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In Brüssel ist der Erdgeist los

An der belgischen Nationaloper inszeniert der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski Alban Bergs "Lulu". Er ergänzte den Wedekindschen Prolog und fügte eine Zusammenfassung der Überlieferung zu Adam und dessen erster Frau ein.

Von Frieder Reininghaus | 15.10.2012
    Krzysztof Warlikowski ist ein Zeremonienmeister der aufreizenden Körper und der illustren Oberflächen – aber das mit Tiefgang. Das Wort hat für ihn nur im Kontext mit der Musik Belang: Von Frank Wedekinds Dramen, die Alban Bergs "Lulu" zugrunde liegen, spricht er nur fahrig und mit Herablassung über die Zeitbedingtheit des Autors. Tatsächlich scheinen ihm wohl einige Hieb- und Stichworte zu genügen, um auf der Bühne das zu entfalten, um dessentwillen er gegenwärtig zu den "gefragten Regisseuren" gerechnet wird.

    Hierfür ist auch ein gewisses Maß an Eigenwilligkeit geboten. Krzysztof Warlikowski ergänzte den Wedekindschen Prolog, der ihm bezüglich Eva, Schlange und Sündenfall womöglich nicht hinreichend deutlich war. Er fügte eine Zusammenfassung der Überlieferung zu Adam und dessen erster Frau ein – zu Lilith, die es vorzieht, beim Herrn der Schöpfung aus- und ins tiefste Erdreich einzuziehen. Dazu lässt der polnische Theatermann einen schönen Knaben tanzen und seine Ausstatterin Malgorzata Szczęśniak eine große Glasvitrine zeigen und den durchsichtigen Kasten als Bestiarium bestücken. Sehr dekorativ. Es dient später dem kurzfristig überbewerteten Maler als Atelier. Dahinter ein glitzernder Vorhang, dessen Farbunterschiede die jeweiligen Ortswechsel signalisieren. Und hinter der großen Gardine ein Treppenaufgang mit stillgelegten Rolltreppen-Teilen.

    Indem der Zirkus-Adlatus August die Schlange bringen soll, wird ein etwa zehnjähriges Mädchen im Ballett-Tütü aufgeboten. Von da an ist eigentlich klar, dass "Lulu" auch die Geschichte von Kindesmissbrauch ist und das Unheil des langen Abends von daher seinen Ausgangspunkt nahm. Doch Warlikowski beschäftigt auch des Weiteren noch ein ganzes Rudel immer wieder auch Ballett tanzender (oder nur gebannt dem Treiben der Erwachsenen zuschauender) Kinder – bis zum bitteren Ende der Gräfin Geschwitz und ihrer großen Liebe Lulu.

    Die gewinnt durch Barbara Hannigan nicht nur eine fulminante Gestalt und eine des Spitzentanzes kundige Darstellerin, sondern auch eine in der Höhe überragende Stimme (in den Mittellagen deckt das insgesamt klug disponierte und immer wieder auch angemessen gezügelte Orchester unter Leitung des vorzüglichen Berg-Kenners Paul Daniel mitunter etwas zu). Insgesamt aber ergibt sich aus dem Wechselspiel des hoch differenzierten Instrumentalsatzes und der durchtrainierten, zunächst sehr knapp bekleidet auftretenden Protagonisten ein singuläres Theaterereignis.

    Barbara Hannigan verkörpert einen "Erdgeist", der in unterschiedlichen gesellschaftlichen Situationen unterschiedliche MenschInnengestalt annimmt: Das Feinste dessen, was der Büchse der Pandora entschlüpfte. Der Regisseur Warlikowski demonstriert mit ihr, gleichsam in stets etwas zu großen Lettern, Michel Houllebecqs überspitzte These , wonach die Sexualität die eigentliche Währung der Gegenwart sei. Und sie findet in Tom Randle, dem Maler, und insbesondere in Dietrich Henschel, dem Chefredaktor Dr. Schön, souverän singende Partner, die auch von den gut gebauten Körpern her zu ihr passen.

    Man mag manches an der neuen Brüsseler "Lulu" für überfrachtet halten – insgesamt handelt es sich um eine Produktion am oberen Rand des obersten Segments des internationalen Musiktheaters. Wobei die ersten beiden Akte spannungsreicher und in sich stimmiger gerieten als der nachkomponierte dritte, der Lulus Flucht aus Wien, ihren Abstieg in Paris und ihr trostloses Finale unter den Händen von Jack the Ripper in London vor Augen und Ohren führt.