"In den Feldern der Philister - Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg" ist ein Band des israelischen Publizisten und Friedensaktivisten überschrieben, der jetzt bei Diederichs im Heinrich Hugendubel Verlag erschienen ist. Der Band besteht aus zwei Büchern, und nach ihrer Lektüre hat man den Eindruck, es seien entweder zwei verschiedene Autoren am Werk gewesen oder es werde von zwei völlig verschiedenen Kriegen berichtet.
Uri Avnery:
Ich war Soldat in einer Kommandotruppe und habe während des ganzen Krieges als Soldat nach Hause Berichte geschickt. Nach Hause, das heißt an eine Tageszeitung in Tel Aviv, die sie gedruckt hat. Das heißt, diese Kapitel waren unmittelbar im Kriegsgeschehen geschrieben. Sie geben den Geist der Menschen wieder, die gekämpft haben auf unserer Seite, d.h. den Geist der Truppe, den Geist meiner Kompanie und den Geist von mir selbst. Das heißt, es ist die subjektive Beschreibung des Krieges, es ist aber nicht eine ganze Beschreibung, denn viele Sachen konnte man einfach während des Krieges nicht schreiben. Nicht nur, weil es eine sehr strenge Militärzensur gab und weil ich als Soldat überhaupt nicht schreiben durfte - es war alles gegen das Militärgesetz -, sondern auch, weil man eben nicht Sachen schreiben konnte, wo Leute noch täglich umkommen und die Familien das lesen, gab es einfach Sachen, die ich ausgelassen habe. Nach dem Krieg, sofort nach dem Krieg, habe ich gemerkt, dass dieses Buch, das seinerzeit ein ungeheurer Bestseller geworden ist über Nacht zu meinem großen Erstaunen und von der Generation hinter mir mit Begeisterung und sogar mit Kriegsbegeisterung gelesen wird. Das hat mich sehr erschreckt, und da habe ich beschlossen, sofort ein zweites Buch zu schreiben, in dem das steht, was im ersten Buch ausgelassen worden ist. Und daher ist das zweite Buch beinahe das Gegenteil des ersten Buches. Es ist auch sofort boykottiert worden. Genau wie das erste Buch mich über Nacht sehr, sehr populär gemacht hat im Land, hat das zweite Buch mich über Nacht sehr, sehr unpopulär gemacht im Land, und sie sind nie zusammen veröffentlicht worden. Erst jetzt dieser deutsche Verlag Hugendubel und meine Übersetzer, die die originelle Idee gehabt haben, diese beiden Bücher in einem Band zu veröffentlichen, und da haben Sie die beiden Seiten der Münze praktisch, und wenn man die zusammen liest, kriegt man, glaube ich, auch den Eindruck, was der Krieg wirklich war.
"Am Tag nach der Gründung des Staates Israel marschierten die regulären Truppen der arabischen Staaten nach Eretz-Israel ein. Vor uns stand ein neuer Feind - ausgerüstet mit Flugzeugen, Kanonen, Panzern. Was ich befürchtet hatte, war eingetreten - die israelische Bevölkerung befand sich im Krieg mit dem ganzen Nahen Osten. Die junge Verteidigungsarmee hatte nicht die Waffen, um den Kampf gegen die Verteidigungsmaschinerie des Feindes zu bestehen. Wir hatten keine Kanonen und keine Flugzeuge, die kampftauglich waren. Wir hatten keine Panzer, außer den wenigen, die von den Briten "beschlagnahmt" worden waren. Fast mit leeren Händen, bewaffnet mit Gewehren, Handfeuerwaffen und Handgranaten, musste der israelische Soldat gegen die gut ausgebildeten und mit schweren Waffen ausgerüsteten Armeen bestehen."
In diesem Duktus ist die erste Variante von Uri Avnerys Erinnerungen geschrieben. Die Texte variieren das Bild vom edelmütig tapferen David, der den ihm vom grausam bösen Goliath aufgezwungenen Kampf trotz seiner Unterlegenheit gewinnt. Ganz anders "Die Kehrseite der Medaille". In diesem Buch begegnet der Leser jüdisch-israelischen Soldaten, die plündern und vergewaltigen, an Säuberungen und Vertreibungen beteiligt sind und Wetten darauf abschließen, wer am Effektivsten tötet.
