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In Kafkas Nachfolge

Die Bieresch sind eine Großfamilie aus dem österreichischen Burgenland. Sie sind eigenwillig, traditionsbewusst und haben eine klare politische Linie: Sozialer Frieden lässt sich nicht mit Privateigentum vereinbaren. Was in der Familie vernünftig klingt, ist keine Garantie für Harmonie.

Von Katrin Hillgruber | 13.08.2007
    Auf die Frage "Wie heiße ich?" gibt es in Klaus Hoffers Roman "Bei den Bieresch" nur eine Antwort: Summen und Rauschen. Dann folgt ein ungeheuer poetischer und zugleich abweisender Satz, der das Rauschen erklären soll. Dieser Satz lautet: "Es ist das Gerausche, das von den Haaren der Welt herrührt, die sich in ihrem riesigen Bett auf die andere Seite dreht." Er stammt aus den Schriften des Volksstammes der Bieresch, der wiederum von dem Grazer Schriftsteller Klaus Hoffer erfunden wurde. Peter Handke und andere veröffentlichten 1979 hymnische Kritiken über den ersten Teil von "Bei den Bieresch". Wie kam es, dass ein Debütroman in der Edition S. Fischer damals so ein gewaltiges Echo auslöste? Auf einer Alm im Salzkammergut, hoch über dem dunkelblauen Grundlsee, wird ein Schwarzbeerschmarrn, auf deutsch Heidelbeerschmarrn, serviert. Bei diesem Anblick gerät Klaus Hoffer ins Erzählen:

    "Ich habe zum Beispiel den Handke gut gekannt von seiner Grazer Zeit, und der hat mich im ‚Forum’ bei meiner ersten Lesung eingeführt. Die erste Kritik im ‚Spiegel’ hat er geschrieben. Und durch diese Beziehungen innerhalb der Grazer Partie - mit Bauer, Falk, Kolleritsch, Handke, Jelinek – ,dadurch bin ich relativ früh [dazugekommen]. Ich weiß jetzt nicht wann, da hat der Urs Widmer im Hessischen Rundfunk seine Sendereihe gemacht, und da hat er mich eingeladen. Und ich habe durch den Grazer Literaturbetrieb viele Leute gekannt. Hildesheimer nicht, den habe ich erst beim Döblin-Preis kennengelernt. Aber dadurch hatte ich schon einige Freunde, also Hartmann oder Mayröcker, Jandl. Die habe ich vorher alle aus Graz gekannt. Und, ja, die haben das halt auch geschätzt zu meiner Freude und zu meinem Glück."

    Der 1942 in Graz geborene Klaus Hoffer ist ein exakter Autor, der einen tiefen und grundsätzlichen Zweifel an der Formulierbarkeit der Welt und ihrer Phänomene hegt. Umso stupender sind die Umstände jener großen Prüfung geraten, der sich sein Protagonist Hans zu stellen hat. Nach Art eines klassischen Bildungs- und Entwicklungsromans reist der junge Städter nach dem Tod seines Onkels in einen kleinen Ort namens Zick. Er liegt in der puszta-ähnlichen, flachen Gegend östlich des Neusiedler Sees, in den "unwegsamen Provinzen im Osten des Reiches", wie es im Buch heißt. Was verbindet den Steiermärker Klaus Hoffer mit dem Burgenland?

    "Ich habe einen biografischen Bezug dazu. Das heißt, wie ich ein Bub war, mit elf oder zwölf Jahren, war ich zweimal hintereinander in den Ferien bei einem Nennonkel von mir, der im Burgenland Landarzt war. Und das war für mich also sehr eindrücklich, diese Zeit dort in den Ferien. Und dann bin ich später noch in diesen damals noch fast reinen ungarischen Teil im Süden, Oberwart und Unterwart usw., gefahren, und da hat mich das so fasziniert, dass man auf der Straße kein Wort Deutsch gehört hat - und die Landschaft, das ist dazugekommen. Also, ich habe diese Seewinkel-Landschaft, diese Neusiedlersee-Landschaft und das südliche Burgenland, einfach sehr gern."

    Die Initiation von Hans beginnt, als er von seiner ebenso strengen wie koketten Tante am Bahnhof von Zick abgeholt wird. Kaum werden sie seiner ansichtig, stecken die Ortsansässigen auch schon die Köpfe zusammen. Jeder Bieresch für sich sei ein "zänkischer, besserwisserischer Philosoph", schrieb Peter Handke. Allein die Schilderung des sich ewig hinziehenden Hinwegs schlägt als literarisches Kabinettstück in ihren Bann. Unentwegt von der herrischen Tante befehligt, müht sich Hans damit ab, eine sogenannte Scheibtruhe über das ausgetrocknete Land zu manövrieren. Scheibtruhe ist der österreichische Ausdruck für Schubkarre; er wurde durch ein gleichnamiges Buch von Franz Innerhofer literarisch geadelt.

    Hin- und Rückwege erlangen im erzählerischen Labyrinth von "Bei den Bieresch" eine zentrale, ja philosophische Bedeutung. Klaus Hoffer verfügt über ein eidetisches Gedächtnis für Zitate. Als Übersetzer von Raymond Carver, Joseph Conrad oder Kurt Vonnegut hat er in seinem Roman auch viele Huldigungen an seine angloamerikanischen Lieblingsautoren untergebacht. Er erklärt:

    "Da habe ich was aufgegriffen von Flann O’Brien. Ich glaube, im ‚Dritten Polizisten’ ist das, da gibt es die Theorie, aber nur in einem Satz, dass Hinwege anders sind als Rückwege. Und das habe ich da aufgegriffen und ausgearbeitet."

