Archiv


"In biografischer Hinsicht aufschlussreich"

Vier Archivkästen mit Fotos, Manuskripten und persönlichen Briefen: Dieser Nachlass der Dichterin Nelly Sachs wird derzeit im Literaturarchiv Marbach ausgewertet. Der Leiter der Handschriftenabteilung, Ulrich von Bülow, bezeichnete die Sammlung als sehr bedeutend. Sie werfe ein neues Licht auf das private Leben der Literaturnobelpreisträgerin.

Moderation: Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: 1940 flüchtete sie vor den Nazis aus Berlin nach Stockholm: die mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnete Dichterin Nelly Sachs. Als Nelly Sachs 1970 starb, hat sich Rosi Wosk um ihren Nachlass gekümmert. Rosi Wosk, ihre Sekretärin, Freundin und Vertraute, hatte eine kleine Sammlung von Manuskripten, Briefen und Fotos zusammengetragen, die sie über Jahrzehnte hütete, wie einen Schatz. Kurz vor ihrem eigenen Tod nahm Rosi Wosk Kontakt mit dem deutschen Literaturarchiv Marbach zwecks Übergabe auf. Der Leiter der Handschriftenabteilung des Instituts, Ulrich von Bülow, hat die vier Archivkästen gesichtet, kein großes Volumen also. Und wie steht es mit der Qualität der Sammlung?

    Ulrich von Bülow: Ja, also das Volumen ist nicht sehr groß, aber es sind doch sehr bedeutende Dokumente darin enthalten und viele, die auch ein neues Licht auf das private Leben von Nelly Sachs werfen, was ja sonst nicht sehr gut bekannt ist eigentlich.

    Christoph Schmitz: Gehen wir diese Dokumente der Reihe nach mal durch. Zahlreiche Gedichtentwürfe sind dabei, Notizen zu Gedichten. Kann man damit etwas über die Entstehung möglicherweise berühmter Gedichte von Nelly Sachs etwas erfahren oder aus den Notizen vielleicht neue Deutungsansätze von Nelly Sachs selbst?

    Bülow: Ja. Die Forschung hat eben dieses Material noch gar nicht gesehen. Die Auswertung steht eigentlich noch bevor. Aber man sieht eben, dass sind tatsächlich Gedichte im Entwurfscharakter, also mit vielen Veränderungen, noch Korrekturen, die ja immer sehr interessant sind für die Art des Schreibens. Und es gibt auch Notizenlisten von Worten, die eben Rückschlüsse sicherlich auf die Poetologie von Nelly Sachs erlauben.

    Schmitz: Von bedeutenden Korrespondenzen ist auch die Rede. Welche sind das und welche biografischen Aufschlüsse sind damit möglich?

    Bülow: Nelly Sachs hat Briefe aus den 20er Jahren auch Rosi Wosk gegeben. Das sind die 20er Jahre, in denen Nelly Sachs noch wenig veröffentlich hat, einiges in Berliner Zeitungen. Aber sie war noch nicht sehr bekannt. Und es sind auch nicht selten Ablehnungen von Redakteuren, die eben ihre Gedichte noch nicht drucken wollen. Und dabei befindet sich aber auch eine Karte von Selmar Lagerlöf, die biografisch ganz wichtig war für Nelly Sachs, weil sie eine Ermutigung enthalten, Schriftstellerin zu werden. Diese Art von Zuspruch, die Nelly Sachs von ihr erfuhr, die war also ganz wichtig für ihr weiteres Schaffen. Und es gibt aber auch wichtige Briefe von Nelly Sachs an Rosi Wosk. Die sind vielleicht poetologisch nicht von so großem Interesse wie in biografischer Hinsicht aufschlussreich. Da lässt sich wirklich rekonstruieren, wie sie eigentlich gelebt hat. Das war ja ein sehr zurückgezogenes Leben in dieser Stockholmer Mietswohnung.

    Schmitz: Also sozusagen Dokumente über die Krankengeschichte der Dichterin?

    Bülow: Ja, genau. Und da ist eben auch sehr interessant eine Art Tagebuch, dass die Rosi Wosk mehr oder weniger sporadisch geführt hat. Immer mal wieder hat sie aufgeschrieben, was sie von Nelly Sachs hörte. Und zwar hat sie das geschrieben in einem nicht ganz glatten Deutsch, denn sie ist eben eine ungarische Jüdin. Aber ich nehme an, dass Deutsch wahrscheinlich die Sprache auch war, in der sie sich mit Nelly Sachs unterhalten hat.

    Schmitz: Sie haben alle diese Dokumente von Rosi Wosk selbst bekommen. Warum gerade Sie für Marbach?

    Bülow: Wir hatten eine Vermittlerin in einer Dame, die bei Münster lebt. Margret Weischer ist ihr Name. Sie hatte wieder über Vermittlung durch Freunde, hat sie den Kontakt bekommen zu Rosi Wosk. Rosi Wosk war wohl eine sehr scheue Frau.

    Schmitz: Das war sie. Sie ist auch mittlerweile verstorben.

    Bülow: Sie ist vor kurzem eigentlich gestorben erst. Und die Frau Weischer hat sich lange unterhalten mit Rosi Wosk. Und sie sind auch Vertraute geworden. Und für Rosi Wosk war klar, dass sie die Sachen nicht nach Stockholm geben möchte.

    Schmitz: Warum nicht?

    Bülow: Das kann ich nicht sagen, was da für Gründe eine Rolle gespielt haben. Sie wollte es gerne nach Deutschland geben. Und da hat eben Frau Weischer, die wir hier auch als Forscherin in Marbach kennen, hat dann eben, weil sie unser Haus kennt, hat sie eben dann empfohlen, dass sie das hierher gibt. Und das geschah jetzt vor kurzem, nach längeren Verhandlungen, und nachdem nun auch Rosi Wosk verstorben war. Wir haben dann mit ihrem Sohn verhandelt, der allerdings auch noch Nelly Sachs gekannt hat.