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In der Praxis gescheitert

Atomausstieg, Laufzeitverlängerung, Endlagersuche - das Thema Atomkraft hat sich seinen Platz im gesellschaftlichen Diskurs wieder zurückerobert. Zwei Neuerscheinungen greifen die längst vergessen geglaubte Debatte wieder auf.

Von Daniel Blum |
    Die "Mythen der Atomkraft" entlarven möchte Gerd Rosenkranz in seinem gleichnamigen Essay, einem schmalen Bändchen mit gerade mal einhundert, groß bedruckten Seiten. Gerd Rosenkranz ist einer der bekanntesten deutschen Umweltjournalisten, mittlerweile leitet er die Politikabteilung der Deutschen Umwelthilfe, einer einflussreichen Lobbyorganisation für Öko-Interessen. Die mit Macht gegen das neue Image kämpft, mit dem die Energiekonzerne ihre Atomkraftwerke schmücken wollen: die Kernenergie als Klimaretterin, unverzichtbar, um die Atmosphäre vor Kohlendioxidschwaden und Treibhauskollaps zu retten. Die altgedienten deutschen Reaktoren könnten und sollten noch ein paar Jahrzehnte laufen, um die "Versorgungssicherheit" mit Strom zu garantieren. Von wegen "sicher", kritisiert Rosenkranz.
    Es ist eine kühne Behauptung, Atomkraftwerke würden mit zunehmendem Alter immer sicherer, im Gegensatz zu Automobilen oder Flugzeugen. Korrosion, Strahlenschäden, Rissbildung an der Oberfläche, an Schweißnähten sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Wenn sich die Reaktorbetreiber mit ihren Laufzeit-Vorstellungen von vierzig, sechzig oder gar achtzig Jahren durchsetzen, wird sich das Durchschnittsalter der Atomkraftwerke massiv erhöhen. Damit wächst das Risiko eines schweren Unfalls erheblich.
    "Wie uns die Energielobby hinters Licht führt", heißt Rosenkranz' Buch im Untertitel – und zeigt damit deutlich, welchen Charakter es hat: Der Essay versteht sich als eine aufklärerische Kampfschrift, die sich gegen die Trendsetter stemmt. Gegen die Stromkonzerne und ihnen nahe stehende Wirtschaftspolitiker, die den mittlerweile acht Jahre alten Atomkonsens zwischen der rotgrünen Bundesregierung und den Kraftwerksbetreibern aufkündigen möchten. Die Konzerne nutzen dabei, so makaber das klingt, die drohende Klimakatastrophe als Gunst der Stunde. Und die schwarz-gelbe Bundesregierung zieht mit: langfristig wolle man die Stromversorgung auf erneuerbare Energien umstellen. Und dabei könne die Kernenergie helfen: sie schade dem Klima nicht, und einen Teil der satten Profite der Kraftwerke könne man umleiten, um damit Sonne, Wind und Wasserkraft zu fördern. Ist das nicht wunderbar? Keineswegs, widerspricht Rosenkranz. Denn die Windenergie produziere mittlerweile an stürmischen Tagen Unmengen an Elektrizität, die dann den Preis an der Strombörse ins Bodenlose fallen ließen. Bei solchen Wetterlagen fahren die Atomkonzerne satte Verluste ein, denn sie können ihre Reaktoren aus Sicherheitsgründen nicht einfach mal kurz runter- und dann wieder rauffahren.

    Es geht beim Streit über das Verhältnis von erneuerbaren Energien und Atomkraft nicht mehr um ein Sowohl-als-auch, wie uns die Atomenergie-Propaganda weismachen will. Es geht um ein Entweder-oder. Der "breite Energiemix", den uns die Energiekonzerne wortreich andienen, funktioniert nicht. Er kann nicht funktionieren in einem System, in dem die erneuerbaren Energien den Hauptanteil der Energieversorgung übernehmen sollen.
    Eine Sichtweise, die kürzlich sogar Bundesumweltminister Norbert Röttgen einnahm. In einem Zeitungsinterview sagte er, wer "den jetzigen Kraftwerks-Mix konserviere", der "verhindere", dass die erneuerbaren Energien die Stromversorgung übernehmen. Wörtlich erklärte Röttgen: "Windkraft und Solarenergie müssen durch flexibel und schnell regelbare fossile Kraftwerke ergänzt werden, nicht durch große Kernkraftblöcke." Das heißt: Röttgen will die Reaktoren zwar durchaus länger am Netz lassen als geplant – aber nicht ganz so lange, wie es sich die Kernenergiefans erträumen. - Auch wenn Rosenkranz' Buch, von der grünennahen Böll-Stiftung herausgegeben, parteilich ist, Propaganda ist es gewiss nicht. Rosenkranz präsentiert auf übersichtlichem Raum zentrale Fakten zum Thema, sauber recherchiert und dokumentiert. Statt auf Slogans setzt er auf die aufklärerische Kraft des besseren Arguments. Auch politisch Andersurteilende werden ihm bescheinigen müssen, dass er mit offenem Visier und fairen Mitteln für seine Sache kämpft.

