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In den Fußstapfen der Vorväter

Daniella Weiss steuert ihren Geländewagen vorsichtig über einen Schotterweg. Etwa 800 Meter sind es von der Siedlung Kdumim bis auf einen Hügel, auf dem ein Wasserturm, eine Antenne und etwa ein Dutzend Wohncontainer stehen. Das Auto rumpelt durch die Schlaglöcher, die Klimaanlage bläst. Mitten durch einen Olivenhain führt der Weg.

Carsten Kühntopp |
    Wir haben das Gebiet von Kdumim verlassen, und der Außenposten, zu dem wir jetzt fahren, ist Teil des Landes, auf dem sich unsere wachsende Ortschaft entwickeln wird. Wir fahren jetzt den Hügel hoch, und wie Sie sehen, verbinden wir mit dieser Straße Kdumim mit dem neuen Außenposten. Na ja, eine Straße kann man das kaum nennen. Rechts und links sehen Sie Olivenhaine, die von den Arabern der umliegenden Dörfer bewirtschaftet werden. Sie machen ihre Arbeit, und wir machen unsere.

    Daniella Weiss gehört zu den Siedlern, die Kdumim 1975 gründeten. Heute sind hier etwa 4.000 Menschen zuhause, seit sieben Jahren ist Weiss die Bürgermeisterin. - Der Ort liegt auf mehreren Anhöhen verteilt und erinnert an ein Dorf im Allgäu: Sorgfältig gekehrte Straßen, hübsche Häuser, gepflegte Vorgärten. - Daniella Weiss, Ende 50, ist wie die meisten Bewohner von Kdumim strenggläubig; stets trägt sie Rock und Kopfbedeckung. Was sie treibt, ist die feste Überzeugung, dass dieses Land, das biblische ‚Land Israel’, von Gott den Juden versprochen wurde. Wie die meisten Israelis benutzt sie für das Westjordanland die biblischen Bezeichnungen Samaria und Judäa.

    Wissen Sie, was ich fühle, wenn ich durch Kdumim fahre? Es ist so, als wenn man nach einem langen Arbeitstag nachhause kommt. Du fühlst dieses tiefe, wohlige Gefühl, wieder daheim zu sein. Ich bin wieder daheim! Ich liebe hier jeden Busch, jeden Baum, jeden Hügel, jedes Haus.

    Die Besiedlung begann bereits kurz nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967, als Israel den Gaza-Streifen und das Westjordanland besetzte. Damals quartierte sich ein Rabbi mit einigen Gefolgsleuten in einem Hotel in Hebron ein und weigerte sich, es wieder zu verlassen - der Urknall der Siedlungsbewegung. 1971 empfahl der damalige Verteidigungsminister Moshe Dayan, die Rolle der israelischen Regierung in den besetzten Gebieten nicht als vorübergehend, sondern als dauerhaft zu begreifen und dort "Fakten zu schaffen", wie er sagte. Einige der Siedlungen, die dann entstanden, sollten im Falle eines Angriffs von Osten als Vorposten dienen; andere hatten vor allem eine politisch-religiöse Funktion. Zur inoffiziellen Hymne der Siedlungsbewegung wurde ein altes chassidisches Lied.

    "Uparatzta, uparatzta!" - Dehnt euch aus nach Westen, nach Osten, nach Norden, nach Süden, so sangen es die jüdischen Siedler. Sie glaubten, ein gottgegebenes Recht auf das Land zu haben, das man seinen palästinensischen Besitzern wegnahm. Schließlich, so die Begründung, handele es sich um einen Teil von Eretz Yisrael, dem biblischen "Land Israel". Mittlerweile leben 231.000 Menschen in rund 140 Siedlungen in Westjordanland und Gaza-Streifen.

    Daniella Weiss ist von Beruf eigentlich Lehrerin. Doch nach dem Yom-Kippur-Krieg von 1973 beschloss sie, in die Politik zu gehen. Der Krieg sei eine Mahnung Gottes gewesen, dass sie ihrem Leben einen tieferen Sinn geben solle, sagt sie. Also zog sie mit ihrem Mann, einem wohlhabenden Geschäftsmann, von einem Tel Aviver Vorort in die besetzten Gebiete und widmete sich fortan der Siedlungsbewegung. Dort agiert sie am ultra-nationalistischen Rand. Ihre politischen Freunde sind mittlerweile ganz oben angekommen: Fotos auf ihrer Webseite zeigen Weiss zusammen mit Ariel Scharon und Staatspräsident Moshe Katsaw. Voller Charisma und Energie ist Daniella Weiss, immer streitbar und gerne auch provozierend - so wie letzten Juli in einer Fernsehtalkshow.

