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In großer Not

Indien gilt als aufstrebende Wirtschaftsmacht, doch Armut und Hunger sind im Land noch immer allgegenwärtig. Seit sieben Jahren steigt der Anteil der unterernährten Kinder in Indien sogar wieder deutlich an und liegt heute bei 53 Prozent aller Kinder.

Von Achim Nuhr |
    Das Stadtviertel Lotha am Rande von Varanasi wirkt zuerst wie ein Slum: Die Wände der Wohnhäuser bestehen aus unverputzten Ziegeln, von denen viele dunkel oder grünlich angelaufen sind. Eisenträger ragen aus den Wänden und Dächern. Die Wege sind nicht asphaltiert, in den Pfützen brüten Malariamücken und die Wiesen zwischen den Häusern sind mit Müll übersät. Hier wohnen vor allem Weber.

    Doch den Menschen muss es einmal besser gegangen sein: Denn die Häuser sind aus Stein gebaut, nicht aus Kartons oder Kanistern, wie es in indischen Elendsvierteln üblich ist. Strommasten und ordentlich verlegte Kabel bezeugen, dass die Menschen ihren Strom legal beziehen, statt Starkstromkabel anzuzapfen. Allerdings scheint niemand mehr Strom zu beziehen: Selbst Glühbirnen bleiben ungenutzt, stattdessen brennen in den meisten Häusern Kerzen. Auch in dem vom Mohamad Driess:

    "Bis vor zehn Jahren haben wir Weber gut gelebt. Wir konnten unsere Produkte mit Gewinn verkaufen. Wir haben dreimal am Tag gegessen und gute Kleidung getragen. Aber seit zehn Jahren geht es nur noch bergab: Heute verdienen wir kaum noch einen Euro am Tag. Wir haben nicht mehr genug zu essen. Und was soll ich machen, wenn meine Kinder mal zum Arzt müssen?"

    Mohamad sieht schlecht aus: spindeldürrer Körper, abgemagertes Gesicht, in dem die Nase übergroß wirkt. Er sitzt neben seinem Handwebstuhl, die Hände hat er auf seinen Schoß gelegt. Zu tun hat er schon lange nichts mehr. Und wovon er seine Familie ernähren soll, weiß er auch nicht. So wie Mohamad geht es heute vielen Webern in Lotha oder in den anderen Webervierteln von Varanasi. Die meisten Webstühle stehen still, auf vielen liegt eine dicke Staubschicht. Es herrscht Arbeitslosigkeit, bittere Armut. Doch das war nicht immer so.

    Jahrhunderte lang konnten die Weber von ihren handgemachten Seidensaris, die im ganzen Land verkauft wurden, ganz gut leben. Die Nachfrage und der Absatz im Land waren gut. Viele Produkte aus der Webermetropole wurden auch ins Ausland exportiert. Doch diese Zeiten sind vorbei. Jetzt herrscht Hungersnot - ein Kampf ums Überleben. Und nicht jeder schafft es. Jüngstes Opfer war Mohamads zweijähriger Sohn. Seine Mutter konnte ihn nach der Geburt nicht stillen, weil sie selbst zu ausgehungert war. Zum Schluss mangelte es dem Kleinkind an roten Blutkörperchen - ein typisches, lebensbedrohliches Symptom hungernder Menschen.

    Mohamad windet sich auf seinem Hocker. Die Erinnerung an das tragische Ende seines Sohnes und dass er ihm nicht helfen konnte, bereitet ihm Schmerzen.

    "Er konnte nichts mehr zu sich nehmen, weder Essen noch Trinken. Wir brachten ihn ins Krankenhaus. Der Arzt sagte, dass er eine Bluttransfusion bräuchte. Aber meine Frau und ich waren zu schwach, um Blut zu spenden. Ich muss noch heute weinen, wenn ich daran denke, dass ich meinem eigenen Sohn kein Blut geben konnte. Die Nachbarn versuchten, uns zu helfen. Sie sammelten Geld für eine Behandlung: etwa acht Euro. Aber es war schon zu spät. Mein Sohn ist noch am selben Tag gestorben."

    Varanasi hat rund 1,2 Millionen Einwohner. Die Stadt liegt im Nordosten Indiens und ist international bekannt: als religiöses Zentrum, das unzählige Pilger an die Ufer des heiligen Flusses Ganges lockt, und eben als Zentrum der Weberei. Fast die Hälfte der Einwohner ist von der Textilindustrie wirtschaftlich abhängig. Doch als der Markt für handgemachte Seidensaris immer weiter schrumpfte und schließlich völlig zusammenbrach, gab es keine Alternative für sie. Die Weber wurden allein gelassen bei ihrem Kampf ums Überleben. Die verantwortlichen Politiker und Verwalter versuchten, die Hungersnot und das Elend in den Webervierteln totzuschweigen.

