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"In ein gerolltes Weinblatt möcht ich kriechen"

Er zog sich in sich und die Natur zurück, wollte nicht mitmischen, sondern beobachten, was um ihn herum geschah: der Schriftsteller und Büchner-Preisträger Hermann Lenz. Dem am 26. Februar 1913 geborenen Schwaben dienten seine Romane, Erzählungen und Gedichte stets der Selbsterforschung.

Von Matthias Kußmann | 18.02.2013
    "Das deutsche Volk ist glücklich in dem Bewusstsein, dass die ewigen Fluchterscheinungen nunmehr endgültig abgelöst wurden von einem ruhenden Pol!"

    Adolf Hitler im Herbst 1934 beim Reichsparteitag in Nürnberg. Ein Jahr zuvor hatte ihn Hindenburg zum Reichskanzler ernannt. Hitler und die NSDAP als "ruhender Pol" in einem politisch zerstrittenen, wirtschaftlich desolaten Land – Hermann Lenz glaubt dem selbst ernannten "Führer" kein Wort. Zur selben Zeit schreibt der 21-Jährige das Gedicht "Das Blatt", das zwei Jahre später in seinem ersten kleinen Lyrikband stehen wird. Die erste Strophe:

    In ein gerolltes Weinblatt möcht ich kriechen,
    sein mürbes Sterben knisternd hören, um
    in Spinnenfasern lässig hinzusiechen
    bei einer Wespe brüchigem Gebrumm.


    Was Lenz hier in Bilder fasst, ist eine Haltung, die ihn lebenslang prägen wird: Er will nicht "mitmachen", allenfalls zuschauen bei dem, was um ihn herum geschieht – und bei dem, was die Nazis treiben, schon gar nicht. Er ist am liebsten allein, zieht sich in sich und die Natur zurück. "Wenn du nur durchkommst", heißt sein Wahlspruch, der unter Lenz-Lesern zum geflügelten Wort wurde.

    Wenn du nur durchkommst, das heißt, dass du Zeit hast für dich selbst und dich nicht verlierst in dem, was die anderen, die weitaus ehrgeiziger sind als ich, sich abzwingen müssen, (…) mit Ellenbogen und mit allem, was dazugehört. Aber mir kam es darauf an, mich selbst kennenzulernen.

    So dienen Lenz' Romane, Erzählungen und Gedichte bis zu seinen letzten Arbeiten Ende der 90er-Jahre der Selbsterforschung – vor allem der neunbändige autobiografische Roman "Vergangene Gegenwart". Darin erzählt er auf 3000 Seiten das Leben seines Alter Ego Eugen Rapp, und damit zugleich eine grandiose Alltagsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Andre Romane und Erzählungen spielen im 19. Jahrhundert, oft in Wien, einem Sehnsuchtsort des Autors – und doch haben die sensiblen, ein wenig ironischen Hauptfiguren stets Ähnlichkeit mit Lenz. Die Selbsterforschung hat freilich nichts von Selbstentblößung, darum wundert es kaum, dass die poetischen, mit Naturbeschreibungen durchsetzten Werke lange wenig Leser fanden – weder um 1968, als "engagierte" Literatur gefragt war, noch danach, als die "neue Subjektivität" durchaus zur Selbstentblößung neigte.

    Ja, introvertiert und fein … Wenn die Brutalität und die Grobheit modern sind, dann ist das, was ein anderer macht, eben etwas altmodisch "Feines" und Überwundenes ...

    Was bei Lenz so klingt:

    Und wieder einmal dachte er ans Gehen auf grasigen Wegen, wenn neben denen Glockenblumen standen und ein Stein hervorschaute im Gras. Der Wind ging in den Blättern. Ein gewisser Eugen Rapp spürte sich nicht mehr. Er hatte nur noch das Gefühl: Alles von ihm habe sich im Wind verflüchtigt, aufgelöst im Boden. Du bist Gras geworden, Blätter, Glockenblumen und so weiter, alles aber hat das Licht hervorgebracht.

    1972, Lenz ist knapp 60, steht er vor dem Aus. Der kleine Jakob Hegner-Verlag, der bisher seine Bücher druckte, gibt auf.

    Ich war ziemlich verzweifelt. Ich habe gedacht, es ist zu Ende, es ist Feierabend. ... Und in diesem Augenblick habe ich Peter Handke kennen gelernt! Ich bin eigentlich durch seinen Hinweis erst der Autor geworden, der ich vielleicht bin oder von dem ich mir gewünscht habe, dass ich es sein könnte. Ich bin Jahrzehnte vorher, ja, geduldet worden. Aber erst durch ihn hab ich diese Stärkung erfahren.

    Handke, der Lenz' Bücher liebt, schreibt für die "Süddeutsche Zeitung" einen Aufsatz mit dem schönen Titel "Tage wie ausgeblasene Eier", eine "Einladung, Hermann Lenz zu lesen":

    Es gibt ja keine schönere und ermutigendere Existenz als die eines Schriftstellers, der, wie Hermann Lenz oft sagt, "durchgekommen" ist, wie man im Krieg vielleicht gesagt hat, man kommt durch…

    So Handke.