"Vor der Kommandantur steht ein Konvoi wie aus Tausendundeiner Nacht. Die Kompanie, die in der Nacht in Sukreir tätig war, ist mit ihren gepanzerten Fahrzeugen zurück. Die Leute sehen aus wie Märchengestalten: auf den Köpfen Turbane und Kafijahs, in den Gürteln glitzernde Dolche. Und auch die Fahrzeuge glänzen: lange Schwerter, Wasserpfeiffen, Massbachas. Ein schnauzbärtiger Soldat - auf dem Kopf eine gelbe Kafijah und einen viereckigen Aqal aus Silberfäden, wie sie die vornehmen Scheikhs tragen - erzählt Sancho die Einzelheiten. "Ohne diese schweinischen Engländer hätten wir die Angelegenheit ganz ordentlich erledigt. Wir hatten dieses Scheißdorf umzingelt und riefen ihnen mit Lautsprechern zu, sie sollen ihre Waffen raus bringen. Du hättest sehen sollen, wie sie rannten, ihre Gewehre abzugeben. Es war ein Vergnügen. Danach sind wir von Haus zu Haus gegangen, um sie zu durchsuchen. Plötzlich teilt man uns mit, dass die verfluchten Engländer mit ihren Panzern aus Sarafand näher kommen. Da haben wir uns schnell verdrückt."
"Zum Teufel mit diesen Engländern", flucht einer aus dem nächsten Fahrzeug. "Ich hatte gerade so eine nette Kleine gesehen, schön rundlich mit ganz dunklen Augen. Gerade als ich sie mir nehmen wollte, mussten wir verschwinden."
"Pfui! Möchtest du Araberinnen vergewaltigen?" Der Schnauzbärtige spielt den Moralischen.
"Na und? Krieg ist Krieg. Da kenne ich nichts!"
"Warum nicht?", mischt sich ein Dritter ein. "Wenn man töten darf, darf man auch vergewaltigen." "
Uri Avnery:
Beides ist Wahrheit. Das ist eben das Besondere am Krieg, ich glaube, an jedem Krieg. Dass es dieselben Menschen sind, derselbe junge Mensch, der - ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken - sein Leben riskiert, um einen verwundeten Kameraden zu retten, derselbe Mensch kann eine Stunde vorher oder eine Stunde später einen wehrlosen Feind umbringen. Es beschreibt die menschliche Natur, wie sie wirklich ist, wie sie im Krieg, im extremen Zustand des Krieges, zutage kommt. Und ich glaube, das gibt zu denken. Es ist ein sehr guter Grund. Ein sehr guter weiterer Grund, gegen einen Krieg zu sein, gegen jeden Krieg zu sein, ist eben, weil das stimmt, weil es das Beste und das Schlimmste im Menschen heraus bringt. Und das Beste und das Schlimmste sind die beiden Seiten der Münze.
Hermann Theißen:
Aber wenn man jetzt von dieser individuellen und existentialistischen Sicht absieht, die ich beim Lesen auch sehr interessant fand: Es gibt ja die Legende, die immer noch kolportiert wird, von den Arabern, die nicht vertrieben worden sind, die geflohen sind, die ihre Ländereien verkauft haben. Es wird bestritten, dass es systematische Vertreibung gegeben hat, und wenn ich aber Ihre "Kehrseite der Medaille" lese, dann habe ich ein bisschen das Gefühl, dass etwa auch die jugoslawischen Kriege in Palästina ein Vorbild hatten.