    Nicht die Siedler seien ein Hindernis für den Frieden, ruft Daniella Weiss in die Runde, sondern der Waffenstillstand der palästinensischen Terrorgruppen. - Nach dem Ausflug zum neuen Außenposten zurück in ihrem Büro erzählt Weiss von ihren vier erwachsenen Töchtern.

    Alle folgen sie diesem Weg, neues Leben in dieses biblische Land zu bringen, es wieder aufzubauen. Wir leben hier, weil dies der Geburtsort unserer Nation ist. Eine meiner Töchter lebt in einem neuen Außenposten, eine andere wird jetzt Kdumim verlassen, um in eine entfernter liegende Gemeinde zu ziehen, wo das Leben doch etwas schwieriger ist. Und die anderen beiden Töchter leben nach wie vor hier.

    So landschaftlich reizvoll es in Kdumim und den anderen Siedlungen auch ist - hier zu leben ist gefährlich, vor allem seit dem Ausbruch des Palästinenser-Aufstands im Herbst 2000. Im Frühjahr vor einem Jahr zahlte Naama, eine der Töchter von Daniella Weiss, den denkbar höchsten Preis für ihre politisch-religiösen Überzeugungen: Ein militanter Palästinenser stürmte in ihr Haus und eröffnete das Feuer. Naama packte ihr zweijähriges Töchterchen und konnte sich in Sicherheit bringen. Ihr Mann und die Schwiegereltern aber kamen im Kugelhagel ums Leben. - Kdumim hat keinen Zaun. Das würde so aussehen, als seien wir schwach und als hätten wir Angst vor unseren Feinden, sagt Weiss. Vor kurzem hat sie jedoch ein Überwachungssystem in Betrieb genommen, Kernstück sind Kameras, die an der Spitze eines 45 Meter hohen Mastes montiert sind. Von dort haben wir den ganzen Ort und eventuelle Eindringlinge komplett im Blick, sagt die Bürgermeisterin. - Ist denn auch die Roadmap eine Gefahr für Kdumim? Schließlich würde die Gründung eines palästinensischen Staates bedeuten, dass Siedlungen aufgegeben werden müssten. Daniella Weiss winkt ab:

    Ich habe schon so viele politische Pläne erlebt, so viele Gipfeltreffen, so viele US-Präsidenten, und so viele Regierungschefs, die dann einen Nobelpreis für Frieden erhielten - einen Frieden, der sich als Krieg herausstellte. Dann noch ein Gipfeltreffen und noch eines und noch ein Plan und wieder einer! Wir werden euch aus euren Häusern vertreiben, hieß es - Doch währenddessen wuchs hier die nächste Generation heran und wieder die nächste Generation und die nächste. - Ich denke, dass wir weiter in den Fußstapfen unserer Vorväter gehen werden, die damals gegen die Wüste und gegen die Sümpfe kämpfen mussten, und sie haben es geschafft. Und so werden auch wir es schaffen.

    Weiss’ Gegenentwurf zur Roadmap: Die förmliche Annexion der besetzten Gebiete. Wenn die Palästinenser dies annähmen, könnten sie in ihren Dörfern wohnen bleiben:

    Ich halte mich an die biblische Anordnung: Wer auch immer friedlich im Land Israel leben will, der wird hier friedlich leben, und er wird die Tatsache akzeptieren, dass es Israel ist, das im Land Israel regiert. - Wenn jetzt aber Menschen die israelische Hoheit nicht akzeptieren und nicht akzeptieren, dass Israel hier der Boss ist, dann werden diese Menschen dorthin gehen, wo sie der Boss sein können. Hier, im Land Israel, können sie jedenfalls nicht der Boss sein, denn hier regiert Israel.

