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In Brighton liegen Luxusvillen direkt neben bitterarmen Stadtteilen

Die Kluft zwischen Arm und Reich ist in Brighton groß. Der Badeort gilt als wohlhabend und hip, gleichzeitig hat er die landesweit höchste Zahl an Drogentoten und eine hohe Suizidrate. Hier - wie überall in Großbritannien - fürchtet die Mittelschicht den sozialen Abstieg. Denn sie ist von Inflation, rückläufigen Gehältern, wachsender Steuerlast und öffentlichen Sparmaβnahmen besonders betroffen.

Von Ruth Rach | 27.12.2011
    Pasta, Kartoffeln, Obst, Gemüse - auf einem Parkplatz im südostenglischen Brighton belädt Dave einen weißen Lieferwagen. Dave – Mitte 60 – war jahrelang drogensüchtig. Jetzt arbeitet er ehrenamtlich für FareShare, eine Wohltätigkeitsorganisation, die bedürftige Menschen mit Essen versorgt.

    "Immer mehr Leute sind auf unsere Hilfe angewiesen. Auch Menschen, von denen man es nicht gedacht hätte. Fareshare beliefert regelmäβig 49 Zentren in Brighton: Frauenhäuser, Rentnertreffs, Notunterkünfte für Jugendliche, Tagesküchen für Arbeitslose, Obdachlose, Migranten."

    Die Lebensmittel werden von örtlichen Cafés spendiert, von Restaurants, Kirchen, und Schulen. Die Einrichtungen sind total überlaufen, sagt Dave. Auch Leute aus der Mittelschicht suchten zunehmend Hilfe.


    Brighton ist eine knappe Zugstunde von London entfernt. Ein begehrter Wohnort, vor allem auch für Pendler. Die Hauspreise sind hoch. Aber in nächster Nähe zu den Luxusvillen liegen bitterarme Stadtteile: Die Kluft zwischen Arm und Reich ist groß. Dennoch ist Dave mit dem Sparkurs der konservativen Regierung einverstanden.

    "Ich meine, die Regierung tut, was sie kann. Und die Kürzungen sind nun mal nötig."

    Mit dieser Einstellung liegt Dave durchaus im Trend. Politisch hat Labour überraschend wenig von der Krise profitiert. Und trotz wachsender Not hat sich die Einstellung vieler Briten deutlich verhärtet: Laut jüngsten Umfragen findet über die Hälfte der Befragten, die staatlichen Hilfeleistungen seien zu groβzügig. Nur 30 Prozent wären bereit, mehr Steuern zu zahlen, um das Gesundheitswesen, das Schulsystem, und das soziale Netz zu verbessern. Vor zehn Jahren waren es noch 60 Prozent. Zwei Drittel der befragten Briten meinen sogar, die Kinderarmut im Lande habe damit zu tun, dass die Eltern zu faul seien, um zu arbeiten.

    Ein sogenanntes Drop-in-Zentrum im Herzen von Brighton. Nur wenige Minuten von den Luxusboutiquen entfernt. Im engen hohen Raum drängen sich mindestens 50 Menschen: junge, alte, manche sind abgerissen, andere adrett gekleidet. Hier kostet das Mittagsessen umgerechnet 50 Cent. Jeder kann kommen und sich umsonst aufwärmen. Barrie, Mitte 40, Geschäftsmann, Rotarier, und ebenfalls freiwilliger Mitarbeiter bei FareShare, trägt zusammen mit Dave kistenweise Fertigkost in die Küche. Die Mikrowelle läuft auf Hochtouren.

    "Es gibt inzwischen viel mehr Leute, die auf der Straβe landen. Das geht ganz schnell, auch wenn Du zur Mittelschicht gehörst. Du verlierst Deine Arbeit, Du kannst deine Kredite nicht mehr bedienen. Es kriselt in Deiner Ehe. Neuerdings ist ja auch die Scheidungsrate sprunghaft gestiegen. Und selbst wenn du noch einen Job hast, reicht das Geld hinten und vorne nicht mehr. Inzwischen stehen ganz normale Familien vor der Frage: Soll ich heizen, oder etwas zum Essen kaufen?"

    Vor Kurzem kürte das Oxford English Dictionary den Begriff "Squeezed Middle" zum Wort des Jahres. "Squeezed middle" bezeichnet jene soziale Gruppe zwischen der oberen und der unteren Schicht, die von Inflation, rückläufigen Gehältern, wachsender Steuerlast und öffentlichen Sparmaβnahmen besonders betroffen ist. Allein in den letzten fünf Jahren sind die Heizkosten in Groβbritannien um 71 Prozent gestiegen. Gleichzeitig fiel das Einkommen der Mittelschicht um 7 Prozent ab. Und 38 Prozent der Briten können ihre Kreditkarten-Schulden nicht mehr bezahlen.

    "Noch werden wir durch die unglaublich niedrigen Zinsen vor dem Schlimmsten bewahrt, sagt Barrie: aber wenn die Zinsen erst einmal anziehen, dann kann kein Mensch mehr seine Hypotheken bedienen, und dann sitzen wir wirklich im Sumpf."

    Das feine Café um die Ecke hat FareShare gleich sechs Schokotorten gespendet. Kulinarische Prachtstücke, die normalerweise 45 Euro kosten. Im Drop-in-Zentrum machen sich die Besucher über die Wunderwerke her. Malcolm, 30, sagt, das Zentrum sei seine Rettung.

    "Schau dich doch um: seit so viele Gemeindezentren geschlossen wurden, kommen auch immer mehr alte Leute. Teenager, die keinen Job finden. Und Osteuropäer, die irgendwie gestrandet sind. Stell dir mal vor, dass man uns diese Einrichtung auch noch wegnehmen würde. Dann hätten wir nur noch die Straβe. Aber welche Regierung interessiert sich schon fürs einfache Volk."

    Aber: trotz aller Härtefälle, auch Fareshare-Helfer Barrie findet: Eine Schuldenkrise lasse sich nicht dadurch lösen, dass man noch mehr Geld drucke.

    "Wir müssen uns auf unsere Grundwerte zurückbesinnen. Ich glaube, es wird viele Jahre dauern, bis wir diese Rezession überwunden haben. Und in der Zwischenzeit werden hier in Groβbritannien noch viel mehr Menschen in die Armutsfalle geraten."

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