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In das Standardmodell der Physik kommt neue Bewegung

Physik. - Die Welt besteht aus Quarks und Elektronen. Das besagt – in aller Kürze – das Standardmodell der Teilchenphysik. In den letzten 30 Jahren haben die Physiker dieses Weltbild vom Aufbau der Materie entwickelt, und bis heute hat es sich bestens bewährt. Die Ergebnisse von praktisch allen Beschleunigerexperimenten kann das Standardmodell erklären. Jetzt aber präsentiert ein Forscherteam aus Japan und den USA neue Messdaten, die so gar nicht in das heutige Theoriegebäude zu passen scheinen.

    Von Frank Grotelüschen

    Dieses Ergebnis ist, wenn es sich bestätigt, sehr bemerkenswert. Es wäre das erste Mal in 30 Jahren, dass wir etwas beobachtet haben, was unser Standardmodell nicht erklären kann.

    Noch hält sich Stephen Olsen ein wenig zurück. Aber sollte der Physiker von der Universität Hawaii rechtbehalten, dann sind er und seine Kollegen einer ganz heißen Sache auf der Spur – einer regelrechten Revolution in der Teilchenforschung. Seit vier Jahren experimentieren die Wissenschaftler an einem kilometergroßen Beschleuniger namens KEKB. Er liegt am Rande von Tsukuba, einer japanischen Wissenschaftsstadt nahe Tokio. KEKB ist darauf spezialisiert, bestimmte Elementarteilchen wie am Fließband zu erzeugen, sog. B-Mesonen.

    Das sind Teilchen, die etwa die Masse von Heliumatomen besitzen, sagt Olsen. Sie existieren nur eine Trillionstel Sekunde lang, bevor sie in kleinere Partikel zerfallen. In der Teilchenphysik sind diese B-Mesonen der Schlüssel zur Beantwortung der Frage, was die Materie von der Antimaterie unterscheidet.

    Antimaterie ist so etwas wie die gespiegelte Variante von Materie. Ein Antielektron etwa – auch Positron genannt – hat dieselben Eigenschaften wie ein Elektron, ist allerdings nicht negativ geladen, sondern positiv. Kommen Teilchen und Antiteilchen in Berührung, so vernichten sich beide und zerstrahlen vollständig zu purer Energie. Genau das bereitet den Physikern Kopfzerbrechen: Eigentlich muss beim Urknall gleichviel Materie wie Antimaterie entstanden sein. Aber:

    Unsere Welt besteht aus Materie und nicht aus Antimaterie, sagt Olsen. Für uns Physiker ist das sehr erstaunlich, denn laut den Grundregeln der Physik sind Materie und Antimaterie gleichwertig. Es gibt da nur eine kleine Ausnahme, eine kleine Unregelmäßigkeit beim Zerfall bestimmter Teilchen. Und diese so genannte CP-Verletzung sollte sich beim Zerfall von B-Mesonen besonders deutlich zeigen.

    Und tatsächlich: Vor zwei Jahren konnten die Physiker mit ihrem Beschleuniger die CP-Verletzung nachweisen - und zwar exakt so, wie es im Lehrbuch der Theorie geschrieben stand. Doch als die Forscher weitermachten, erlebten sie eine Überraschung.

    Wir haben nach weiteren Zerfallsprozessen gesucht, erzählt Olsen. Prozesse, die sehr selten sind und bei denen sich das B-Meson für einen winzigen Augenblick in ein viel schweres Teilchen verwandelt. In der Alltagsphysik wäre es völlig unmöglich, dass sich ein Partikel plötzlich von selbst in ein schwereres Teilchen verwandelt. Das verstößt gegen den Energieerhaltungssatz. In der Teilchenphysik aber können so genannte Quantenfluktuationen auftreten. Und dadurch können sich kurzzeitig sehr schwere Teilchen bilden.

    Das Entscheidende: Als Olsen und Co. die entsprechenden Messdaten analysierten, kamen ganz andere Zahlenwerte heraus als von der Theorie gefordert. An dieser Stelle scheint das bewährte Standardmodell also zu versagen. Das beflügelt natürlich die Forscherfantasie.

    In den Quantenfluktuationen könnten nicht nur bekannte Teilchen entstehen, sondern auch neue, bislang unbekannte Partikel, so Olsen. Es könnte zum Beispiel sein, dass sich supersymmetrische Teilchen bilden oder ein so genanntes Higgs-Teilchen. Und diese exotischen Partikel würden den Zerfall dann so beeinflussen, dass dieser unerklärlicher Zahlenwert dabei herauskommt.

    Supersymmetrische Teilchen, Higgs-Partikel, das sind die derzeit meist gesuchten Kandidaten auf der Steckbriefliste der Physiker. Die Supersymmetrie soll verraten, wie die Teilchen, aus denen Materie besteht, mit den Teilchen zusammenhängen, die die fundamentalen Naturkräfte vermitteln. Higgs hingegen soll erklären, wie die Partikel überhaupt zu ihrer Masse kommen. Noch aber sind sich Olsen und seine Leute ihrer Sache nicht ganz sicher. Bis Ende 2004 wollen sie noch einmal so viele Daten gesammelt haben wie heute. Und dann dürfte klar sein, ob er sich weiter auftut oder aber wieder schließt - der Riss im Standardmodell.