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In blasser Erinnerung an die Vergangenheit

Früher war Deutschland ein Auswanderungsland, heute ist es ein Einwanderungsland. Aber wo sind die ausgewanderten Generationen geblieben? Vor allem in Osteuropa, wo der Krieg gerade die Deutschen so sehr in Mitleidenschaft gezogen hat? Karl Markus Gauß hat sich auf Spurensuche in Litauen und am Schwarzen Meer begeben, "Die versprengten Deutschen" heißt sein Buch.

Von Marc Christoph Wagner |
    In seinem "Europäischen Alphabet" aus dem Jahr 1997 machte sich Karl-Markus Gauß unter anderem Gedanken über den Begriff des Opfers. In den vergangenen Jahren, konstatierte Gauß spöttelnd, sei es in öffentlichen Debatten mitunter schwer geworden, Opfer und Täter voneinander zu unterscheiden.

    "Früher war der ein Opfer, dem Gewalt, Unrecht widerfuhr, gegen das er sich nicht zu Wehr setzen konnte. Den Opfern von heute widerfährt Gewalt, Unrecht, aber sie können nicht glaubhaft machen, dass ihnen Gewalt und Unrecht widerfuhr und dass sie nicht selber schuld an ihrem Elend sind. Die Identifikation des Opfers als präsumptiven Täter und des Täters als Opfer ist ein gesamteuropäisches Phänomen geworden. Der eine Handlung setzt, geriert sich, als würde er sie erleiden, indes jener, dem sie widerfährt, im Rufe steht, sie verursacht zu haben."

    Bei der Lektüre des jüngsten Buches von Karl-Markus Gauß fühlt man sich ein wenig an diese Worte, an die bisweilen schwere Unterscheidbarkeit von Tätern und Opfern erinnert. Einmal mehr hat sich Gauß auf Reisen begeben. Nachdem er sich vor einigen Jahren mit den so genannten "sterbenden Europäern", einer Reihe von über den Kontinent verteilten Minderheiten und ihren aktuellen Lebensumständen beschäftigt hatte und sich in seinem letzten, vor gut einem Jahr erschienenen Reiseessay den Roma im Osten der Slowakei widmete, folgte Gauß diesmal den Spuren der Deutschen – und zwar in Litauen, der slowakischen Zips und am Schwarzen Meer. Obwohl geographisch weit voneinander entfernt, eint diese Regionen doch ein gemeinsamer Zug – einst lebten hier Deutsche, blühte eine deutsche Kultur, die - eingebettet in die sie umgebenden Völker - ihren eigenen regionalen Charakter entwickelte. Der Zweite Weltkrieg und der Versuch Hitler-Deutschlands, sich über seine Nachbarn zu erheben, sie, wenn nicht sogleich auszurotten, dann doch zumindest zu unterwerfen und zum eigenen Nutzen zu instrumentalisieren, bedeutete schließlich das unwiederbringliche Ende jener historischen Epoche. Etwas, das über Jahrhunderte gewachsen war, war zerstört.

    Der Zweite Weltkrieg bedeutete eine Zäsur, die alle Kontinuitäten zwischen dem Zuvor und Danach durchtrennte. Doch den Preis für die im Namen der Deutschen begangenen Verbrechen zahlten eben auch Deutsche. Gauß illustriert dies eindrücklich am Beispiel der sog. Wolfskinder in Litauen. Sie haben ihm berichtet, wie sie als Kinder vor der heranrückenden Roten Armee aus ihrer ostpreußischen Heimat flüchteten, wie sie mitansehen mussten, wie manche Mütter verhungerten, vergewaltigt und erschlagen wurden. Nicht wenige von ihnen verloren Geschwister im Getümmel von Bahnhöfen und fanden sie oft nie mehr wieder. Wochenlang schleppten sie sich durch den eisigen Winter, mussten sich dabei von gefrorenem Ratten- und Hundefleisch ernähren - um am Ende bei fremden Leuten in einem fremden Land mit einer fremden Sprache ein neues Dasein zu beginnen.
    "Heute, mehr als ein Jahrzehnt, nachdem der Verein Edelweiß seine ersten Treffen abgehalten hat, finden sich bei seinen Sitzungen in Vilnius, Marijampolé oder Taurage meist alte, verbitterte Leute ein, die nur mangelhaft oder gar nicht Deutsch sprechen und sich um ihr Leben betrogen fühlen. Wenn sie das Pech hatten, auf Bauerngütern zu landen, die später kollektiviert wurden, blieben sie oft Analphabeten und sie sind bis heute gezeichnet von der gnadenlosen Arbeit im Kolchos. Kommt hinzu, dass viele adoptiert wurden, nicht weil ihre neuen Eltern ein verwahrlostes Kind zum Verwöhnen suchten, sondern weil sie einen Knecht, eine Magd, eine Arbeitskraft für Haus, Hof oder Werkstatt benötigten. Die Adoption war dann eine geschäftliche Angelegenheit, die sich rechnete. Es sind Fälle von Wolfskindern bekannt, die wie Leibeigene gehalten wurden und den Tag herbeisehnten, den alle jungen Litauer fürchteten, jenen Tag nämlich, an dem die Rote Armee sie holte und in eine Kaserne steckte, die Tausende Kilometer entfernt in einer der asiatischen Sowjetrepubliken stand."

