Dienstag, 23. April 2024

Archiv


In fremden Kleidern. Geschichte einer Jugend

Als Elsie 92 war und im Sterben lag, flog die damals 73-jährige Paula Fox nach Nantucket, um sie ein letztes Mal zu besuchen. Elsie war Paula Fox‘ Mutter, die beiden hatten sich seit 38 Jahren nicht mehr gesehen. Sie habe lediglich ihren Kindern eine Freude bereiten wollen, schreibt die Schriftstellerin im abschließenden Kapitel ihrer Memoiren; auch nach all dieser Zeit hatte sie selbst kein Verlangen, ihrer Mutter nochmals zu begegnen. Sie nahm ein Taxi zu ihrer Straße, sie betrachtete das Haus, in dem ihre Mutter wohnte, und erschauerte. Die Tür war nicht verschlossen.

Thomas David | 25.04.2003
    Fox sah in das Zimmer hinein, aus dem sie das Sauerstoffgerät hörte, dessen gleichmäßiges Schnauben, so die Autorin in ihrem Buch, wie das «Atemgeräusch eines Minotaurus» klang: Ihre Mutter lag schlafend auf einem Bett. «Ich muß ungefähr fünfundzwanzig Minuten im Wohnzimmer gesessen haben», erinnert sich Fox, «als ich gewahr wurde, daß jemand mich ansah. [...] Meine Mutter stand ein paar Meter von mir entfernt, leicht schwankend. Sie erinnerte mich an einen alten Konquistadoren, dünn, hochgewachsen, mit weißem Haar wie ein Helm. Ich hätte sie überall wiedererkannt. "Paula?" fragte sie und begann zu lächeln.»

    Paula Fox wurde im Frühjahr 1923 in New York geboren, am 22. April wird sie 80 Jahre alt. Sie ist die Autorin von mehr als 20 Kinderbüchern, für die sie unter anderem mit dem renommierten Hans-Christian-Andersen-Preis ausgezeichnet wurde; ihre lediglich sechs Romane, die zuerst zwischen 1967 und 1990 erschienen, in Vergessenheit gerieten und vor wenigen Jahren schließlich wiederentdeckt wurden, machen sie heute zu einer der angesehensten Schriftstellerinnen der USA. «Borrowed Finery», ihr unter dem Titel «In fremden Kleidern» bei C. H. Beck erschienener Erinnerungsband, ist eines ihrer besten Bücher: das ungeschminkte Selbstporträt der Künstlerin als Mädchen und junger Frau, in dem sich ihre Mutter, die Paula ein paar Tage nach der Geburt in einem New Yorker Findelhaus zurückließ, als heimliche Protagonistin erweist. Das Lächeln, das sie ihrer Tochter schenkte, als sich die beiden nur wenige Wochen vor Elsies Tod in Nantucket zum letztenmal begegneten, wog so schwer wie ein Herz aus Stein.

    Durch die Erinnerungsarbeit, sagt Paula Fox, habe sich das Verhältnis eher erhärtet, zumal sie letztendlich anerkennen musste, dass ihre Mutter sie zeitlebens verabscheute. Allerdings sei ihr auch nicht entgangen, was Elsie ihrerseits in der Kindheit durchmachen musste. Irgendwie würde man ja doch schnell bei Adam und Eva angelangen: Die alten Wahrheiten, sagt sie, seien lediglich die neuen Wahrheiten in anderen Kleidern.

    Als Paula geboren wurde, war ihre Mutter 19 Jahre alt; ihr Vater war ein Cousin des Schauspielers Douglas Fairbanks und schrieb als Drehbuchautor für Hollywood: Graham Greene bezeichnete seinen Film «The Last Train from Madrid» als «den wahrscheinlich schlechtesten Film des Jahrzehnts». Paula wird von einer Großmutter nach wenigen Wochen aus dem Findelhaus geholt und der Obhut einer barmherzigen Fremden überlassen; die ersten fünf Jahre verbringt sie im Haus eines Geistlichen, der als «Onkel Elwood» der einzige Anker im unruhigen Leben des abgeschobenen, schließlich immer wieder hin- und hergerissenen Mädchens bleibt. Onkel Elwood geht mit ihr ins Kino, liest ihr Geschichten vor und hört sich geduldig Paulas Alpträume an; in den alten «National Geographic»-Heften, die sie im Haus findet, entdeckt sie «die Einzigartigkeit all dessen, was lebt» und staunt – so heißt es im Buch - «über die vielfältige Weise, wie die Geschöpfe sich schützen und erhalten.» Ein Wissen, das Paula dringend nötig hat: Denn in den Kulissen ihrer Biographie lauern Mutter und Vater so heimtückisch wie die bösen Stiefeltern in den Märchen der Gebrüder Grimm.

    Diese «wicked people» - verantwortungslos, gern auch betrunken und im Falle des Vaters trotz allem auf entwaffnende Weise charmant – brechen immer mal wieder aus dem Hinterhalt in Paulas Leben ein: Zu einem Zeitpunkt, da das halb vergessene Wort «Vater» in ihr längst eine Lähmung hervorruft, steht dieser eines nachmittags – als sei nichts gewesen - mit einer Kiste voller Bücher unvermutet in der Tür und macht sich bei einsetzender Dämmerung schon wieder auf und davon. Als er Paula wenig später zu sich und Elsie nach Kalifornien holt, nur um sie dort erneut in fremde Hände weiterzureichen, nimmt die verworrene Odyssee einer Kindheit ihren Lauf, der Paula Fox in ihrem Buch in elf Kapiteln – in kurzen Abschnitten dem ständig reißenden Lebensfaden hinterher - von Hollywood und Long Island über Kuba und New Hampshire bis nach Florida und Montreal noch einmal nachgeht. Zwischenstop ist in diesen Jahren immer mal wieder New York.

    Wer Paula Fox‘ Romane kennt, wird in ihren Memoiren den autobiographischen Schlüssel zu Meisterwerken wie «Kalifonische Jahre» und «Lauras Schweigen» finden, in denen die Autorin den eisigen Splitter im Herzen der Familie in kalten Farben zum Funkeln bringt. Das Seelenkostüm ihrer Eltern – nicht zuletzt auch ihr eigenes, das zeigt die Lektüre von «In fremden Kleidern» - dekorierte sie, zumindest in diesen beiden Romanen, nur geringfügig um. Was Fox‘ Memoiren so bedeutend macht, ist jedoch nicht das Streiflicht, das sie auf die privaten Hintergründe ihrer literarischen Figuren werfen, sondern vielmehr die unerschrockene Aufrichtigkeit, mit der sich die Autorin hier mitleidslos, völlig unsentimental ihrem Leben stellt. Am Ende enthüllt sie, dass auch sie ihr erstes Kind gleich nach der Geburt zur Adoption freigab.

    Sie habe auch durch die Arbeit an ihren Memoiren noch immer nicht herausgefunden, wer sie eigentlich sei, sagt Paula Fox im Interview: Wer die Menschen waren, deren Leben sie berührte. Im Mut, den es erfordert, dieser Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz unablässig nachzugehen, gründet der Wahrheitsgehalt ihrer großartigen Bücher.