    Hinter Daniella Weiss’ Schreibtisch hängt eine etwa zwei mal zwei Meter große Luftaufnahme von Kdumim und dem Gebiet drum herum. Weiss zeigt auf einen leeren Hügel: Dort seien 500 Wohnungen geplant, sagt sie, und dort, auf einem anderen Hügel, werde man 200 Wohnungen bauen.

    Wenn du etwas isst, das dir sehr gut schmeckt, ein schönes Stück Kuchen zum Beispiel, und du willst noch ein Stück haben - wirst du dann irgendeinen anderen Kuchen nehmen? Oder wirst du sagen: Mehr von demselben? - Meine Einstellung ist es, zu sagen: Mehr von demselben. Und das sage ich über mein Leben in Israel: Mehr von demselben! - Wir haben es richtig gemacht und sind nachhause zurückgekehrt. Es gefällt uns, wir lieben es, wir wollen mehr davon! Mehr und mehr und mehr Zionismus. Wir werden also weitermachen. Wir werden weitermachen auf den Hügeln von Samaria, von Judäa und im Gaza-Streifen, um dies zu einem wunderbaren Heimatland zu machen, für die aus der Diaspora heimkehrenden Juden.

    Auf einem Hügel im nördlichen Westjordanland. Ein Bagger mit einem Presslufthammer schlägt Gestein ab und haut eine ebene Fläche in den Fels. Drumherum stehen eine Handvoll Wohncontainer und ein Wasserturm.

    Wir sind jetzt in Givat Haroeh, einem etwa ein Jahr alten Outpost, der gemäß der Roadmap eigentlich abgebaut werden müsste. Doch was wir hören, ist natürlich nicht die Räumung dieses Außenpostens, sondern ein Bagger, der den Platz für weitere Wohncontainer herrichtet.

    Dror Etkes kennt das Westjordanland wie kaum ein anderer Israeli. Seit anderthalb Jahren ist er dort unterwegs und dokumentiert für die Bewegung "Schalom Achschaw - Frieden Jetzt" das stetige Wachstum der jüdischen Siedlungen und ihrer kleinen Ableger, der so genannten Outposts. Hunderte Kilometer legt er jeden Monat zurück, am Steuer eines klapprigen Renault-Kastenwagens. Seine Ausrüstung sind ein Fernrohr, eine Digitalkamera und diverse Landkarten.

    Die israelische Regierung verwendet verdammt viel Energie darauf, die Tatsachen ihrer Politik im Westjordanland zu verschleiern und darüber zu lügen. Deswegen ist es sehr wichtig, dass es in Israel Organisationen gibt, die versuchen, dieses alles aufzuhellen und von verschiedenen Richtungen zu beleuchten. Wir geben der israelischen Öffentlichkeit die Fakten, die sie braucht, um die Siedlungspolitik zu verstehen und um dann vernünftige politische Entscheidungen darüber zu treffen.

    Etkes, Mitte 30, ein kräftiger Kerl, Nickelbrille auf der Nase, zwei Ringe im linken Ohr, die Sonne hat ihm das Gesicht und den Nacken verbrannt, Etkes schaut über die umliegenden Anhöhen. Im Dunst der Mittagshitze kann man in ein, zwei Kilometern Entfernung die roten Ziegeldächer von Eli ausmachen. Eli ist die Muttersiedlung, dort wohnen die Israelis, die sich vor einem Jahr diesen Hügel hier schnappten, einen Schotterweg zum Gipfel hoch zogen, einen Wohnwagen und eine Antenne aufstellten und diesen Outpost dann Givat HaRoeh tauften. Etkes erzählt, wie er Mitte der 90er Jahre nach einer längeren Zeit im Ausland erstmals wieder im Westjordanland unterwegs war. Da hatte Israel zuvor in den Osloer Verträgen versprochen, die Fakten in den besetzten Palästinensergebieten nicht zu verändern. Tatsächlich aber lief die Besiedlung auf Hochtouren.

    Die Geographie des Westjordanlands war dramatisch verändert worden. Oslo hatte eine gewaltige Anzahl israelischer Infrastruktur-Projekte gebracht, die das Land auf immer verändert hatten. Mir wurde schnell klar, dass die Realität im Westjordanland ganz anders war, als es die meisten Israelis wahrnahmen. Während man in Israel vom Friedensprozess sprach, wurden die Palästinenser immer verbitterter. Denn in dem Land, das eigentlich irgendwann einmal ihr Staatsgebiet werden sollte, dehnten sich die israelischen Siedlungen immer mehr aus.