Uri Avnery:
Es ist dieselbe Art Krieg. Es gibt eine Art Krieg, ich nenne sie "ethnische Kriege", die nicht ein Krieg sind wie zwischen Deutschland und Frankreich seinerzeit, wo es um ein Stück Land ging zwischen den beiden Staaten, zwischen den beiden Völkern Elsass-Lothringen. Es gibt eine ganz andere Art von Krieg, man kann sie Teilungskrieg nennen wie in Bosnien, wie bei uns in Palästina und wie in anderen Orten auch, wo zwei Völker dasselbe Gebiet als ihr Vaterland beanspruchen, und das heißt, wo Krieg geführt wird nicht nur, um soviel Territorium wie möglich zu erobern, sondern es leer zu erobern für das eigene Volk und frei von dem anderen Volk. Das ist in Bosnien passiert, das ist bei uns passiert. Man nannte es ethnische Säuberung, bei uns noch nicht, aber in Bosnien. Und die Wahrheit ist, um ganz gerecht zu sein: Es war ein ethnischer Krieg auf beiden Seiten. Zwar hat die arabische Seite nur ganz kleine Territorien erobert, aber in diesen kleinen Territorien sind keine Juden geblieben. Wir haben viel mehr erobert, und darum ist die Flüchtlingsfrage eine Frage der palästinensischen Flüchtlinge und nicht der jüdischen Flüchtlinge. Um in diesem Krieg zu bestehen, haben wir die Dörfer beschossen, in denen die Palästinenser gelebt haben, und die Palästinenser haben reagiert, wie jeder normale Mensch reagiert, wenn man auf ihn schießt: Er nimmt seine Frau und seine Kinder und flüchtet in das nächste Dorf. Und dann wird das nächste Dorf beschossen, und so sind sie von Dorf zu Dorf verdrängt worden, und plötzlich war eine Grenze zwischen ihnen und ihrem Dorf. Das ist ein Teil des Geschehens. Der andere Teil ist besonders in der zweiten Hälfte des Krieges, wo schon die israelische Führung ganz unter David Ben Gurion, ganz klar im Ziel bedacht, die Araber vertrieben hat.
Hermann Theißen:
Sie beschreiben ja auch wirklich Exzesse von Brutalität auf beiden Seiten, sagen Sie zu Recht, aber um die auszuüben, braucht man ja auch klare Feindbilder. Sie sind als junger Mann 1933 nach Palästina gekommen. Wie haben Sie die Konstruktion dieser Feindbilder erlebt oder waren die schon vorher da?
Uri Avnery:
Die Feindbilder waren von Anfang an da. Wir haben einen Konflikt, der schon 120 Jahre dauert. Man kann sagen, er begann um 1882, als die ersten, noch proto-zionistischen Einwanderer nach Palästina kamen, entwickelte sich von einem kleinen lokalen Konflikt ein großer nationaler Konflikt, zwei große historische nationale Bewegungen, die aufeinander prallten. Die jüdisch-zionistische Nationalbewegung und die arabisch-palästinensische Nationalbewegung. Und dieser Zusammenprall zwischen diesen beiden Kräften, der geht noch heute lustig weiter. Und 1948 war ein Höhepunkt dieses Konfliktes. Als ich nach Palästina kam als Junge mit zehn Jahren aus Hannover, war diese Feindschaft schon da. Als ich 13 Jahre alt war, 1936 war der erste große palästinensische Aufstand gegen die Engländer und gegen uns. Leute wurden umgebracht, ich wohnte in Tel Aviv. Tel Aviv ist eine Nebenstadt von Jaffa. Jaffa war arabisch, Tel Aviv war jüdisch, praktisch zwei Teile einer Stadt. Und in Jaffa sind Dutzende von Israelis, von Juden, damals gab es ja noch keine Israelis, ums Leben gekommen. Und ich bin dann mit kaum 15 Jahren in den Untergrund gegangen, ich gehörte zu einer Untergrundorganisation, die man heute eine Terrororganisation nennen würde. Und wir haben als Vergeltung Bomben in arabischen Märkten in Jaffa, Haifa und Jerusalem gelegt, in denen Menschen umgekommen sind, Männer, Frauen und Kinder. Da war schon der Krieg da, d.h. dieses Feindbild. Und diese Feindbilder, die bis heute bestehen, unverändert, die kommen daher, dass alles, was bei uns im Lande in den letzten 120 Jahren passiert ist, da gibt es zwei total entgegen gesetzte Narrative, die israelische Narrative und die palästinensische Narrative, und nicht nur im allgemeinen, sondern über jeden einzelnen Punkt, über jedes kleine Geschehnis, was in den letzten 120 Jahren passiert ist, gibt es zwei total entgegen gesetzte Beschreibungen. Das heißt, dass ein normaler Israeli überhaupt nicht verstehen kann, was die Araber eigentlich wollen. Was wollen die Palästinenser von uns, warum werfen sie auf uns Bomben, warum bringen sie uns um? Warum sprengen sich Selbstmörder in einem israelischen Autobus in die Luft?
Hermann Theißen:
Werden denn diese Narrative heute noch in den Familien und Schulen erzählt als etwa die Legende vom Land ohne Volk?