    Einem Brauch der Bieresch zufolge hat Hans als nächster männlicher Verwandter seines verstorbenen Onkels ein Jahr lang dessen Stelle als Postbote zu übernehmen. Bis zum Eintreffen des jeweiligen Stellvertreters ist das Haus des Toten für die anderen Bieresch tabu. Doch sobald der in die Pflicht genommene Verwandte eingetroffen ist, steht das Eigentum des Verstorbenen allen zur Verfügung. Denn als vage Anarchisten glauben die Bieresch, dass mit dem Privateigentum auch das Unglück in die Welt kam. Also findet bei ihnen nach jedem Todesfall der sogenannte große Potlatsch statt. Diesen Ausdruck hat Klaus Hoffer von den Indianern Westamerikas entlehnt:

    "Bakunin hat ein bisschen reingespielt. Nein, aber diese Tauschhandelsgeschichte, das ist eigentlich eben von diesem Potlatsch-Ritual der Nordwestindianer, von dort habe ich das ausgeliehen. Die haben so Give-away-Parties, also so bezeichnet man das jetzt. Das heißt, die haben stämmeweise ihre Reichtümer hergeschenkt, alles, was sie besessen haben, hergeschenkt und bei der Gegeneinladung zu parallelen Festen, Hochzeiten, haben sie dann von den anderen Familien das, was die gehabt haben, also die einen Stämme haben Fisch gehabt und die anderen haben Felle gehabt., Matten, Bastmatten - und das war eine Form des Tauschhandels halt, aber eben auch kein Eigentum hat es gegeben. Das heißt, das Eigentum hat es schon gegeben, aber das war zur Zerstörung da. Und von daher, da habe ich ein paar Sachen gewusst, und das habe ich dort angewandt."

    Währenddessen wird Hans - und mit ihm der Leser - aus wechselnden Perspektiven über die sophistischen Bieresch und ihre Sitten belehrt.

    ""Unsere Geschichte ist der Knoten, der sich knüpft, wenn man ihn löst.""

    So lautet ein Schlüsselsatz dieses von Oswald Wiener und Borges inspirierten Romans. Er stellt ein seltenes intertextuelles Wagnis dar und gilt als ein deutschsprachiger Markstein der Postmoderne.

    Klaus Hoffer promovierte über Franz Kafka. Nicht von ungefähr tragen die Poetikvorlesungen, die Hoffer an der Universität Graz hielt, den Titel "Methoden der Verwirrung". Der unentwegte Sermon der Bieresch, die sich widersprechenden Monologe von Figuren, die seltsame, oft ungarische Namen tragen: Alles dreht sich um die Lösung des Welträtsels oder die Suche nach dem erlösenden Text, dem göttlichen Urtext. Im verwirrenden, hochkomischen Krebsgang kreist alles um dieses Desiderat. Klaus Hoffer über den Anstoß zu seiner achtjährigen Arbeit an dem Roman:

    "Wenn ich so sagen kann, diese Geschichte, dieser Grundmythos, dass alle Namen zusammen hintereinander geschrieben und richtig zusammengefügt eine Geschichte ergeben, das war eigentlich das Ergebnis von meinem ersten Gruppendynamik-Erlebnis. Das war für mich unglaublich beeindruckend. Ich habe dann auch die Ausbildung gemacht. In einer solchen Gruppe war das Gefühl so stark, dass jetzt in dem Augenblick alle am richtigen Ort sitzen, in der Position zueinander und in der Entfernung voneinander, die für alle Beteiligten passt. Und es gibt natürlich diese Stelle im Naturtheater im ‚Verschollenen’, im ‚Naturtheater von Oklahoma’, wo es heißt: ‚Jeder ist willkommen, jeder an seinem Platz.’ Und das war für mich immer der Inbegriff der sozialen Utopie."

    Hans erweist sich als würdiger Nachfahr von Franz Kafkas Probanden wie dem erwähnten "Verschollenen". Auch in "Das Schloss" kommt ein Städter aufs Land und versteht die dortigen Codices nicht zu deuten. Als Hans die Initiationsriten des Ortes Zick überstanden zu haben scheint, erhält er den sprechenden Namen "Halbwegs". Das habe auch mit seiner eigenen halben Initiation im Literaturbetrieb zu tun, erklärt Klaus Hoffer lachend. "Unsere Geschichte ist der Knoten, der sich knüpft, wenn man ihn löst": Dieses Faszinosum gilt gleichermaßen für sein Opus magnum. Auch der Leser meint, die Bieresch und ihre wundersamen Bräuche rund um die "Peitsche des Hörensagens", wie eine der herrlich plastischen Metaphern lautet, nur halbwegs verstanden zu haben:

    ""Ich fürchte, dass es mir auch nicht anders gegangen wäre als Ihnen, ich habe auch nur halbwegs verstanden, was ich geschrieben habe.""

    Klaus Hoffer: Bei den Bieresch
    Mit einem Nachwort von Heinz F. Schafroth. Droschl Verlag, Graz 2007. 272 Seiten, 21 Euro.