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In der Hauptstadt des Surrealismus

Giorgio de Chirico steht in der Malerei des frühen 20.Jahrhunderts außerhalb. Man rechnet ihn zu den Surrealisten, aber er hat einen eigenen Stil der Pittura Metafisica begründet. Seine Bilder sind zeitentbunden und rätselvoll, das ist gemalter Nietzsche. In Paris hat man Giorgio de Chirico eine Retrospektive eingerichtet.

Von Björn Stüben |
    "Ein Kunstwerk muss etwas erzählen, was nicht in seiner äußeren Gestalt erscheint", schrieb der 1888 in Griechenland geborene italienische Maler Giorgio de Chirico in einem Brief aus Paris, wo er zwischen 1911 und 1915 lebte und arbeitete. In den Schriften Nietzsches, mit denen er sich einige Jahre zuvor bei seinem Studienaufenthalt in München auseinandersetzte, entdeckte er nach eigenem Bekunden "eine fremdartige und tiefe, grenzenlos mysteriöse und einsame Poesie, die auf der Stimmung eines Herbstnachmittags beruht".

    In den italienischen Städten und besonders in Turin fand er 1911 jene Stimmung vor. Seitdem wurden seine Werke von rätselhaften Stadtansichten bestimmt, in denen menschliche Wesen zu winzigen Strichmännchen inmitten kühler Architekturen mit bedrohlich wirkenden Schatten zusammenschrumpften.

    Vor allem die Bilder jener "italienischen Plätze" waren es, mit denen sich De Chirico seit 1912 an den Pariser Herbstausstellungen beteiligte und die den damals einflussreichsten Kunstkritiker Guillaume Apollinaire bewundernd von einer "seltsam metaphysischen" Malerei schwärmen ließen.

    Der 25-jährige De Chirico wurde in Paris bald als Malergenie gehandelt und die Surrealisten um André Breton erklärten De Chiricos "metaphysische Malerei" Anfang der 20er Jahre kurzerhand zu ihrem künstlerischen Vorbild.

    In Paris werden jetzt über 170 seiner Werke in einer Retrospektive im städtischen Museum für Moderne Kunst gezeigt. Natürlich begegnet der Besucher metaphysischen Meisterwerken wie "Gare Montparnasse" und "Rätsel eines Tages", beide von 1914 oder "Erinnerung an Italien" von 1920. Auch De Chiricos gesichtslose "Manichini", jene mysteriösen Gliederpuppen, die häufig die Gestalt klassischer Skulpturen annehmen, sind zu sehen.

    Doch die Pariser Schau will nicht nur De Chiricos "metaphysische" Schaffensperiode, die ja kaum länger als sieben Jahre dauerte, sondern auch seine Kunstproduktion der folgenden 60 Jahre bis zu seinem Tod 1978 in Beispielen vorführen. Mitte der 20er Jahre schrieb sich De Chirico recht selbstherrlich das Prädikat des "Pictor optimus", des Besten unter den Malern zu und widmete sich fortan konsequent den alten Meistern, die er kopierte oder neu interpretierte.

    Nach dem künstlerischen Höhenflug in Paris folgte damit der tiefe Fall, denn das Urteil der Surrealisten über diesen Stilwechsel fiel vernichtend aus. Die in der Schau gezeigten Kopien nach Rubens oder Veronese wirken schwülstig und grenzen vor allem in den 40er Jahren an meisterhaft gemalten Kitsch. In den 50er und 60er Jahren tauchen plötzlich wieder metaphysische Motive in seiner Malerei auf, was sich Museumsdirektor Fabrice Herrgott im Rückblick durchaus erklären kann:

    "De Chirico war immer ein großer Provokateur und nur ein Poet wie Apollinaire hat erkennen können, dass hinter dieser Fassade ein Künstlergenie steckte. De Chirico wurde dann plötzlich sehr klassisch in seiner Kunstauffassung. In den 50er und 60er Jahren lobten die Leute sein Frühwerk in höchsten Tönen, aber für seinen späteren Stil erntete er nur Unverständnis. Alle meinten, ihm sei die Inspiration abhanden gekommen. Er hingegen provozierte dann, in dem er seine frühen metaphysischen Arbeiten kopierte. Er machte einfach, was er wollte."

    Diese späten Arbeiten wirken kraftlos und zeugen wohl auch von Resignation. Die in den späten 50er Jahren entstandenen Selbstportraits, die De Chirico in Kostümen des 17. Jahrhunderts mit Federhut und Degen oder als Torrero zeigt, beweisen handwerkliches Können, doch der Kontrast zu seinen "italienischen Plätzen", mit denen er Jahrzehnte zuvor in Paris Triumphe feierte, könnte kaum größer sein. Daher verwundert es nicht, dass diese Facette in seinem Schaffen bisher nur selten in Ausstellungen vorgestellt wurde.

    "Dreißig Jahre nach seinem Tod können wir nun endlich eine Retrospektive machen und wirklich alles zeigen. Ich denke, dass der Blick auf De Chiricos Oeuvre jetzt entspannter ist als noch vor zehn Jahren. Viele aktuelle Künstler haben sich zu den Themen schlechter Geschmack oder Kitsch ihre Gedanken gemacht wie zum Beispiel Jeff Koons. Schaut man sich die späten Pferdedarstellungen von De Chirico an, dann ist das noch eine Steigerung von Jeff Koons. Und in den neobarocken Akten im Stile Tizians oder Veroneses steckt, meiner Ansicht nach, sehr viel Ironie und auch Humor drin."

    An den Darstellungen der Göttin "Diana als Jägerin" von 1955 oder der Allegorie des "Herbstes" von 1940 ironische Botschaften des Malers abzulesen oder die Bilder als humorvoll einzustufen, fällt jedoch mehr als schwer. Der deutsche Kunsthistoriker und Museumsdirektor Werner Schmalenbach schrieb 1996 über De Chirico:

    "Er ist der einzige Maler, bei dem ich das Gefühl habe, ich könnte süchtig werden. Seine Bilder sind für mich wie eine Droge. Aber natürlich nur die aus seiner Frühzeit, denn einer der großen Maler des Jahrhunderts war er nur wenige Jahre lang."

    Nach dem Besuch der Pariser Schau wird Werner Schmalenbachs Urteil wahrscheinlich viele Anhänger finden.