Uri Avnery:
Absolut ja. Jedes israelische Kind lernt in der Schule: Wir sind ins Land gekommen, das Land war leer. Wir haben den Boden mit gutem Geld gekauft, und dann haben uns diese verdammten Araber, diese mörderischen Araber, überfallen, und seitdem versuchen sie uns ins Meer zu werfen. Jedes arabische Kind lernt genau das Gegenteil. Das war unser Vaterland seit 13 Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden. Unsere Vorväter haben hier für immer gelebt. Eines Tages kam eine Bande von Menschen, die Juden, aus aller Welt, die behaupten, es wäre ihr Vaterland. Sie haben sich im Land festgesetzt und haben mit Heuchelei am Anfang und dann mit Gewalt und mit Waffengewalt uns vertrieben und vertreiben uns heute noch. Und dieser Kampf der beiden Narrativen geht heute weiter wie am ersten Tag, wenn nicht sogar noch schlimmer. Ich gehöre zu einer Friedensbewegung, Gush Shalom, der Friedensblock, und wir haben uns zum Ziel gesetzt, genau das anzugreifen und versuchen zu korrigieren, indem wir eine Narrative veröffentlicht haben, die die beiden Narrativen inkorporiert und versucht, die beiden Narrativen in eine gemeinsame Geschichte des Konfliktes und des Landes zu integrieren.
Hermann Theißen:
Also im Rahmen eines israelisch-palästinensischen Projekts.
Uri Avnery:
Genau. Und wir betreiben das sehr aktiv, wir veröffentlichen jede Woche jetzt Abschnitte aus diesem Werk mit Bildern, historischen Bildern, um zu zeigen, wie die beiden entgegen gesetzten Narrativen zur Geschichte des Landes gehören. Beide gehören zur Geschichte des Landes. Um Ihnen ein kleines Beispiel zu geben: Es sind 101 Paragraphen, und einer dieser Paragraphen besagt Folgendes: Der israelische Mythos ist: Wir haben das Land vor 48 mit Geld gekauft, wir haben es fruchtbar gemacht, wir haben es besiedelt, und die Araber haben uns überfallen. Die Wahrheit ist: Wir haben das Land gekauft mit gutem Geld, das wir von Juden aus aller Welt gesammelt haben, gekauft aber von wem? Gekauft von abwesenden Großgrundbesitzern, die in Beirut oder in Jaffa oder sogar in Monte Carlo gelebt haben, die dieses Land 50 Jahre vorher gekauft haben, als der türkische Sultan, der immer bankrott war, das Land einfach verkauft hat an jeden, der es kaufen wollte. Und die Leute haben es gekauft, um Geld zu investieren, ganz einfach. Aber auf diesem Land saßen Leute, arabische Pächter, die diesen Boden seit Jahrhunderten bearbeitet haben. Und darum, als wir das Land gekauft haben, mussten wir diese Pächter vertreiben mit Hilfe der türkischen Polizei und später der britischen Polizei. Und es war eine Vertreibung. Diese beiden Narrativen, die sich absolut gegenseitig ausschließen, sind beide die Wahrheit. Das Land war wirklich gekauft, die Juden haben gesagt: Wir haben das Land gekauft, wir haben es nicht erobert, wir haben es gekauft und das Land bestellt und eine wunderbare Landwirtschaft entwickelt. Und die Araber sagen: Ihr habt uns vertrieben. Und ich habe erlebt, dass dieser Paragraph in diesem Werk das allergrößte Erstaunen bei jungen Israelis hervorgerufen hat, das war etwas vollkommen Neues für sie. Sie haben überhaupt nie davon gehört und nie daran gedacht: Was ist eigentlich auf diesem Land passiert? Und bevor nicht Israelis verstehen, warum die Palästinenser tun, was sie tun, und bevor Palästinenser nicht verstehen, warum Israelis tun, was sie tun, kann ein wirklicher Frieden in Israel gar nicht möglich sein. Und darum ist das gegenseitige Verständnis, ich meine das nicht als Gefühlsduselei irgendwie, man muss die anderen verstehen, das sagt man immer so schön. Nein, es ist ganz was anderes. Es ist, dass man verstehen muss, wie die andere Seite, der Gegner, der Feind, wenn Sie wollen, wie er die Sache sieht und warum er sie so sieht. Man kann weder Frieden machen noch Krieg führen, ohne zu verstehen, was die andere Seite denkt und fühlt. Und darum betrachten wir das als so ungeheuer wichtig.