    Wesentlich umfangreicher und ausholender präsentiert sich das zweite Buch zum Thema, Stephanie Cookes "Atom – Die Geschichte des nuklearen Zeitalters". Wie es sich für ein Geschichtsbuch gehört, ist es eine Schwarte, 600 Seiten üppig. Die US-amerikanische Journalistin Stephanie Cooke hat bereits in den Achtzigern begonnen, für das Buch zu recherchieren. Sie hat Uranminen und Kernkraftwerke besucht, ungezählte internationale Fachtagungen abgesessen und zig Interviews mit führenden Atomexperten gemacht. Als Korrespondentin wissenschaftlicher Fachzeitschriften begegnete sie der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie zunächst kritisch, aber wohlwollend. Was sich im Laufe der Jahre änderte? Die Insiderin gewann die Überzeugung, dass selbst die modernsten Reaktoren so fehlerhaft arbeiten, so störanfällig sind und am Ende so wenig beherrschbar, dass es sich in einer Marktwirtschaft eigentlich gar nicht rentiere, sie zu bauen. Dass nach Hiroshima und Nagasaki Staatsmänner in aller Welt den Bau von Reaktoren zu vorgeblich friedlichen Zwecken vorantrieben, habe, so Cooke, militärische Gründe – bis heute. Es sei der simpelste Weg, um an Bombenmaterial zu kommen – und damit an militärische Macht und internationales Prestige. Stephanie Cooke schreibt:

    Als die Branche expandierte, verhieß diese Zweischneidigkeit nichts Gutes, zumal die mit technischen Neuerungen beauftragten Betriebe von Anfang an durch Geheimhaltung geschützt waren. So war es höchst wahrscheinlich, dass man die Vorteile der Kernenergie deutlich herausstellen, die Nachteile dagegen beschönigen oder gänzlich verschweigen würde. Die gesamte Branche bildete einen fruchtbaren Nährboden für menschliche Schwächen, für Wunschdenken, für Selbsttäuschung und für simple Naivität. Am Ende erwiesen sich die Verlockungen als unwiderstehlich, die Gefahren als zu groß, um von Normalsterblichen bewältigt werden zu können.
    Einen weiten Bogen schlägt Stephanie Cooke: sie beschreibt die Entwicklung der ersten Atombomben im Manhattan Project, schildert die futuristischen Verheißungen der Sechziger von spottbilligem, sauberen Atomstrom – und dann den Niedergang der Branche, der bereits in den Siebzigern einsetzt. Viele, viel zu viele Störfälle. Die vergebliche Suche nach einer Endlagerstätte, in der die strahlenden Abfälle sicher eingeschlossen sein sollen, für einen schier endlosen Zeitraum, der unser Vorstellungsvermögen sprengt. Cooke wartet mit vielen, selbst recherchierten Details auf, mit Zeitzeugen, die sie selbst befragt hat, und präsentiert ihre Eindrücke stilistisch ambitioniert: in einer facettenreichen Sprache und glasklar gegliederten Sätzen. Inhaltlich sind sie und Rosenkranz sich einig: Die Vision, preiswerten Strom aus der Kernspaltung zu erzeugen, ist in der Praxis gescheitert. Ohne massive Staatssubventionen würde kein Energiekonzern mehr den Bau eines Reaktors in Auftrag geben.

    Daniel Blum war das über: Stephanie Cooke: Atom - Die Geschichte des nuklearen Zeitalters. Erschienen bei Kiepenheuer und Witsch, mit 560 Seiten für 24,95 Euro (ISBN: 978-3462041989).
    Und:
    Gerd Rosenkranz: Mythen der Atomkraft - Wie uns die Energielobby hinters Licht führt. Erschienen im oekom Verlag – das Buch hat 109 Seiten und kostet 8,95 Euro (ISBN: 978-3-86581-198-1).