    Dies dürfte einer der Hauptgründe für das Scheitern des Friedensprozesses und den Ausbruch der Intifada im Jahr 2000 sein. Die Israelis hatten relative Ruhe und Sicherheit und einen Wirtschaftsboom genossen, doch die Siedler nahmen den Palästinensern immer mehr Land weg, und die neuen Straßen zerschnitten ihre Äcker und Weiden.

    Dror Etkes ist ungebeten in Givat HaRoeh erschienen. Keine zwei Minuten dauert es, bis ein Wachmann auftaucht, zwar in Muscle-Shirt, kurzen Hosen und Badelatschen, aber mit einem Gewehr über der Schulter. Über Funk holt er Verstärkung, einem Pickup-Truck entsteigt ein Bär von einem Mann, der sich als Polizist ausweist und die Personalien feststellt. Man wechselt ein paar höfliche Worte, dann macht sich Etkes wieder auf den Weg, bis zur nächsten Kreuzung gefolgt vom Polizisten im Pickup; die Siedler sehen den Friedensaktivisten am liebsten von hinten.

    Weiter geht es, nach Süden. Etkes zeigt auf eine Ansammlung von Wohncontainern, die auf der anderen Seite des Tals auf einer Anhöhe stehen.

    Dies ist die Siedlung Migron, die während des vergangenen Jahres entstanden ist. Alles fing mit der Antenne an, die wir dort auf dem Hügel sehen können. Die Antenne brauchte einen Wachmann, der Wachmann brauchte einen Freund, der Freund brauchte Gesellschaft, und heute leben rund 35 Familien in diesem neuen Outpost.

    Mehr als 100 dieser Mini-Siedlungen gibt es mittlerweile, rund 60 sind allein in der Amtszeit von Ministerpräsident Ariel Scharon entstanden. Im Juli ermunterte Scharon die Siedler im Kabinett, sie könnten ruhig weiterbauen, sollten es aber nicht an die große Glocke hängen.

    Diese Siedlungen sind nach israelischem Recht illegal, aber nach ihrer Gründung werden sie letztlich legalisiert, weil der ganze Apparat der Ziviladministration im Westjordanland in der Hand der Siedler und ihrer Helfer in der Regierung ist. Zur Besiedlung braucht man kein Antragsformular! Es funktioniert so, dass sich die Siedler einen Hügel aussuchen und ein Gebiet, in das sie sich ausdehnen wollen, das zwischen zwei bestehenden Siedlungen liegt. Und dann wird in diesem Gebiet ein neues Zeichen israelischer Präsenz errichtet - etwas, das zeigt, dass dieses Gebiet von Israel kontrolliert wird.

    Seit die Roadmap auf dem Tisch liegt, bemühen sich die Siedler ganz besonders, Fakten zu schaffen, berichtet Dror Etkes. Elf Outposts ließ die Regierung letztens abbauen, dafür errichteten die Siedler 18 neue. Etkes‘ geschultes Auge erkennt sofort, wenn irgendwo in der Ferne, auf einer Anhöhe, plötzlich eine Hütte steht, die bei seiner letzten Erkundungsfahrt noch nicht dort war. Seine Angaben über den Stand der israelischen Siedlungspolitik sind so zuverlässig, dass sogar die US-Regierung sie verwenden.

    Dror Etkes befürchtet, dass Israel zu einem Apartheidstaat wird, wenn es die Siedlungen nicht aufgibt. Er leidet darunter, dass die meisten Israelis nicht wahrnehmen möchten, was er jeden Tag sieht und erlebt - die Landnahme, die ungerechte Verteilung des Wassers, die Schikane an den Checkpoints der Armee. Etkes ist fest davon überzeugt: Die kulturelle Verbindung zu Eretz Yisrael, zum biblischen "Land Israel", ist das eine; aber die israelische Herrschaft dort über ein Volk, das diese Herrschaft nicht will, das ist das andere, meint er.