Uri Avnery: "In den Feldern der Philister - Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg"
Heinrich Hugendubel Verlag (München)
416 Seiten, 28 Euro
Uri Avnery:
Ich war Soldat in einer Kommandotruppe und habe während des ganzen Krieges als Soldat nach Hause Berichte geschickt. Nach Hause, das heißt an eine Tageszeitung in Tel Aviv, die sie gedruckt hat. Das heißt, diese Kapitel waren unmittelbar im Kriegsgeschehen geschrieben. Sie geben den Geist der Menschen wieder, die gekämpft haben auf unserer Seite, d.h. den Geist der Truppe, den Geist meiner Kompanie und den Geist von mir selbst. Das heißt, es ist die subjektive Beschreibung des Krieges, es ist aber nicht eine ganze Beschreibung, denn viele Sachen konnte man einfach während des Krieges nicht schreiben. Nicht nur, weil es eine sehr strenge Militärzensur gab und weil ich als Soldat überhaupt nicht schreiben durfte - es war alles gegen das Militärgesetz -, sondern auch, weil man eben nicht Sachen schreiben konnte, wo Leute noch täglich umkommen und die Familien das lesen, gab es einfach Sachen, die ich ausgelassen habe. Nach dem Krieg, sofort nach dem Krieg, habe ich gemerkt, dass dieses Buch, das seinerzeit ein ungeheurer Bestseller geworden ist über Nacht zu meinem großen Erstaunen und von der Generation hinter mir mit Begeisterung und sogar mit Kriegsbegeisterung gelesen wird. Das hat mich sehr erschreckt, und da habe ich beschlossen, sofort ein zweites Buch zu schreiben, in dem das steht, was im ersten Buch ausgelassen worden ist. Und daher ist das zweite Buch beinahe das Gegenteil des ersten Buches. Es ist auch sofort boykottiert worden. Genau wie das erste Buch mich über Nacht sehr, sehr populär gemacht hat im Land, hat das zweite Buch mich über Nacht sehr, sehr unpopulär gemacht im Land, und sie sind nie zusammen veröffentlicht worden. Erst jetzt dieser deutsche Verlag Hugendubel und meine Übersetzer, die die originelle Idee gehabt haben, diese beiden Bücher in einem Band zu veröffentlichen, und da haben Sie die beiden Seiten der Münze praktisch, und wenn man die zusammen liest, kriegt man, glaube ich, auch den Eindruck, was der Krieg wirklich war.
"Am Tag nach der Gründung des Staates Israel marschierten die regulären Truppen der arabischen Staaten nach Eretz-Israel ein. Vor uns stand ein neuer Feind - ausgerüstet mit Flugzeugen, Kanonen, Panzern. Was ich befürchtet hatte, war eingetreten - die israelische Bevölkerung befand sich im Krieg mit dem ganzen Nahen Osten. Die junge Verteidigungsarmee hatte nicht die Waffen, um den Kampf gegen die Verteidigungsmaschinerie des Feindes zu bestehen. Wir hatten keine Kanonen und keine Flugzeuge, die kampftauglich waren. Wir hatten keine Panzer, außer den wenigen, die von den Briten "beschlagnahmt" worden waren. Fast mit leeren Händen, bewaffnet mit Gewehren, Handfeuerwaffen und Handgranaten, musste der israelische Soldat gegen die gut ausgebildeten und mit schweren Waffen ausgerüsteten Armeen bestehen."
In diesem Duktus ist die erste Variante von Uri Avnerys Erinnerungen geschrieben. Die Texte variieren das Bild vom edelmütig tapferen David, der den ihm vom grausam bösen Goliath aufgezwungenen Kampf trotz seiner Unterlegenheit gewinnt. Ganz anders "Die Kehrseite der Medaille". In diesem Buch begegnet der Leser jüdisch-israelischen Soldaten, die plündern und vergewaltigen, an Säuberungen und Vertreibungen beteiligt sind und Wetten darauf abschließen, wer am Effektivsten tötet.