    Amtliche Informationen zu hungernden oder gar verhungerten Bürgern gibt es bis heute nicht. Doch dann berichteten die Medien über das Schicksal der Weber von Varanasi. Und so blieb auch der Tod von Mohamads Sohn nicht unbeachtet:

    "Schon vor dem Tod meines Sohns waren Zeitungsjournalisten und Fernsehreporter im Viertel erschienen. Sie haben uns hier besucht und dann von der Hungersnot unter den Webern berichtet. In der Folge kam plötzlich der Oberstadtdirektor bei uns persönlich vorbei. Er war es, der veranlasst hat, dass mein Sohn kurz vor seinem Tod überhaupt noch ins Krankenhaus gebracht werden konnte. Denn die acht Euro, die unsere Nachbarn gesammelt hatten, hätten nicht ausgereicht. Der Arzt war allerdings sehr respektlos: Er schlug mir sogar ins Gesicht und brüllte mich an, ich solle meinem Sohn gefälligst zu essen geben, damit er nicht stirbt. Ich hätte das sehr gern getan. Aber wir hatten doch nichts zu essen."

    Über Jahrhunderte schützte die indische Regierung die traditionellen Weber: Noch bis in die 90er-Jahre gewährte sie ihnen ein Monopol für 22 populäre Kleidersorten, zum Beispiel durften die traditionellen Seidensaris für Bräute nur hier hergestellt werden. Internationale Importeure scheiterten an hohen Schutzzöllen, mit denen der indische Binnenmarkt geschützt wurde. Dann kamen die Wirtschaftsreformen: Schutzregeln und -rechte wurden abgebaut, unter dem Stichwort "Entbürokratisierung". Viele Schutzzölle wurden stark gesenkt oder verschwanden ganz. Die kleinen Weber, die vorher lange Zeit vom Weltmarkt völlig abgeschottet wurden, waren ihm nun plötzlich nahezu schutzlos ausgeliefert. K. P. Berma, Vizedirektor der Abteilung für Handweberei, sieht das jedoch anders:
    "Wenn ein Weber richtig gut ist, hat er weiterhin genug Geld und Essen. Nur wer nicht gut ausgebildet ist, hat Probleme. Okay, einige Weber haben sich selbst umgebracht. Aber es gibt keinen Einzigen, der nichts zu essen gehabt hätte. In Varanasi gibt es keine Ernährungsprobleme. Es gibt lediglich einige soziale Probleme, Krankheiten und andere Leiden."

    K. P. Berma rät, mit den "richtig guten Webern" zu sprechen, zum Beispiel mit Aftaba Alam. Der wohnt ebenfalls im Weberbezirk Lotha, nur wenige Straßen von der Familie Driess entfernt. Der erste Eindruck ist gut: In der Familienhütte stehen vier Handwebstühle und an zweien wird sogar gearbeitet. Herr Alam bestätigt für seinen Familienbetrieb zuerst einen positiven Trend:
    "Noch vor einem Jahr konnten wir uns kaum eine Mahlzeit am Tag leisten. Jetzt essen wir dreimal am Tag und nehmen langsam wieder zu. Wir nehmen inzwischen auch Vitamin D-Pillen. Deshalb entwickeln sich auch meine Kinder wieder gut. Aber von einem normalen Zustand hier in Lotha kann man aber nicht sprechen. Das wäre nur der Fall, wenn alle Eltern sich und ihre Kinder wieder so ernähren könnten."

    Herr Alam hat gerade eine Glückssträhne. Seine Familie stellt traditionell hochwertige Patolasaris her und die haben sich in den vergangenen Monaten zum letzten Schrei entwickelt: Die Neureichen in Indien reißen sich um sie. Noch vor einem halben Jahr galten diese Saris noch als Ladenhüter. Aber wirklich glücklich wirkt Alam trotzdem nicht. Er weiß: Wer in den neuen Zeiten gerade zu den Gewinnern zählt, kann morgen schon wieder auf der Verliererseite stehen.

    "Uns geht es im Moment so gut, weil wir nach der neuesten Mode produzieren. Aber die ist irgendwann auch vorbei. Der Markt kann sich jederzeit wenden und dann hungern wir wieder, wie unsere Nachbarn."