    In allen drei Regionen, die Gauß besucht hat, lässt sich von einer lebendigen deutschen Kultur heute nicht mehr sprechen. Diese reduziert sich zumeist auf die blasse Erinnerung an eine Vergangenheit, die mit den wenigen Menschen, die sie noch hegen, aussterben wird. Um so mehr verwundert, wie wenig Gemeinsames selbst diesen kleinen Kreis miteinander verbindet. Mussten viele Deutschstämmige ihre wahre Herkunft und Identität jahrzehntelang, in der Epoche des real existierenden Sozialismus, verschweigen, verwenden sie heute oftmals mehr Energien darauf, untereinander absurd anmutende Kleinkriege auszufechten anstatt sich ihrer Vergangenheit, ihres Schicksals gemeinsam anzunehmen und es zu verarbeiten zu versuchen. Zipser- oder Schwarzmeer-Deutsche – für sie gilt im Grundsdatz dasselbe wie für die Litauen-Deutschen:

    "So schwer zu überblicken wie die Geschichte Litauens im allgemeinen ist auch die besondere der deutschen Minderheit im Land. Sogar von einer deutschen Minderheit zu sprechen, ist schon falsch, handelt es sich doch um vier Gruppen, die sich alle als "deutsch" bezeichnen, aber weder in der Vergangenheit viel miteinander zu tun hatten noch in der Gegenwart haben möchten. Im Gegenteil, was sie verbindet, ist das Ressentiment, das sie gegeneinander hegen, der Verdacht, dass die jeweils anderen gar keine Deutschen sind und wenn doch, dann jedenfalls keine guten und keine, die für ihr Deutschtum, wie immer dieses empfunden werde, so viel gelitten hatten wie sie selber. So gründen sie Vereine um Vereine, die alle miteinander verfeindet sind und vornehmlich aus Mitgliedern bestehen, die kaum mehr Deutsch sprechen, aber argwöhnisch darüber wachen, dass außer ihnen keiner den Anspruch erhebe, ein echter Deutscher zu sein."

    "Die versprengten Deutschen" - sie werden sich zu keiner Einheit mehr fügen lassen. Ein wenig gilt dies auch für Gaußens Text, der weitschweifiger geraten ist, als man es von diesem gemeinhin brillant formulierenden Essayisten eigentlich gewohnt ist: Immer wieder holt er aus zu detailreichen, mit dem eigentlichen Thema aber nur peripher in Verbindung stehenden Exkursen, verliert er sich in zum Teil langatmigen Beschreibungen von Landschaften, Wegstrecken und Dörfern, die fast ein wenig eitel eher den Autor als das Thema in den Mittelpunkt rücken. Hilfreich gewesen wäre hier ein kritischerer Blick des Lektoren.

    Wer darüber indes hinwegliest, wird ebenso historisch kenntnisreiche wie sprachlich großartige Passagen entdecken, die dieses Buch überaus lesenswert machen. Gauß verfügt nämlich über die nicht oft anzutreffende Fähigkeit, seinem Objekt nahe, zugleich aber kritisch-distanziert gegenüberzustehen, die Melancholie des Verfalls sprachlich zu spiegeln, ohne dabei der Ghefahr zu erliegen, platt nostalgisch-sentimental zu werden.

    "Mehr als um die stolze Zukunft ging es bei den Treffen des Vereins um die Vergangenheit und dass diese von der Lüge, die über sie so lange staatsoffiziell verhängt war, befreit werde. Die alten Leute, die sich um die "Wiedergeburt" scharten, wollten einfach bestätigt bekommen, dass sie nicht die Fünfte Kolonne Hitlers gebildet und so in einem grausamen Jahrhundert ihr grausames Schicksal selbst verschuldet hatten. Sie wollten in dem Leid, das ihnen zugefügt worden war, anerkannt werden und sich nicht länger hinter vorgehaltener Hand, sondern stolz auf das Besondere ihrer Identität als Odessiten und Schwarzmeerdeutsche zugleich bekennen können. Sie wollten die entsetzliche Armut öffentlich machen, in der viele von ihnen steckten, und die Not zumal der Alten beklagen, deren Kinder das Land in Richtung Deutschland verlassen hatten und die hier bis ans Ende ihrer Tage einsam auszuharren gedachten."

    Das war eine Rezension von Marc Christoph Wagner zum Buch von Karl Markus Gauß "Die versprengten Deutschen – Unterwegs in Litauen, durch die Zips und am Schwarzen Meer", erschienen im Verlag Zsolnay in Wien, das Buch hat 240 Seiten und kostet 21 Euro fünfzig.