"Vor der Kommandantur steht ein Konvoi wie aus Tausendundeiner Nacht. Die Kompanie, die in der Nacht in Sukreir tätig war, ist mit ihren gepanzerten Fahrzeugen zurück. Die Leute sehen aus wie Märchengestalten: auf den Köpfen Turbane und Kafijahs, in den Gürteln glitzernde Dolche. Und auch die Fahrzeuge glänzen: lange Schwerter, Wasserpfeiffen, Massbachas. Ein schnauzbärtiger Soldat - auf dem Kopf eine gelbe Kafijah und einen viereckigen Aqal aus Silberfäden, wie sie die vornehmen Scheikhs tragen - erzählt Sancho die Einzelheiten. "Ohne diese schweinischen Engländer hätten wir die Angelegenheit ganz ordentlich erledigt. Wir hatten dieses Scheißdorf umzingelt und riefen ihnen mit Lautsprechern zu, sie sollen ihre Waffen raus bringen. Du hättest sehen sollen, wie sie rannten, ihre Gewehre abzugeben. Es war ein Vergnügen. Danach sind wir von Haus zu Haus gegangen, um sie zu durchsuchen. Plötzlich teilt man uns mit, dass die verfluchten Engländer mit ihren Panzern aus Sarafand näher kommen. Da haben wir uns schnell verdrückt."
"Zum Teufel mit diesen Engländern", flucht einer aus dem nächsten Fahrzeug. "Ich hatte gerade so eine nette Kleine gesehen, schön rundlich mit ganz dunklen Augen. Gerade als ich sie mir nehmen wollte, mussten wir verschwinden."
"Pfui! Möchtest du Araberinnen vergewaltigen?" Der Schnauzbärtige spielt den Moralischen.
"Na und? Krieg ist Krieg. Da kenne ich nichts!"
"Warum nicht?", mischt sich ein Dritter ein. "Wenn man töten darf, darf man auch vergewaltigen." "
Uri Avnery:
Beides ist Wahrheit. Das ist eben das Besondere am Krieg, ich glaube, an jedem Krieg. Dass es dieselben Menschen sind, derselbe junge Mensch, der - ohne auch nur einen Augenblick daran zu denken - sein Leben riskiert, um einen verwundeten Kameraden zu retten, derselbe Mensch kann eine Stunde vorher oder eine Stunde später einen wehrlosen Feind umbringen. Es beschreibt die menschliche Natur, wie sie wirklich ist, wie sie im Krieg, im extremen Zustand des Krieges, zutage kommt. Und ich glaube, das gibt zu denken. Es ist ein sehr guter Grund. Ein sehr guter weiterer Grund, gegen einen Krieg zu sein, gegen jeden Krieg zu sein, ist eben, weil das stimmt, weil es das Beste und das Schlimmste im Menschen heraus bringt. Und das Beste und das Schlimmste sind die beiden Seiten der Münze.
Hermann Theißen:
Aber wenn man jetzt von dieser individuellen und existentialistischen Sicht absieht, die ich beim Lesen auch sehr interessant fand: Es gibt ja die Legende, die immer noch kolportiert wird, von den Arabern, die nicht vertrieben worden sind, die geflohen sind, die ihre Ländereien verkauft haben. Es wird bestritten, dass es systematische Vertreibung gegeben hat, und wenn ich aber Ihre "Kehrseite der Medaille" lese, dann habe ich ein bisschen das Gefühl, dass etwa auch die jugoslawischen Kriege in Palästina ein Vorbild hatten.
Uri Avnery:
Es ist dieselbe Art Krieg. Es gibt eine Art Krieg, ich nenne sie "ethnische Kriege", die nicht ein Krieg sind wie zwischen Deutschland und Frankreich seinerzeit, wo es um ein Stück Land ging zwischen den beiden Staaten, zwischen den beiden Völkern Elsass-Lothringen. Es gibt eine ganz andere Art von Krieg, man kann sie Teilungskrieg nennen wie in Bosnien, wie bei uns in Palästina und wie in anderen Orten auch, wo zwei Völker dasselbe Gebiet als ihr Vaterland beanspruchen, und das heißt, wo Krieg geführt wird nicht nur, um soviel Territorium wie möglich zu erobern, sondern es leer zu erobern für das eigene Volk und frei von dem anderen Volk. Das ist in Bosnien passiert, das ist bei uns passiert. Man nannte es ethnische Säuberung, bei uns noch nicht, aber in Bosnien. Und die Wahrheit ist, um ganz gerecht zu sein: Es war ein ethnischer Krieg auf beiden Seiten. Zwar hat die arabische Seite nur ganz kleine Territorien erobert, aber in diesen kleinen Territorien sind keine Juden geblieben. Wir haben viel mehr erobert, und darum ist die Flüchtlingsfrage eine Frage der palästinensischen Flüchtlinge und nicht der jüdischen Flüchtlinge. Um in diesem Krieg zu bestehen, haben wir die Dörfer beschossen, in denen die Palästinenser gelebt haben, und die Palästinenser haben reagiert, wie jeder normale Mensch reagiert, wenn man auf ihn schießt: Er nimmt seine Frau und seine Kinder und flüchtet in das nächste Dorf. Und dann wird das nächste Dorf beschossen, und so sind sie von Dorf zu Dorf verdrängt worden, und plötzlich war eine Grenze zwischen ihnen und ihrem Dorf. Das ist ein Teil des Geschehens. Der andere Teil ist besonders in der zweiten Hälfte des Krieges, wo schon die israelische Führung ganz unter David Ben Gurion, ganz klar im Ziel bedacht, die Araber vertrieben hat.
