutschen und italienischen Faschismus sowie vom japanischen Großmachtwahn zu befreien. Um mal zwei Zahlen zu nennen: Allein Indien stellte 2,5 Millionen Kolonialsoldaten, und allein China hatte mehr Opfer im Zweiten Weltkrieg zu beklagen als Deutschland, Italien und Japan zusammen. Und die meisten Bombentoten gab es auch nicht in Dresden, Berlin oder Köln, sondern in der philippinischen Hauptstadt Manila, wo bei der Befreiung 100.000 Zivilisten ums Leben kamen.

    Schäfer-Noske: Wo haben Sie denn dann das Material über den Krieg außerhalb Europas gefunden?

    Rössel: Wir haben in einem Team von Journalisten seit Mitte der 90er-Jahre in circa 30 Ländern der sogenannten Dritten Welt recherchiert, vor Ort, und das, was hier verdrängt, vergessen oder auch verschwiegen ist, findet man in der Dritten Welt als sehr präsent. So gibt es beispielsweise in Afrika nahezu in jeder großen Stadt ein "Maison des Anciens Combattants" in den ehemals französischen Kolonien oder einen "Veterans Club" in den anglophonen ehemaligen Kolonien, das heißt ein Veteranenklub, in dem sich die alten Kämpfer treffen und die natürlich sofort bereit waren, darüber zu erzählen, weil sie alle sehr verbittert sind, dass ihre Beteiligung an der Befreiung Europas so wenig Anerkennung findet, dass sie nicht die gleichen Pensionen bekommen wie französische Soldaten. Und das waren ja keine kleinen Zahlen, auch in Afrika nicht. Schätzungsweise kämpften eine Million Afrikaner aufseiten Frankreichs und eine Million Afrikaner aufseiten Großbritanniens. Und allein in Äthiopien kämpften 500.000 Partisanen gegen die italienischen Invasoren. Und dort begann der Krieg im Übrigen auch schon 1935. Wir haben den Beginn dieser Ausstellung, die Premiere, bewusst auf den 1. September, also den 70. Jahrestag des Kriegsbeginns in Europa gelegt, um daran zu erinnern, dass es halt nicht nur in Europa stattfand, sondern beispielsweise der Krieg um Äthiopien, der schon vier Jahre im Gang war. Und das war kein kleiner Krieg, da waren Soldaten aus 17 Nationen und drei Kontinenten beteiligt, es gab Hunderttausende von Toten und es zählt halt nur nicht als Weltkrieg, weil es nicht in Europa, sondern in Afrika stattfand.

    Schäfer-Noske: Sie beginnen aber die Ausstellung morgen, das heißt, Sie würden nicht so weit gehen zu sagen, Italien habe den Zweiten Weltkrieg angefangen?

    Rössel: Ich würde so weit gehen, dass alle in Ostafrika sagen, dass für sie der Zweite Weltkrieg 1935 begann. Es werden auch alle Leute in China sagen, dass für sie der Zweite Weltkrieg Mitte 1937 begann, als die japanische Armee einmarschiert ist.

    Schäfer-Noske: Warum wurde denn dieser Teil der Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht längst von Historikern aufgearbeitet?

    Rössel: Ja, das kann man sich fragen. Er wurde aufgearbeitet von Historikern in all diesen Ländern. Das Erstaunliche ist, dass es große Untersuchungen gibt über zum Beispiel die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs in Ozeanien in der Pazifikregion. Es wird bei uns nicht zur Kenntnis genommen, weil unsere Geschichtsschreibung extrem eurozentristisch ist und weil manche möglicherweise auch politisch kein Interesse daran haben, in Europa daran zu erinnern. Man müsste dann ja vielleicht mit den vergessenen Befreiern heutzutage auch anders umgehen. Die Kinder und Enkel zum Beispiel von afrikanischen Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg für unsere Befreiung gekämpft haben, haben es ja heute schon schwer, ein Visum zu beantragen, um nach Europa oder Deutschland einreisen zu können. Es müssten höhere Pensionen gezahlt werden, Invalidenrenten, Witwenrenten. Daran hat keiner ein Interesse, und insofern ist es manchen auch ganz recht, dass das Thema so lange verschwiegen wurde.

    Schäfer-Noske: Das war Karl Rössel über die Ausstellung "Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg", die morgen in Berlin eröffnet wird. Eine Schulversion der Ausstellung wird nun übrigens auch in den ursprünglichen Räumen gezeigt.