    Im Judentum geht es nicht um die Bindung an ein bestimmtes Stück Land. Die wichtigste Botschaft des Judentums ist, dass Gott in jedem von uns ist. Wir tragen ihn in uns, wo immer wir sind. Judentum bedeutet nicht, diesem oder jenem Stein verbunden zu sein. Dennoch muss man natürlich irgendwo leben. Ich bin auf jeden Fall der Meinung, dass Juden an einem Ort zusammen leben sollten. Aber: An einem Ort zu leben und den anderen anzunehmen, ist das eine. An einem Ort zu leben und den anderen zu unterdrücken - das ist etwas, das kein anständiger Mensch akzeptieren kann.

    Im Haus der Familie Cohen in der Siedlung Kfar Darom im Gaza-Streifen. Tehila, elf Jahre, macht Frühstück für sich und zwei ihrer jüngeren Schwestern, es gibt Cocopops mit Milch.

    Ich gehe in die sechste Klasse, erzählt Tehila. In Kfar Darom ist sie zuhause, sagt sie, und alle zehn Mädchen in ihrer Klasse sind ihre Freundinnen.

    Was Tehila hinter sich hat, ist zunächst kaum zu erkennen. Ihr langer Rock verbirgt, dass sie nicht auf zwei Beinen, sondern auf zwei Prothesen steht. Als sich Tehila durchs Haar streicht, sieht man, dass der Mittel- und der Ringfinger ihrer linken Hand fehlen. Am 20. November 2000 wurde Tehila zusammen mit zwei Geschwistern Opfer eines Terroranschlags auf ihren Schulbus. Ihre Mutter, Noga Cohen:

    Es war ein ganz normaler Morgen. Die Kinder waren gerade raus zum Schulbus gegangen. Zwei Minuten, nachdem sie das Haus verlassen hatten, gab es einen Knall. Mein Mann hat mich gefragt: Was war das? Ich habe gesagt: Ein Flugzeug. Nein, das war kein Flugzeug, hat er gesagt und lief raus, um es herauszufinden. - Ich habe auf die Uhr geguckt: Es war zwei Minuten nach der üblichen Abfahrtszeit des Busses. ‚Wunderbar!‘ dachte ich, ‚dieser Anschlag hat sie nicht erwischt! Wenn es ein Anschlag war, dann hatten sie damit bestimmt nichts zu tun!

    Die Wahrheit sollte Noga Cohen kurz darauf erfahren. Nur wenige Meter vor dem Tor von Kfar Darom hatten Palästinenser einen Sprengsatz vergraben. Sie zündeten ihn in dem Moment, als sich das Tor der Siedlung öffnete und der Bus durchfuhr, um die Kinder in die Schule zu bringen, einige Kilometer entfernt in der nächsten Siedlung. Zwei Begleiter der Kinder waren sofort tot, die Verletzten flog die Armee in ein Krankenhaus ins israelische Beersheva. Dort mussten die Ärzte Tehila, damals acht Jahre alt, sofort eines der Beine abnehmen, unterhalb des Knies. In einer 18stündigen Operation versuchten sie dann, das andere Bein zu retten, vergebens. Ihr Bruder Yisrael, damals sieben, verlor sein rechtes Bein, die große Schwester Orit, damals zwölf, verlor ihren rechten Fuß.

    Das Morgengebet, vorgetragen von zwei Schwestern Tehilas. ‚Danke, dass Du mich wieder erweckt hast‘ heißt es darin. Die Familie Cohen ist strenggläubig. Mutter Noga trägt stets Rock und Kopfbedeckung. Ihr Mann, Ofir, ist Rabbi. Vor 13 Jahren, erzählt Ofir, sind sie nach Kfar Darom gezogen, eine jüdische Siedlung, die völlig isoliert mitten im palästinensischen Gaza-Streifen liegt.

    Kfar Darom ist Teil unseres Landes. Aus unserer Sicht gibt es keinen Unterschied zwischen Tel Aviv, Haifa, Jaffa oder Gaza. Dies ist das Heilige Land, das wir von Gott bekommen haben, und wir sind zurückgekehrt. Das Volk Israel war Jahrhunderte in der Diaspora, und nun ist es in seine Heimat zurückgekehrt. Aus unserer Sicht sind wir jetzt zuhause. Die Menschen wohnen vor allem deswegen in Kfar Darom, weil sie an diesen Ort glauben und ihrer Ideologie folgen.