Hermann Theißen:
Sie beschreiben ja auch wirklich Exzesse von Brutalität auf beiden Seiten, sagen Sie zu Recht, aber um die auszuüben, braucht man ja auch klare Feindbilder. Sie sind als junger Mann 1933 nach Palästina gekommen. Wie haben Sie die Konstruktion dieser Feindbilder erlebt oder waren die schon vorher da?
Uri Avnery:
Die Feindbilder waren von Anfang an da. Wir haben einen Konflikt, der schon 120 Jahre dauert. Man kann sagen, er begann um 1882, als die ersten, noch proto-zionistischen Einwanderer nach Palästina kamen, entwickelte sich von einem kleinen lokalen Konflikt ein großer nationaler Konflikt, zwei große historische nationale Bewegungen, die aufeinander prallten. Die jüdisch-zionistische Nationalbewegung und die arabisch-palästinensische Nationalbewegung. Und dieser Zusammenprall zwischen diesen beiden Kräften, der geht noch heute lustig weiter. Und 1948 war ein Höhepunkt dieses Konfliktes. Als ich nach Palästina kam als Junge mit zehn Jahren aus Hannover, war diese Feindschaft schon da. Als ich 13 Jahre alt war, 1936 war der erste große palästinensische Aufstand gegen die Engländer und gegen uns. Leute wurden umgebracht, ich wohnte in Tel Aviv. Tel Aviv ist eine Nebenstadt von Jaffa. Jaffa war arabisch, Tel Aviv war jüdisch, praktisch zwei Teile einer Stadt. Und in Jaffa sind Dutzende von Israelis, von Juden, damals gab es ja noch keine Israelis, ums Leben gekommen. Und ich bin dann mit kaum 15 Jahren in den Untergrund gegangen, ich gehörte zu einer Untergrundorganisation, die man heute eine Terrororganisation nennen würde. Und wir haben als Vergeltung Bomben in arabischen Märkten in Jaffa, Haifa und Jerusalem gelegt, in denen Menschen umgekommen sind, Männer, Frauen und Kinder. Da war schon der Krieg da, d.h. dieses Feindbild. Und diese Feindbilder, die bis heute bestehen, unverändert, die kommen daher, dass alles, was bei uns im Lande in den letzten 120 Jahren passiert ist, da gibt es zwei total entgegen gesetzte Narrative, die israelische Narrative und die palästinensische Narrative, und nicht nur im allgemeinen, sondern über jeden einzelnen Punkt, über jedes kleine Geschehnis, was in den letzten 120 Jahren passiert ist, gibt es zwei total entgegen gesetzte Beschreibungen. Das heißt, dass ein normaler Israeli überhaupt nicht verstehen kann, was die Araber eigentlich wollen. Was wollen die Palästinenser von uns, warum werfen sie auf uns Bomben, warum bringen sie uns um? Warum sprengen sich Selbstmörder in einem israelischen Autobus in die Luft?
Hermann Theißen:
Werden denn diese Narrative heute noch in den Familien und Schulen erzählt als etwa die Legende vom Land ohne Volk?