    Ich kann mir nix schöneres denken als einen, der mit Luft und Licht und Farben Bücher herstellt. Wo das Licht bestehen bleibt und der Wind dann durchwehen kann durch die Wörter, die ja bei Hermann Lenz besonders leicht und nie so zusammengefügt sind, wie sehr oft in Büchern…

    Handkes Essay erscheint kurz vor Weihnachten 1973 und macht Lenz sofort bekannt. Zudem begeistert Handke seinen eigenen Verleger für Lenz' Bücher, die von da an im renommierten Suhrkamp- und Insel-Verlag erscheinen. Nur fünf Jahre später erhält Lenz den Büchner-Preis, die höchste deutschsprachige Auszeichnung für Literatur. Im Roman "Herbstlicht" beschreibt er bescheiden-ironisch, wie sein Alter Ego Eugen Rapp die Nachricht erhält. Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ruft an:

    "Wer, glauben Sie, bekommt heuer den Büchner-Preis?" – "Den? Das hab ich mir noch nicht überlegt. Vielleicht der Walser?" – "Nein, Sie!" – Eine Überraschung, wie? Doch jubelte Eugen nicht, er konnte es nur nicht recht glauben (…), weshalb er schließlich sagte, er sei von den Socken ... Nun bist Du Preisträger. Wer hätt's gedacht, dass dir das einmal zustößt? Du jedenfalls nie. Und er ging ins Nebenzimmer, wo Hanne im Lehnstuhl saß und fragend aufschaute. "Büchner-Preis", sagte er. "Aber – die Rede …"

    Hermann Lenz wird am 26. Februar 1913 in Stuttgart geboren. Beim Kunstgeschichte-Studium in München lernt er 1938 seine spätere Frau Hanne Trautwein kennen, die in seinen Romanen immer wieder als "Treutlein Hanni" auftaucht. Sie ist im Nazijargon "Halbjüdin", er macht sich Sorgen um sie. Zugleich weiß er, dass er offen mit ihr reden kann, auch ihm ist Hitler verhasst. Bald darauf muss er in den Krieg, zuletzt nach Russland. An der Front knallt er in die Luft, wenn er auf Russen schießen soll. Die "Halbjüdin" Hanne muss derweil für Hitler Straßenbahnen schrubben. Die Liebesgeschichte der beiden, aber auch das Grauen des Kriegs beschreibt Lenz im Roman "Neue Zeit" von 1975. Im Krieg erlebt Eugen Rapp Furchtbares – und hat doch mehrfach Glück, kommt vielleicht auch deshalb "durch", weil er versucht im eigenen "inneren Bezirk" zu bleiben, nur zu beobachten, sich nicht berühren zu lassen. Noch an der Front schreibt er im Unterstand an einem Roman über ein verklärtes Wien und an Gedichten.

    Da wurde in einen Menschenkopf eine Maschinenpistolensalve hineingejagt, der Menschenkopf lag neben seinen Füßen, er sah's von oben her und ganz nahe; und trotzdem schrieb er wenig später Verse, in denen nur ein heller Schein und Schimmer war.

    Der Roman "Neue Zeit" wurde jetzt neu aufgelegt, ergänzt um einige Briefe, die sich Hanne und Hermann Lenz zwischen 1937 und '46 schrieben, also in jenen Jahren, in denen das Buch spielt. Sie "unterfüttern" den Roman durchaus, sind aber vom Herausgeber Peter Hamm mit vielen Auslassungen versehen und hätten unbedingt kommentiert werden müssen.

    1946 kehrt Lenz aus amerikanischer Gefangenschaft zurück, heiratet Hanne Trautwein und beginnt sein schwieriges, zunächst erfolgloses Leben als Autor. Hanne schreibt ebenfalls, gibt es aber zugunsten ihres Mannes auf.

    All das wäre viel schwieriger für mich gewesen, wenn ich es ohne meine Frau hätte durchstehen müssen. Meine Frau, die von 1957 ab als Lektorin gearbeitet hat, die hat mir allein durch das, wie wir zusammen gelebt haben, das Leben erleichtert und möglich gemacht ...

    Nach dem Essay von Peter Handke aber ist Lenz ein bekannter Autor. Alle zwei, drei Jahre publiziert er neue Romane und Erzählungen, auch seine Gedichte werden endlich wahrgenommen, und dem Büchner-Preis folgen weitere Auszeichnungen. Ein Jahr vor seinem Tod erscheint mit "Freunde" der neunte und letzte Band seines autobiografischen Romanzyklus. Hermann Lenz stirbt am 12. Mai 1998 in München, wo er zuletzt wohnte, nah des Englischen Gartens, wo er täglich spazieren ging. An seinem Grab spricht der Freund Peter Handke.

    Er ist etwas ganz anderes gewesen als ein Vordenker. Er ist, wenn man seine Bücher liest, Satz für Satz ein "Vor-Atmer" geworden. Es ist in wenig andrer deutscher Prosa dieses Jahrhunderts ein derartig komplizierter, feiner, unauffälliger, tiefer und bildhaltiger Atem zu finden wie bei Hermann Lenz. Für mich bleibt er mein Vor-Atmer.

    Hermann Lenz: Neue Zeit.
    Roman. Mit einem Anhang: Briefe von Hermann und Hanne Lenz, ausgewählt von Peter Hamm
    Insel Verlag, 432 Seiten, 22,95 Euro