    Etwa 60 Familien wohnen in Kfar Darom, die meisten in großzügigen Ein-Familien-Häusern mit prächtig-grünen Gärten. Idyllisch und friedlich scheint es hier zu sein, doch der Eindruck täuscht. Die Einwohner von Kfar Darom sind ständig bedroht. Wer trotz der Spannungen hier bleibt, tut dies ausschließlich wegen seiner politisch-religiösen Überzeugungen. - Im Gaza-Streifen leben 1,3 Millionen Palästinenser, es ist einer der am dichtesten bevölkerten Landstriche der Welt. Ein Fünftel des Gaza-Streifens ist von Israel besetzt, dort wohnen etwa 6.000 Siedler.

    Sollte sich Israel jemals aus dem Gaza-Streifen zurückziehen, dürfte Kfar Darom eine der ersten Siedlungen sein, die geräumt werden. Denn der Aufwand, mit dem die Einwohner geschützt werden müssen, ist gewaltig. Kfar Darom ist von einem Ring aus Stacheldraht, Wachtürmen und Betonmauern umgeben. Wer in die Siedlung hineinfährt, glaubt, ein Armeelager zu betreten. Auch mehrere Kampfpanzer sind hier stationiert; von hier rücken sie immer wieder aus und greifen ein benachbartes palästinensisches Flüchtlingslager an, im Kampf gegen den Terrorismus, wie es heißt. Rund um Kfar Darom hat die Armee während der letzten zwei Jahre Äcker und Plantagen von Palästinensern zerstört. In einem Radius von mehreren Hundert Metern wurde das Land "rasiert", wie es in der Armeesprache heißt. Dadurch soll Angreifern die Möglichkeit genommen werden, sich unbemerkt heranzuschleichen. Seit dem Beginn der Intifada im Herbst 2000 ist das Leben in Kfar Darom immer gefährlicher geworden. Ofir Cohen:

    Das fing mit Schüssen auf den Straßen an, da gab es auch Tote. Dann die Messerstechereien. Der Rabbi von Kfar Darom wurde erstochen. In den letzten zwei Jahren ist es dann ein richtiger Krieg geworden. Wenn eine Bombe neben einem Bus explodiert, dann ist das ja schon wie im Libanon! Das gab es hier früher nicht! Oder Raketen von oben, Angriffe auf Soldaten, Gruppen von Terroristen, die sich anschleichen und versuchen, einzudringen. Nur dank der Entschlossenheit des Militärs kann all dies hier existieren. Das sind unsere Leute, die Soldaten. Da fühlst du dich nicht eingeschlossen! Das sind Leute, die du liebst und mit denen du lebst, du lädst sie nachhause ein, und du bist ein Teil davon. Wenn du hier lebst, merkst du es nicht. Nur wer von außen kommt, merkt es. Wenn du die Routine hier lebst, fällt es dir nicht so auf.

    Nach dem Anschlag auf den Schulbus verließen die Cohens Kfar Darom und zogen in einen Vorort von Tel Aviv in die Nähe des Krankenhauses, in dem sich Spezialisten um die drei verletzten Kinder kümmerten. Vor einem dreiviertel Jahr aber beschloss die Familie, wieder zurück zu gehen in die Siedlung im Gaza-Streifen. Es sollte die vollständige Rehabilitation sein, sagt Noga Cohen, die Rückkehr zum gewohnten Leben.

    Ich liebe die Menschen hier. Es sind Menschen, die so an ihre Ideologie glauben, dass sie fähig sind, trotz aller Widrigkeiten weiterzumachen und weiterhin hier zu leben. Das hat uns die Kraft gegeben, zurückzukehren. Wenn es auch andere Leute gibt, die dies schaffen, dann schaffe ich es auch. Es sind besondere Menschen und ein liebenswerter Ort, und ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihn zu verlassen. Das ist es, was mich hier hält. Denn sonst kann man hier ja nichts tun, an diesem bedrohlichen Ort, wo du jeden Tag Angst hast, dass den Kindern noch einmal etwas passiert. Was soll ich da machen!