Uri Avnery:
Absolut ja. Jedes israelische Kind lernt in der Schule: Wir sind ins Land gekommen, das Land war leer. Wir haben den Boden mit gutem Geld gekauft, und dann haben uns diese verdammten Araber, diese mörderischen Araber, überfallen, und seitdem versuchen sie uns ins Meer zu werfen. Jedes arabische Kind lernt genau das Gegenteil. Das war unser Vaterland seit 13 Jahrhunderten, vielleicht seit Jahrtausenden. Unsere Vorväter haben hier für immer gelebt. Eines Tages kam eine Bande von Menschen, die Juden, aus aller Welt, die behaupten, es wäre ihr Vaterland. Sie haben sich im Land festgesetzt und haben mit Heuchelei am Anfang und dann mit Gewalt und mit Waffengewalt uns vertrieben und vertreiben uns heute noch. Und dieser Kampf der beiden Narrativen geht heute weiter wie am ersten Tag, wenn nicht sogar noch schlimmer. Ich gehöre zu einer Friedensbewegung, Gush Shalom, der Friedensblock, und wir haben uns zum Ziel gesetzt, genau das anzugreifen und versuchen zu korrigieren, indem wir eine Narrative veröffentlicht haben, die die beiden Narrativen inkorporiert und versucht, die beiden Narrativen in eine gemeinsame Geschichte des Konfliktes und des Landes zu integrieren.
Hermann Theißen:
Also im Rahmen eines israelisch-palästinensischen Projekts.
Uri Avnery:
Genau. Und wir betreiben das sehr aktiv, wir veröffentlichen jede Woche jetzt Abschnitte aus diesem Werk mit Bildern, historischen Bildern, um zu zeigen, wie die beiden entgegen gesetzten Narrativen zur Geschichte des Landes gehören. Beide gehören zur Geschichte des Landes. Um Ihnen ein kleines Beispiel zu geben: Es sind 101 Paragraphen, und einer dieser Paragraphen besagt Folgendes: Der israelische Mythos ist: Wir haben das Land vor 48 mit Geld gekauft, wir haben es fruchtbar gemacht, wir haben es besiedelt, und die Araber haben uns überfallen. Die Wahrheit ist: Wir haben das Land gekauft mit gutem Geld, das wir von Juden aus aller Welt gesammelt haben, gekauft aber von wem? Gekauft von abwesenden Großgrundbesitzern, die in Beirut oder in Jaffa oder sogar in Monte Carlo gelebt haben, die dieses Land 50 Jahre vorher gekauft haben, als der türkische Sultan, der immer bankrott war, das Land einfach verkauft hat an jeden, der es kaufen wollte. Und die Leute haben es gekauft, um Geld zu investieren, ganz einfach. Aber auf diesem Land saßen Leute, arabische Pächter, die diesen Boden seit Jahrhunderten bearbeitet haben. Und darum, als wir das Land gekauft haben, mussten wir diese Pächter vertreiben mit Hilfe der türkischen Polizei und später der britischen Polizei. Und es war eine Vertreibung. Diese beiden Narrativen, die sich absolut gegenseitig ausschließen, sind beide die Wahrheit. Das Land war wirklich gekauft, die Juden haben gesagt: Wir haben das Land gekauft, wir haben es nicht erobert, wir haben es gekauft und das Land bestellt und eine wunderbare Landwirtschaft entwickelt. Und die Araber sagen: Ihr habt uns vertrieben. Und ich habe erlebt, dass dieser Paragraph in diesem Werk das allergrößte Erstaunen bei jungen Israelis hervorgerufen hat, das war etwas vollkommen Neues für sie. Sie haben überhaupt nie davon gehört und nie daran gedacht: Was ist eigentlich auf diesem Land passiert? Und bevor nicht Israelis verstehen, warum die Palästinenser tun, was sie tun, und bevor Palästinenser nicht verstehen, warum Israelis tun, was sie tun, kann ein wirklicher Frieden in Israel gar nicht möglich sein. Und darum ist das gegenseitige Verständnis, ich meine das nicht als Gefühlsduselei irgendwie, man muss die anderen verstehen, das sagt man immer so schön. Nein, es ist ganz was anderes. Es ist, dass man verstehen muss, wie die andere Seite, der Gegner, der Feind, wenn Sie wollen, wie er die Sache sieht und warum er sie so sieht. Man kann weder Frieden machen noch Krieg führen, ohne zu verstehen, was die andere Seite denkt und fühlt. Und darum betrachten wir das als so ungeheuer wichtig.
Uri Avnery: "In den Feldern der Philister - Meine Erinnerungen aus dem israelischen Unabhängigkeitskrieg"
Heinrich Hugendubel Verlag (München)
416 Seiten, 28 Euro